SCHLUSSANTRÄGE DES GENERALANWALTS
ANTHONY COLLINS
vom 13. Juli 2023(1)
Rechtssache C‑260/22
Seven.One Entertainment Group GmbH
gegen
Corint Media GmbH
(Vorabentscheidungsersuchen des Landgerichts Erfurt, Deutschland)
„Vorlage zur Vorabentscheidung – Richtlinie 2001/29/EG – Art. 2 Buchst. e – Vervielfältigungsrecht für Sendeunternehmen an Aufzeichnungen ihrer Sendungen – Art. 5 Abs. 2 Buchst. b – Privatkopieausnahme – Bedingung des gerechten Ausgleichs – Leermedienabgabe – Sendeunternehmen entstehender Schaden – Charta der Grundrechte der Europäischen Union – Gleichbehandlung – Grundsätze des Vorrangs des Unionsrechts und der unmittelbaren Wirkung – Dem Staat zuzurechnende Einrichtung“
I. Einleitung
1. Das vorliegende Vorabentscheidungsersuchen des Landgerichts Erfurt (Deutschland) ergeht im Rahmen eines Rechtsstreits über einen Vertrag, der zur ausschließlichen Wahrnehmung von Urheberrechten (im Folgenden: Vertrag) zwischen der Seven.One Entertainment Group GmbH, einem Sendeunternehmen, das in Deutschland „SAT.1 Gold“(2) produziert und ausstrahlt (im Folgenden: Klägerin), und der Corint Media GmbH geschlossen wurde, einer Verwertungsgesellschaft, die die urheberrechtlichen Interessen privater Fernseh- und Hörfunksender wahrnimmt und durchsetzt (im Folgenden: Beklagte). Die Beklagte hat sich nach dem Vertrag zur Durchsetzung des Anspruchs der Klägerin auf einen gerechten Ausgleich dafür verpflichtet, dass natürliche Personen zu ihrem privaten Gebrauch Vervielfältigungen von Aufzeichnungen von Sendungen der Klägerin herstellen. Die Beklagte macht geltend, sie sei nicht verpflichtet, diesen Anspruch durchzusetzen, weil das nationale Urheberrecht zwar die Herstellung von Privatkopien der Aufzeichnungen von Sendungen zulasse, einen entsprechenden Ausgleichsanspruch jedoch ausschließe.
2. Das Vorabentscheidungsersuchen betrifft die Auslegung von Art. 2 Buchst. e und Art. 5 Abs. 2 Buchst. b der Richtlinie 2001/29/EG(3). Art. 2 Buchst. e der Richtlinie 2001/29 gewährt Sendeunternehmen ein ausschließliches Vervielfältigungsrecht in Bezug auf Aufzeichnungen ihrer Sendungen. Nach Art. 5 Abs. 2 Buchst. b der Richtlinie 2001/29 können die Mitgliedstaaten sich dafür entscheiden, die ausschließlichen Vervielfältigungsrechte nach Art. 2 dieser Richtlinie durch eine Privatkopieausnahme zu beschränken. Diese Ausnahme gilt für Vervielfältigungen auf beliebigen Trägern, die eine natürliche Person zu ihrem privaten Gebrauch(4) herstellt, sofern die Rechtsinhaber einen gerechten Ausgleich erhalten. Mit seinem Vorabentscheidungsersuchen möchte das Landgericht Erfurt geklärt wissen, ob das nationale Recht eine Ausnahme für Privatkopien in Bezug auf die Vervielfältigung der Aufzeichnungen von Sendungen vorsehen und gleichzeitig Sendeunternehmen vom Anspruch auf einen gerechten Ausgleich ausschließen kann. Das vorlegende Gericht fragt insbesondere, ob der Ausschluss des gerechten Ausgleichs dadurch gerechtfertigt werden kann, dass bestimmte Sendeunternehmen in ihrer Eigenschaft als Hersteller von Fernsehsendungen einen Ausgleichsanspruch für Privatkopien von ihnen selbst hergestellter Fernsehsendungen haben(5).
II. Rechtlicher Rahmen
A. Unionsrecht
3. Art. 2 („Vervielfältigungsrecht“) der Richtlinie 2001/29 bestimmt:
„Die Mitgliedstaaten sehen für folgende Personen das ausschließliche Recht vor, die unmittelbare oder mittelbare, vorübergehende oder dauerhafte Vervielfältigung auf jede Art und Weise und in jeder Form ganz oder teilweise zu erlauben oder zu verbieten:
a) für die Urheber in Bezug auf ihre Werke,
b) für die ausübenden Künstler in Bezug auf die Aufzeichnungen ihrer Darbietungen,
c) für die Tonträgerhersteller in Bezug auf ihre Tonträger,
d) für die Hersteller der erstmaligen Aufzeichnungen von Filmen in Bezug auf das Original und die Vervielfältigungsstücke ihrer Filme,
e) für die Sendeunternehmen in Bezug auf die Aufzeichnungen ihrer Sendungen, unabhängig davon, ob diese Sendungen drahtgebunden oder drahtlos, über Kabel oder Satellit übertragen werden.“
4. Art. 5 („Ausnahmen und Beschränkungen“) bestimmt:
„…
(2) Die Mitgliedstaaten können in den folgenden Fällen Ausnahmen oder Beschränkungen in Bezug auf das in Artikel 2 vorgesehene Vervielfältigungsrecht vorsehen:
…
b) in Bezug auf Vervielfältigungen auf beliebigen Trägern durch eine natürliche Person zum privaten Gebrauch und weder für direkte noch indirekte kommerzielle Zwecke unter der Bedingung, dass die Rechtsinhaber einen gerechten Ausgleich erhalten …“.
B. Deutsches Recht
5. Das Gesetz über Urheberrecht und verwandte Schutzrechte (Urheberrechtsgesetz) vom 9. September 1965(6) in seiner auf den Ausgangsrechtsstreit anwendbaren Fassung (im Folgenden: UrhG) bestimmt im in seinem Teil 1 Abschnitt 6 enthaltenen § 53 Abs. 1:
„Zulässig sind einzelne Vervielfältigungen eines Werkes durch eine natürliche Person zum privaten Gebrauch auf beliebigen Trägern, sofern sie weder unmittelbar noch mittelbar Erwerbszwecken dienen, soweit nicht zur Vervielfältigung eine offensichtlich rechtswidrig hergestellte oder öffentlich zugänglich gemachte Vorlage verwendet wird. Der zur Vervielfältigung Befugte darf die Vervielfältigungsstücke auch durch einen anderen herstellen lassen, sofern dies unentgeltlich geschieht oder es sich um Vervielfältigungen auf Papier oder einem ähnlichen Träger mittels beliebiger photomechanischer Verfahren oder anderer Verfahren mit ähnlicher Wirkung handelt.“
6. § 54 Abs. 1 UrhG bestimmt:
„Lässt die Art des Werkes eine nach § 53 Abs.1 oder 2 oder den §§ 60a bis 60f erlaubte Vervielfältigung erwarten, so hat der Urheber des Werkes gegen den Hersteller von Geräten und von Speichermedien, deren Typ allein oder in Verbindung mit anderen Geräten, Speichermedien oder Zubehör zur Vornahme solcher Vervielfältigungen benutzt wird, Anspruch auf Zahlung einer angemessenen Vergütung.“
7. § 87 UrhG bestimmt:
„(1) Das Sendeunternehmen hat das ausschließliche Recht,
1. seine Funksendung weiterzusenden und öffentlich zugänglich zu machen,
2. seine Funksendung auf Bild- oder Tonträger aufzunehmen, Lichtbilder von seiner Funksendung herzustellen sowie die Bild- oder Tonträger oder Lichtbilder zu vervielfältigen und zu verbreiten, ausgenommen das Vermietrecht,
…
(4) § 10 Abs. 1 sowie die Vorschriften des Teils 1 Abschnitt 6 mit Ausnahme des § 47 Abs. 2 Satz 2 und des § 54 Abs. 1 gelten entsprechend.
…“
III. Sachverhalt des Ausgangsrechtsstreits und Vorlagefragen
8. Die Klägerin macht geltend, die Beklagte müsse den vertraglichen Anspruch der Klägerin auf eine „Leermedienabgabe“ als Ausgleich für den Schaden durchsetzen, der durch Privatkopien aufgrund der Ausnahme nach § 53 Abs. 1 UrhG entstehe. Die Klägerin trägt vor, sie sei durch Privatkopien, insbesondere in Form der Aufzeichnung ihres Programms mittels (Online‑)Videorecordern, „erheblich betroffen“. Die Beklagte entgegnet, sie könne der Forderung der Klägerin nicht nachkommen, da Sendeunternehmen nach § 87 Abs. 4 UrhG von der Leermedienabgabe nach § 54 Abs. 1 UrhG ausgeschlossen seien.
9. Dem vorlegenden Gericht zufolge steht Sendeunternehmen nach Art. 2 Buchst. e der Richtlinie 2001/29 und § 87 Abs. 1 Nr. 2 UrhG ein ausschließliches Vervielfältigungsrecht in Bezug auf Aufzeichnungen ihrer Sendungen zu. Dieses Vervielfältigungsrecht werde über § 87 Abs. 4 und § 53 Abs. 1 UrhG durch eine Privatkopieausnahme beschränkt, ohne dass ein Ausgleichsanspruch vorgesehen sei. Daher sei § 87 Abs. 4 UrhG(7) möglicherweise mit Art. 2 Buchst. e und Art. 5 Abs. 2 Buchst. b der Richtlinie 2001/29 unvereinbar. Das vorlegende Gericht führt die Rechtsprechung des Gerichtshofs an, wonach das ausschließliche Vervielfältigungsrecht nur dann durch eine nach nationalem Recht vorgesehene Privatkopieausnahme beschränkt werden dürfe, wenn dem Rechtsinhaber ein gerechter Ausgleich gezahlt werde(8). Wenn der nach nationalem Recht vorgesehene Ausschluss des Anspruchs auf einen gerechten Ausgleich mit der Richtlinie 2001/29 vereinbar sei, sei nach dem Vertrag keine „Leermedienabgabe“ geschuldet, so dass das vorlegende Gericht die bei ihm anhängige Klage abzuweisen habe. Wenn jedoch dieser Ausschluss mit der Richtlinie 2001/29 unvereinbar sei, sei der Klage der Klägerin stattzugeben, da die Beklagte nach dem Vertrag zur Erhebung der Leermedienabgabe im Auftrag der Klägerin verpflichtet sei.
10. Das vorlegende Gericht hält den Ausschluss von Sendeunternehmen vom Anspruch auf einen gerechten Ausgleich somit für ungerechtfertigt. Eine Rechtfertigung ergebe sich auch nicht daraus, dass Sendeunternehmen nach Art. 2 Buchst. d der Richtlinie 2001/29 in ihrer Eigenschaft als Filmhersteller ein Anspruch auf einen gerechten Ausgleich zustehen könne. Das vorlegende Gericht weist darauf hin, dass viele Fernsehprogramme privater Sendeunternehmen hauptsächlich aus Auftragsproduktionen beständen und dass das Filmherstellerrecht regelmäßig den Produktionsunternehmen und nicht den Sendeunternehmen zustehe. Jedenfalls stellten Sendeunternehmen des Hörfunks keine Filme her. Außerdem könne der Ausschluss von Sendeunternehmen von der Leermedienabgabe gegen den Gleichbehandlungsgrundsatz nach Art. 20 der Charta der Grundrechte der Europäischen Union (im Folgenden: Charta) verstoßen. Es stelle sich auch die Frage, ob dieser Ausschluss gegen Art. 11 der Charta über die Freiheit der Meinungsäußerung verstoße, weil er die Rundfunkfreiheit einschränke.
11. Vor diesem Hintergrund hat das Landgericht Erfurt beschlossen, das Verfahren auszusetzen und dem Gerichtshof folgende Fragen zur Vorabentscheidung vorzulegen:
1. Ist die Richtlinie 2001/29 dahin gehend auszulegen, dass Sendeunternehmen unmittelbar und originär Berechtigte des im Rahmen der sogenannten Privatkopierausnahme vorgesehenen Anspruchs auf gerechten Ausgleich gemäß Art. 5 Abs. 2 Buchst. b der Richtlinie 2001/29 sind?
2. Können Sendeunternehmen im Hinblick auf ihr Recht aus Art. 2 Buchst. e der Richtlinie 2001/29 vom Anspruch auf gerechten Ausgleich gemäß Art. 5 Abs. 2 Buchst. b der Richtlinie 2001/29 ausgeschlossen werden, weil ihnen auch in ihrer Eigenschaft als Filmhersteller ein Anspruch auf gerechten Ausgleich gemäß Art. 5 Abs. 2 Buchst. b der Richtlinie 2001/29 zustehen kann?
3. Wenn Frage 2 bejaht wird:
Ist der pauschale Ausschluss der Sendeunternehmen zulässig, obwohl Sendeunternehmen abhängig von ihrer konkreten Programmgestaltung teilweise nur in sehr geringem Umfang Filmherstellerrechte erwerben (insbesondere Fernsehprogramme mit einem hohen Anteil an von Dritten lizenzierten Programmen), teilweise keinerlei Filmherstellerrechte erwerben (insbesondere Veranstalter von Hörfunkprogrammen)?
IV. Verfahren vor dem Gerichtshof
12. Die Klägerin, die deutsche, die italienische und die österreichische Regierung sowie die Europäische Kommission haben schriftliche Erklärungen eingereicht. Die Klägerin, die Beklagte, die deutsche und die österreichische Regierung sowie die Kommission haben in der Sitzung vom 29. März 2023 mündliche Ausführungen gemacht und Fragen des Gerichtshofs beantwortet.
V. Würdigung
13. Das vorlegende Gericht möchte mit seinen Fragen geklärt wissen, ob es Art. 2 Buchst. e und Art. 5 Abs. 2 Buchst. b der Richtlinie 2001/29 einem Mitgliedstaat verwehren, vom ausschließlichen Vervielfältigungsrecht der Sendeunternehmen in Bezug auf Aufzeichnungen ihrer Sendungen eine Privatkopieausnahme vorzusehen und gleichzeitig den Anspruch auf einen gerechten Ausgleich für die Anfertigung solcher Kopien auszuschließen.
A. Zusammenfassung des Vorbringens
14. Die Klägerin, die Beklagte und die Kommission tragen vor, dass Sendeunternehmen nicht vom Anspruch auf einen gerechten Ausgleich nach Art. 5 Abs. 2 Buchst. b der Richtlinie 2001/29 ausgeschlossen werden dürften, weil ihnen durch Privatkopien ein nicht nur geringfügiger Schaden entstehe. Nach Ansicht der Klägerin und der Beklagten sind Privatkopien von Sendungen mit Hilfe von stationären Geräten und Online-Diensten weit verbreitet und verursachen Sendeunternehmen erheblichen Schaden. Von Sendeunternehmen oder ihren gewerblichen Lizenznehmern angebotene Abrufdienste für Mediatheken seien weniger attraktiv, da Nutzer ihre Privatkopien ohne Bezahlung nutzen könnten. Sendeunternehmen gingen auch Werbeeinnahmen verloren, da Zuschauer, die Sendungen aufzeichneten, sich diese häufig nicht bei der eigentlichen Sendung anschauten. Die Klägerin und die Beklagte haben in der mündlichen Verhandlung erklärt, dass das deutsche Recht keine andere Kategorie von Rechtsinhabern vom Anspruch auf einen gerechten Ausgleich ausschließe. Rechtsinhaber, denen ein Ausgleich gezahlt werde, seien auch nicht verpflichtet, das Vorliegen eines geldwerten Schadens nachzuweisen oder diesen Schaden zu beziffern. Die Beklagte trägt ergänzend vor, dass Sendeunternehmen durch Privatkopien per se geschädigt würden.
15. Nach Ansicht der Klägerin handelt es sich bei dem Vervielfältigungsrecht der Hersteller nach Art. 2 Buchst. d der Richtlinie 2001/29 und demjenigen der Sendeunternehmen nach Art. 2 Buchst. e der Richtlinie um eigenständige Rechte. Vielfach stellten Sendeunternehmen, insbesondere Veranstalter von Hörfunkprogrammen, keine Filme her. Der Umstand, dass Sendeunternehmen in seltenen Fällen auch Filme herstellten, rechtfertige den Ausschluss eines Ausgleichsanspruchs für Privatkopien von Sendungen nicht. Der Ausschluss von Sendeunternehmen von der Privatmedienabgabe stelle daher eine ungerechtfertigte Diskriminierung dar. Er verstoße ferner gegen die in Art. 11 der Charta anerkannte Freiheit der Meinungsäußerung und Informationsfreiheit und das in Art. 17 der Charta geschützte Eigentumsrecht.
16. Nach Ansicht der deutschen und der österreichischen Regierung kann eine Kategorie von Rechtsinhabern vom Ausgleichsanspruch für Privatkopien ausgeschlossen werden, wenn Rechtsinhabern aufgrund der inhärenten Eigenschaften der Angehörigen dieser Kategorie oder der Modalitäten der Verwertung dieser Rechte ein nur geringfügiger Schaden entsteht(9). Art. 2 Buchst. e der Richtlinie 2001/29 schütze die „technisch-organisatorische Leistung, die sich in der Sendung materialisiert“; der gesendete Inhalt sei dagegen nicht Gegenstand des Anspruchs der Sendeunternehmen nach dieser Bestimmung. Die Vervielfältigung dieses Inhalts sei daher von der Vervielfältigung der Sendung oder des Signals, über das sie übertragen werde, zu unterscheiden(10). Die Kerntätigkeit oder das herkömmliche Geschäftsmodell von Sendeunternehmen sei es, der Öffentlichkeit Aufzeichnungen ihrer Sendungen zugänglich zu machen. Sendeunternehmen würden durch das Kopieren von Sendungen wirtschaftlich nicht unmittelbar beeinträchtigt, da die Anfertigung solcher Kopien den Empfang von Sendungen und damit auch ihre Werbewirkung nicht einschränke. Auch ein unmittelbarer Schaden für die von Sendeunternehmen angebotenen Mediathekdienste sei nicht überzeugend nachgewiesen. Die österreichische Regierung hat in der mündlichen Verhandlung vorgebracht, dass das Volumen des Kopierens von Sendungen mit dem Aufkommen von Streaming-Diensten zurückgegangen sei.
17. Nach Ansicht der italienischen Regierung stellt der Ausschluss von Sendeunternehmen vom Anspruch auf einen gerechten Ausgleich in dem Fall, dass sie keinen kreativen Beitrag zur geistigen Schöpfung leisten, keine Diskriminierung dar und kann auf der Grundlage der Erwägungsgründe 9 und 35 sowie der Art. 2 und 3 der Richtlinie 2001/29 gerechtfertigt werden. Allerdings soll nach Ansicht dieser Regierung ein Ausgleichsanspruch bestehen, wenn Sendeunternehmen zwar keinen kreativen Beitrag leisten, aber – insbesondere durch Finanzierung seiner Produktion – eine entscheidende Rolle als treibende Kraft bei der Gestaltung des audiovisuellen Werks spielen. Dagegen bestehe im Fall eines rechtsgeschäftlichen Erwerbs von Vervielfältigungsrechten durch Sendeunternehmen kein Anspruch auf einen gerechten Ausgleich, da diese keinen entscheidenden Beitrag zur geistigen Schöpfung eines Werks geleistet hätten.
B. Art. 2 Buchst. e der Richtlinie 2001/29 – ausschließliches Vervielfältigungsrecht
18. Nach Art. 2 der Richtlinie 2001/29 sind die Mitgliedstaaten verpflichtet, den Urhebern und den Inhabern bestimmter, näher bezeichneter verwandter Schutzrechte das ausschließliche Recht einzuräumen, die Vervielfältigung ihrer geschützten Werke oder sonstigen Schutzgegenstände zu erlauben oder zu verbieten(11). Wie ihrem Titel zu entnehmen, harmonisiert die Richtlinie 2001/29 bestimmte Aspekte des Urheberrechts im engeren Sinne und der verwandten Schutzrechte, um u. a. die Entwicklung und den Vertrieb neuer Produkte und Dienstleistungen in der Informationsgesellschaft zu schützen und zu fördern(12).
19. Nach Art. 2 Buchst. e der Richtlinie 2001/29 müssen die Mitgliedstaaten das ausschließliche Recht der Sendeunternehmen vorsehen, die Vervielfältigung der Aufzeichnungen ihrer Sendungen zu erlauben oder zu verbieten. Das ausschließliche Vervielfältigungsrecht nach Art. 2 Buchst. e der Richtlinie 2001/29 schützt „Aufzeichnungen“ und nicht den Inhalt von Sendungen. Insoweit hat der Gerichtshof im Urteil Football Association Premier League u. a.(13) entschieden, dass die Urheber sich auf ihr Urheberrecht stützen können, das an den im Rahmen von Sendungen verwerteten Werken besteht(14). Das Recht der Sendeunternehmen in Bezug auf Vervielfältigungen der Aufzeichnungen ihrer Sendungen nach Art. 2 Buchst. e der Richtlinie 2001/29 ist auch von ihrem ausschließlichen Recht nach Art. 7 Abs. 2 der Richtlinie 2006/115/EG(15) zu unterscheiden, die Aufzeichnung ihrer Sendungen(16) zu erlauben oder zu verbieten. Außerdem besteht das Vervielfältigungsrecht der Sendeunternehmen nach Art. 2 Buchst. e der Richtlinie 2001/29, wie von der Kommission in der mündlichen Verhandlung vorgetragen, gesondert und eigenständig von ihrem Recht nach Art. 3 Abs. 2 Buchst. d dieser Richtlinie, Aufzeichnungen ihrer Sendungen der Öffentlichkeit zugänglich zu machen.
20. Daraus folgt, dass alle diese Rechte nebeneinander bestehen und dass eine Beschränkung eines dieser Rechte oder eine von hiervon zugelassene Ausnahme nicht notwendigerweise zu einer Beschränkung eines anderen dieser Rechte führt(17). Beispielsweise gilt die Ausnahme für Privatkopien nach Art. 5 Abs. 2 Buchst. b der Richtlinie 2001/29 nicht für das Recht der Sendeunternehmen, Aufzeichnungen ihrer Sendungen der Öffentlichkeit zugänglich zu machen(18).
21. Dem vorlegenden Gericht zufolge wird das ausschließliche Vervielfältigungsrecht der Sendeunternehmen an Aufzeichnungen ihrer Sendungen nach Art. 2 Buchst. e der Richtlinie 2001/29 durch § 87 Abs. 1 Nr. 2 UrhG umgesetzt. Die Richtigkeit dieser Umsetzung und die Anwendung dieser nationalen Bestimmung stehen im vorliegenden Verfahren nicht in Frage; in dessen Mittelpunkt steht vielmehr die Umsetzung der in Art. 5 Abs. 2 Buchst. b der Richtlinie 2001/29 vorgesehenen Ausnahme vom ausschließlichen Vervielfältigungsrecht nach Art. 2 Buchst. e der Richtlinie 2001/29 in deutsches Recht. § 54 Abs. 1 UrhG sieht die Zahlung einer „angemessenen Vergütung“ in Form einer „Privatmedienabgabe“ vor, die von den Herstellern von Geräten und Speichermedien zu zahlen ist, die zur Vornahme von Vervielfältigungen benutzt werden, die u. a. nach § 53 Abs. 1 UrhG erlaubt sind(19). Wie bereits erwähnt, sieht § 53 Abs. 1 UrhG eine Privatkopieausnahme u. a. für Aufzeichnungen von Sendungen vor. Nach § 87 Abs. 4 UrhG sind Sendeunternehmen jedoch vom Anspruch auf eine angemessene Vergütung ausgeschlossen.
C. Art. 5 Abs. 2 Buchst. b der Richtlinie 2001/29 – Ausschluss von Sendeunternehmen vom Anspruch auf einen gerechten Ausgleich
22. Nach Art. 5 Abs. 2 Buchst. b der Richtlinie 2001/29 können die Mitgliedstaaten eine Ausnahme oder Beschränkung in Bezug auf die in Art. 2 dieser Richtlinie vorgesehenen Vervielfältigungsrechte bei Vervielfältigungen durch natürliche Personen zum privaten Gebrauch unter der Bedingung vorsehen, dass die Rechtsinhaber einen gerechten Ausgleich erhalten. Dies wird häufig als „Privatkopieausnahme“ bezeichnet.
23. Nach ständiger Rechtsprechung ist Art. 5 Abs. 2 Buchst. b der Richtlinie 2001/29 zwar fakultativ, die Mitgliedstaaten müssen jedoch, wenn sie sich für seine Umsetzung entscheiden, den Rechtsinhabern die wirksame Erhebung des gerechten Ausgleichs gewährleisten(20). Nach Art. 5 Abs. 2 Buchst. b der Richtlinie 2001/29 gilt die Privatkopieausnahme „unter der Bedingung, dass die Rechtsinhaber einen gerechten Ausgleich erhalten“. In dieser Bestimmung wird nicht zwischen den in Art. 2 der Richtlinie 2001/29 genannten fünf Kategorien von Rechtsinhabern(21) unterschieden(22). Eine grammatikalische Auslegung von Art. 5 Abs. 2 Buchst. b der Richtlinie 2001/29 führt zu dem Ergebnis, dass der Anspruch auf gerechten Ausgleich allen fünf der in Art. 2 der Richtlinie aufgeführten Kategorien von Rechtsinhabern zusteht, ohne dass zwischen ihnen unterschieden wird.
24. In Art. 5 Abs. 2 Buchst. b der Richtlinie 2001/29 sind jedoch keine Parameter(23) für die Zahlung des gerechten Ausgleichs festgelegt, so dass die Mitgliedstaaten bei der Festlegung dieser Parameter über einen weiten Gestaltungsspielraum verfügen(24). Wie sich aus den Erwägungsgründen 35 und 38 der Richtlinie 2001/29 ergibt(25), entsteht im Fall des Vorliegens eines Schadens der Rechtsinhaber jedoch grundsätzlich ein Ausgleichsanspruch(26). Ebenso dürfen nach Art. 5 Abs. 5 der Richtlinie 2001/29 durch die Einführung der Privatkopieausnahme die berechtigten Interessen des Rechtsinhabers nicht ungebührlich verletzt werden(27). Ein Ausgleich, der über(28) oder unter dem den Rechtsinhabern durch Privatkopien entstandenen Schaden liegt, ist somit mit dem angemessenen Ausgleich, der zwischen den durch Art. 17 Abs. 2 der Charta garantierten Interessen der Rechtsinhaber und den Interessen und Grundrechten von Nutzern von Schutzgegenständen, insbesondere der durch Art. 11 der Charta geschützten Freiheit der Meinungsäußerung und Informationsfreiheit, zu wahren ist, sowie dem öffentlichen Interesse unvereinbar(29). Die Mitgliedstaaten sind nicht verpflichtet, einen Ausgleich in dem Fall zu gewährleisten, dass den Rechtsinhabern nur ein geringfügiger Schaden entsteht(30). Die Zahlungspflicht und die Höhe des gerechten Ausgleichs sind daher untrennbar mit dem Vorliegen und dem Umfang des dem Rechtsinhaber durch Privatkopien entstehenden Schadens verbunden(31).
25. Nach ständiger Rechtsprechung hat daher derjenige, der Privatkopien anfertigt, grundsätzlich den dem Rechtsinhaber entstehenden Schaden auszugleichen. Weiter handelt es sich nach Art. 3 Buchst. h der Richtlinie 2014/26/EU(32) bei Einnahmen aus einem Ausgleichsanspruch, die eine Organisation für die kollektive Rechtewahrnehmung für die Rechtsinhaber einzieht, um Einnahmen aus dem Urheberrecht oder Einnahmen aus verwandten Schutzrechten.
26. Der Gerichtshof erkennt zwar an, dass die Vergütungsregelungen für Privatkopien ungenau sein können(33) und der Ausgleich in mittelbarer Form geleistet werden kann(34), dies rechtfertigt jedoch nicht den Ausschluss einer ganzen Kategorie von Rechtsinhabern vom Anspruch auf gerechten Ausgleich, wenn diesen Rechtsinhabern ein Schaden entsteht(35). Das Vorliegen und der Umfang eines solchen Schadens sind eine Tatsachenfrage und können grundsätzlich nur dann von Rechts wegen ausgeschlossen oder außer Betracht gelassen werden, wenn eindeutige Nachweise dafür vorliegen, dass dieser Kategorie von Rechtsinhabern durch Privatkopien nur ein geringfügiger Schaden entsteht. Es ist Sache des vorlegenden Gerichts, zu prüfen, ob Sendeunternehmen wie der Klägerin durch Privatkopien von Aufzeichnungen ihrer Sendungen tatsächlich ein Schaden entsteht.
27. Die Klägerin und die Beklagte machen geltend, dass den Sendeunternehmen insbesondere durch Privatkopien ein Schaden entstehe, da sie auf dem Markt für ihre Mediathekdienste einem unlauteren Wettbewerb ausgesetzt seien und ihre Werbeeinnahmen beeinträchtigt würden(36). Die deutsche und die österreichische Regierung treten dieser Ansicht nachdrücklich entgegen. Insoweit ist hervorzuheben, dass sich entgegen der Ansicht dieser Regierungen die Beurteilung eines Schadens der Sendeunternehmen nicht auf die sogenannte „Kerntätigkeit“ beschränkt, der Öffentlichkeit Aufzeichnungen ihrer Sendungen zugänglich zu machen, die durch Art. 3 Abs. 2 Buchst. d der Richtlinie 2001/29 geschützt sind. Auch wenn Sendeunternehmen, aus kommerzieller Perspektive betrachtet, eine „Kerntätigkeit“ haben mögen, steht ihnen gleichwohl, immer vorbehaltlich der Ausnahmen und Beschränkungen nach Art. 5 der Richtlinie 2001/29, der volle Umfang der ihnen durch die Richtlinie gewährten Rechte zu. Sendeunternehmen stehen nach Art. 2 Buchst. e bzw. Art. 3 Abs. 2 Buchst. d der Richtlinie 2001/29 jeweils eigenständige Rechte zu. Angesichts des ausdrücklichen Willens des Unionsgesetzgebers, diese Rechte gesondert und selbständig zu regeln, darf die Unterscheidung zwischen ihnen nicht verwischt werden.
28. Der eindeutige Wortlaut, mit dem in Art. 2 Buchst. e der Richtlinie 2001/29 Rechte gewährt werden, darf nicht durch eine unzulässige Anwendung oder Erweiterung(37) der Ausnahme in Art. 5 Abs. 2 Buchst. b dieser Richtlinie geändert oder beeinträchtigt werden(38). Auch darf der Anspruch der Sendeunternehmen auf einen gerechten Ausgleich nicht dadurch beeinträchtigt werden, dass die Modalitäten, nach denen diese Unternehmen die ihnen durch Art. 2 Buchst. e der Richtlinie 2001/29 gewährten Rechte wahrnehmen, in unnatürlicher Weise qualifiziert oder festgelegt werden.
29. Entgegen dem Vorbringen der italienischen Regierung macht Art. 5 Abs. 2 Buchst. b der Richtlinie 2001/29 die Zahlung eines gerechten Ausgleichs nicht von einer Bedingung der „Originalität“ oder „geistigen Schöpfung“ in Bezug auf den durch Art. 2 dieser Richtlinie geschützten Gegenstand abhängig(39). Bedingung für den gerechten Ausgleich ist zum einen eine erlaubte Privatkopie eines durch Art. 2 der Richtlinie 2001/29 geschützten Gegenstands und zum anderen das Vorliegen eines Schadens des Rechtsinhabers. Das Vervielfältigungsrecht der Urheber an ihren Werken nach Art. 2 Buchst. a der Richtlinie 2001/29 setzt voraus, dass es sich bei dem betreffenden Schutzgegenstand um ein Original handelt und dass es eine eigene geistige Schöpfung seines Urhebers darstellt(40). Diese Voraussetzung gilt nicht für verwandte Schutzrechte von Sendeunternehmen nach Art. 2 Buchst. e der Richtlinie 2001/29 oder für Tonträger- oder Filmhersteller nach Art. 2 Buchst. c und d der Richtlinie. Art. 5 Abs. 2 Buchst. b der Richtlinie 2001/29 ist daher unter Beachtung des in Art. 20 der Charta verankerten Grundsatzes der Gleichbehandlung anzuwenden, wonach vergleichbare Sachverhalte nicht unterschiedlich und unterschiedliche Sachverhalte nicht gleich behandelt werden dürfen, es sei denn, dass eine solche Behandlung objektiv gerechtfertigt ist(41).
30. Der Umstand, dass Sendeunternehmen möglicherweise einen gerechten Ausgleich für Privatkopien der von ihnen hergestellten Filme erhalten können, ist ebenfalls unerheblich. Jedes der ausschließlichen Rechte nach Art. 2 Buchst. d und e der Richtlinie 2001/29 besteht gesondert und eigenständig. Nach Art. 5 Abs. 2 Buchst. b dieser Richtlinie ist ein gerechter Ausgleich grundsätzlich für Privatkopien jedes durch eines dieser Rechte geschützten Gegenstands zu leisten. Aus der Vervielfältigung der Aufzeichnung einer Sendung können sich daher für Sendeunternehmen verschiedene, voneinander unabhängige Ansprüche auf einen gerechten Ausgleich nach Art. 5 Abs. 2 Buchst. b der Richtlinie 2001/29 ergeben(42).
D. Anwendung von Art. 2 Buchst. e und Art. 5 Abs. 2 Buchst. b der Richtlinie 2001/29 auf das vorliegende Verfahren – Rechtsstreit zwischen zwei Unternehmen – Grundsätze des Vorrangs des Unionsrechts und der unmittelbaren Wirkung – Dem Staat zuzurechnende Einrichtung
31. Da das vorlegende Gericht im Rahmen eines Rechtsstreits zwischen zwei Gesellschaften mit beschränkter Haftung(43) um Auslegung einer Richtlinie ersucht, ist im Licht der Erklärungen der Kommission(44) zu prüfen, wie eine Entscheidung des Gerichtshofs gegebenenfalls Anwendung findet.
32. Der Grundsatz des Vorrangs des Unionsrechts verlangt u. a., dass die nationalen Gerichte ihr nationales Recht so weit wie möglich so auslegen, dass es unionsrechtskonform ist. Es obliegt somit dem vorlegenden Gericht, insbesondere zu prüfen, ob § 87 Abs. 4 UrhG in einer Weise ausgelegt werden kann, die mit Art. 2 Buchst. e und Art. 5 Abs. 2 Buchst. b der Richtlinie 2001/29 konform ist. Diese Pflicht wird jedoch durch allgemeine Rechtsgrundsätze eingeschränkt, u. a. durch das Erfordernis, dass Bestimmungen des nationalen Rechts nicht contra legem ausgelegt werden dürfen(45).
33. Ohne der endgültigen Auslegung des nationalen Rechts durch das vorlegende Gericht vorzugreifen, heißt es im Vorabentscheidungsersuchen, dass „Sendeunternehmen nach dem nationalen Urheberrecht vom Ausgleichsanspruch vollständig ausgeschlossen [werden]“. Es erscheint daher zweifelhaft, ob das vorlegende Gericht in der Lage sein wird, die einschlägigen Bestimmungen des nationalen Rechts, insbesondere § 87 Abs. 4 UrhG, so auszulegen, dass sie mit Art. 2 Buchst. e und Art. 5 Abs. 2 Buchst. b der Richtlinie 2001/29 konform sind.
34. Kann das vorlegende Gericht das nationale Recht nicht konform auslegen, ist es nach dem Grundsatz des Vorrangs des Unionsrechts verpflichtet, in dem bei ihm anhängigen Rechtsstreit jede Bestimmung des nationalen Rechts, die zu einer anwendbaren Bestimmung der Richtlinie 2001/29, die unmittelbare Wirkung hat, in Widerspruch steht, unangewendet zu lassen(46).
35. Meines Erachtens haben sowohl Art. 2 Buchst. e als auch Art. 5 Abs. 2 Buchst. b der Richtlinie 2001/29 in diesem Sinne unmittelbare Wirkung.
36. Das Vervielfältigungsrecht in Art. 2 Buchst. e der Richtlinie 2001/29 ist klar und eindeutig bestimmt(47). Es gilt uneingeschränkt, und für seine Umsetzung und Wirkungen sind weitere Maßnahmen der Mitgliedstaaten weder erforderlich noch maßgebend. Demnach stellt Art. 2 Buchst. e der Richtlinie 2001/29 eine Maßnahme zur vollständigen Harmonisierung des ausschließlichen Rechts der Sendeunternehmen zur Vervielfältigung der Aufzeichnungen ihrer Sendungen dar, bei deren Umsetzung die Mitgliedstaaten über keinen Entscheidungsspielraum verfügen(48).
37. Art. 5 Abs. 2 Buchst. b der Richtlinie 2001/29 erlegt den Mitgliedstaaten, die sich dafür entscheiden, die dort geregelte Ausnahme für Privatkopien umzusetzen, eindeutig eine inhaltlich unbedingte und genaue Verpflichtung auf, sicherzustellen, dass Rechtsinhaber einen gerechten Ausgleich erhalten(49). Auch wenn die Richtlinie 2001/29 keine weiteren Einzelheiten zu den verschiedenen Bestandteilen des Systems des gerechten Ausgleichs regelt und die Mitgliedstaaten insoweit über einen weiten Gestaltungsspielraum verfügen, hat die Verpflichtung, sicherzustellen, dass Rechtsinhaber einen gerechten Ausgleich erhalten, unmittelbare Wirkung. Der Inhaber des Vervielfältigungsrechts muss „kraft Gesetzes unmittelbar und originär Berechtigter des in Art. 5 Abs. 2 Buchst. b der Richtlinie 2001/29 im Rahmen der sogenannten [‚]Privatkopieausnahme[‘] vorgesehenen Anspruchs auf gerechten Ausgleich sein“ und „[‚]unbedingt[‘] die Zahlung [des gerechten] Ausgleichs erhalten“(50).
38. In der vorliegenden Rechtssache stellt sich die Frage, ob die Klägerin sich in einem Verfahren gegen die Beklagte auf Art. 2 Buchst. e und Art. 5 Abs. 2 Buchst. b der Richtlinie 2001/29 berufen kann, um die Nichtanwendung der zu diesen Bestimmungen im Widerspruch stehenden nationalen Rechtsvorschriften zu erwirken. Nach Art. 288 Abs. 3 AEUV kann eine Richtlinie nicht selbst Verpflichtungen für einen Einzelnen begründen, so dass ihm gegenüber eine Berufung auf die Richtlinie als solche vor dem nationalen Gericht nicht möglich ist. Selbst klare, genaue und unbedingte Bestimmungen einer Richtlinie, wie diejenigen in Art. 2 Buchst. e und Art. 5 Abs. 2 Buchst. b der Richtlinie 2001/29, gestatten dem nationalen Gericht nicht, eine diesen Bestimmungen entgegenstehende Bestimmung seines innerstaatlichen Rechts auszuschließen, wenn aufgrund dessen einer Privatperson eine zusätzliche Verpflichtung auferlegt würde(51).
39. Die Berufung auf eine Richtlinie gegenüber einem Mitgliedstaat ist jedoch unabhängig davon möglich, in welcher Eigenschaft der Staat handelt. Das nationale Gericht hat die Anwendung der nationalen Vorschrift, die gegen eine Richtlinie verstößt, nur auszuschließen, wenn sie gegenüber einem Mitgliedstaat, seinen Verwaltungsträgern einschließlich dezentralisierter Behörden oder Einrichtungen und Stellen geltend gemacht wird, die dem Staat oder dessen Aufsicht unterstehen oder die von einem Mitgliedstaat mit der Erfüllung einer im öffentlichen Interesse liegenden Aufgabe betraut wurden und hierzu mit besonderen Rechten ausgestattet sind, die über die für die Beziehungen zwischen Privatpersonen geltenden Vorschriften hinausgehen(52).
40. In der mündlichen Verhandlung haben sowohl die Beklagte als auch die deutsche Regierung bestätigt, dass die Beklagte eine Verwertungsgesellschaft sei, der durch Gesetz besondere Rechte übertragen worden seien, und dass sie im Allgemeininteresse handeln müsse. Daraus folgt, dass die Klägerin sich für den Fall, dass das vorlegende Gericht § 87 Abs. 4 UrhG nicht in mit Art. 2 Buchst. e und Art. 5 Abs. 2 Buchst. b der Richtlinie 2001/29 konformer Weise auslegen kann, in ihrem Rechtsstreit mit der Beklagten auf die letzteren Bestimmungen berufen kann, um zu erwirken, dass dieses Gericht § 87 Abs. 4 UrhG unangewendet lässt.
VI. Ergebnis
41. Nach alledem schlage ich dem Gerichtshof vor, die vom Landgericht Erfurt (Deutschland) vorgelegten Fragen wie folgt zu beantworten:
Art. 2 Buchst. e und Art. 5 Abs. 2 Buchst. b der Richtlinie 2001/29/EG des Europäischen Parlaments und des Rates vom 22. Mai 2001 zur Harmonisierung bestimmter Aspekte des Urheberrechts und der verwandten Schutzrechte in der Informationsgesellschaft sind dahin auszulegen, dass
sie es einem Mitgliedstaat verwehren, vom ausschließlichen Vervielfältigungsrecht der Sendeunternehmen an Aufzeichnungen ihrer Sendungen eine Privatkopieausnahme vorzusehen und gleichzeitig den Anspruch auf einen gerechten Ausgleich für die Anfertigung solcher Kopien auszuschließen, wenn ihnen dadurch ein nicht nur geringfügiger Schaden entsteht. Dass Sendeunternehmen nach Art. 5 Abs. 2 Buchst. b der Richtlinie 2001/29 in ihrer Eigenschaft als Filmhersteller ein Anspruch auf gerechten Ausgleich zustehen kann, ist unerheblich.