C-239/22 – Belgischer Staat und Promo 54

C-239/22 – Belgischer Staat und Promo 54

CURIA – Documents

Language of document : ECLI:EU:C:2023:181

Vorläufige Fassung

URTEIL DES GERICHTSHOFS (Achte Kammer)

9. März 2023(*)

„Vorlage zur Vorabentscheidung – Gemeinsames Mehrwertsteuersystem – Richtlinie 2006/112/EG – Art. 12 Abs. 1 und 2 – Lieferung von Gebäuden oder Gebäudeteilen und dem dazugehörigen Grund und Boden, wenn sie vor dem Erstbezug erfolgt – Keine Bestimmungen des nationalen Rechts zur Festlegung der Einzelheiten der Anwendung des mit dem Erstbezug verbundenen Kriteriums – Art. 135 Abs. 1 Buchst. j – Steuerbefreiungen – Lieferung eines Gebäudes nach Umbau, das vor dem Umbau Gegenstand eines Erstbezugs war – Lehrmeinung im nationalen Verwaltungsrecht, wonach in hinreichendem Umfang umgebaute Gebäude neuen Gebäuden gleichgestellt werden“

In der Rechtssache C‑239/22

betreffend ein Vorabentscheidungsersuchen nach Art. 267 AEUV, eingereicht von der Cour de cassation (Kassationshof, Belgien) mit Entscheidung vom 28. März 2022, beim Gerichtshof eingegangen am 5. April 2022, in dem Verfahren

État belge,

Promo 54 SA

gegen

Promo 54 SA,

État belge

erlässt

DER GERICHTSHOF (Achte Kammer)

unter Mitwirkung des Kammerpräsidenten M. Safjan (Berichterstatter) sowie der Richter N. Piçarra und M. Gavalec,

Generalanwalt: A. Rantos,

Kanzler: A. Calot Escobar,

aufgrund des schriftlichen Verfahrens,

unter Berücksichtigung der Erklärungen

–        der Promo 54 SA, vertreten durch P. Wouters, Advocaat,

–        der belgischen Regierung, vertreten durch P. Cottin, J.‑C. Halleux und C. Pochet als Bevollmächtigte,

–        der Europäischen Kommission, vertreten durch A. Armenia, C. Ehrbar und V. Uher als Bevollmächtigte,

aufgrund des nach Anhörung des Generalanwalts ergangenen Beschlusses, ohne Schlussanträge über die Rechtssache zu entscheiden,

folgendes

Urteil

1        Das Vorabentscheidungsersuchen betrifft die Auslegung von Art. 12 Abs. 1 und 2 sowie von Art. 135 Abs. 1 Buchst. j der Richtlinie 2006/112/EG des Rates vom 28. November 2006 über das gemeinsame Mehrwertsteuersystem (ABl. 2006, L 347, S. 1, im Folgenden: Mehrwertsteuerrichtlinie).

2        Es ergeht im Rahmen eines Rechtsstreits zwischen der auf dem Gebiet der Entwicklung von Immobilienprojekten tätigen Promo 54 SA und dem belgischen Staat über die Höhe der von dieser Gesellschaft für den Umbau eines ehemaligen Schulgebäudes in einen Wohn- und Bürokomplex geschuldeten Mehrwertsteuer.

 Rechtlicher Rahmen

 Unionsrecht

3        Art. 2 Abs. 1 der Mehrwertsteuerrichtlinie bestimmt:

,,Der Mehrwertsteuer unterliegen folgende Umsätze:

a)      Lieferungen von Gegenständen, die ein Steuerpflichtiger als solcher im Gebiet eines Mitgliedstaats gegen Entgelt tätigt; …“

4        Art. 9 Abs. 1 dieser Richtlinie sieht vor:

„Als ‚Steuerpflichtiger‘ gilt, wer eine wirtschaftliche Tätigkeit unabhängig von ihrem Ort, Zweck und Ergebnis selbstständig ausübt.

Als ‚wirtschaftliche Tätigkeit‘ gelten alle Tätigkeiten eines Erzeugers, Händlers oder Dienstleistenden einschließlich der Tätigkeiten der Urproduzenten, der Landwirte sowie der freien Berufe und der diesen gleichgestellten Berufe. Als wirtschaftliche Tätigkeit gilt insbesondere die Nutzung von körperlichen oder nicht körperlichen Gegenständen zur nachhaltigen Erzielung von Einnahmen.“

5        Art. 12 Abs. 1 und 2 dieser Richtlinie bestimmt:

„(1)      Die Mitgliedstaaten können Personen als Steuerpflichtige betrachten, die gelegentlich eine der in Artikel 9 Absatz 1 Unterabsatz 2 genannten Tätigkeiten ausüben und insbesondere einen der folgenden Umsätze bewirken:

a)      Lieferung von Gebäuden oder Gebäudeteilen und dem dazugehörigen Grund und Boden, wenn sie vor dem Erstbezug erfolgt;

b)      Lieferung von Baugrundstücken.

(2)      Als ‚Gebäude‘ im Sinne des Absatzes 1 Buchstabe a gilt jedes mit dem Boden fest verbundene Bauwerk.

Die Mitgliedstaaten können die Einzelheiten der Anwendung des in Absatz 1 Buchstabe a genannten Kriteriums des Erstbezugs auf Umbauten von Gebäuden und den Begriff ‚dazugehöriger Grund und Boden‘ festlegen.

Die Mitgliedstaaten können andere Kriterien als das des Erstbezugs bestimmen, wie etwa den Zeitraum zwischen der Fertigstellung des Gebäudes und dem Zeitpunkt seiner ersten Lieferung, oder den Zeitraum zwischen dem Erstbezug und der späteren Lieferung, sofern diese Zeiträume fünf bzw. zwei Jahre nicht überschreiten.“

6        In Art. 135 Abs. 1 dieser Richtlinie heißt es:

„(1)      Die Mitgliedstaaten befreien folgende Umsätze von der Steuer:

j)      Lieferung von anderen Gebäuden oder Gebäudeteilen und dem dazugehörigen Grund und Boden als den in Artikel 12 Absatz 1 Buchstabe a genannten;

…“

 Belgisches Recht

7        Art. 1 § 9 des Code de la taxe sur la valeur ajoutée (im Folgenden: Mehrwertsteuergesetzbuch) bestimmt:

„Für die Zwecke dieses Gesetzes gilt

1.      als Gebäude oder Gebäudeteil jedes fest mit dem Boden verbundene Bauwerk;

2.      als dazugehöriger Grund und Boden das Grundstück, auf dem dieses gebaut werden darf und das von derselben Person zeitgleich mit dem Gebäude veräußert wird und zu diesem gehört.

Unterabs. 1 Nr. 2 findet keine Anwendung auf Art. 44 § 3 Nr. 2 Buchst. d.“

8        Der die Steuerbefreiungen betreffende Art. 44 des Mehrwertsteuergesetzbuchs sieht in seinem § 3 vor:

„Steuerbefreit sind

1.      folgende Umsätze:

a)      Lieferungen von naturgemäß unbeweglichen Sachen;

Ausgenommen hiervon sind jedoch Lieferungen von Gebäuden, Gebäudeteilen und dem dazugehörigen Grund und Boden im Sinne von Art. 1 § 9, wenn sie spätestens am 31. Dezember des zweiten Jahres nach dem Jahr des Erstbezugs oder der ersten Ingebrauchnahme der in Art. 1 § 9 Nr. 1 genannten Immobilien veräußert werden durch:

–        einen Steuerpflichtigen im Sinne von Art. 12 § 2, der die in Art. 1 § 9 Nr. 1 genannten Immobilien gebaut hat, hat bauen lassen oder unter Anwendung der Steuer erworben hat;

–        einen Steuerpflichtigen im Sinne von Art. 8 § 1; oder

–        einen sonstigen Steuerpflichtigen, wenn er in der vom König festgelegten Form und Weise die Absicht zum Ausdruck gebracht hat, eine solche Veräußerung unter Anwendung der Steuer vorzunehmen.

…“

 Ausgangsverfahren und Vorlagefrage

9        Am 6. Juni 2008 schlossen Promo 54 und eine andere Gesellschaft, Immo 2020, einen Kooperationsvertrag, wonach Immo 2020, die Eigentümerin des Grundstücks, auf dem sich ein ehemaliges Schulgebäude (Sekundarschule) befand, Promo 54 mit der Aufgabe betraute, den Umbau dieser Sekundarschule in einen Wohn- und Bürokomplex zu beaufsichtigen und diese Immobilien zu verkaufen. Mit Erklärung vom 18. Februar 2009 verzichtete Immo 2020 ferner zugunsten von Promo 54 auf das Recht des Eigentumserwerbs kraft Gesetzes durch Verbindung beweglicher Sachen mit dem Grundstück (droit d’accession).

10      Der Verkauf dieser künftigen Wohnungen erfolgte im Rahmen einer aus zwei gesonderten Verträgen mit den Erwerbern bestehenden rechtlichen Konstruktion. Zum einen schlossen die Erwerber einen Vertrag mit Immo 2020 über den Verkauf eines Teils des umzubauenden ehemaligen Schulgebäudes sowie eines Teils des Grundstücks, auf dem dieses steht. Zum anderen schloss Promo 54 am selben Tag einen Werkvertrag für die Renovierungsarbeiten mit den Erwerbern.

11      Die belgische Finanzverwaltung hielt dies für ein künstlich aufgespaltenes Geschäft zur missbräuchlichen Erlangung eines Steuervorteils. In Wirklichkeit handele es sich bei diesem Geschäft um eine einheitliche Lieferung neuer Wohnungen, für die ein Mehrwertsteuersatz von 21 % gelte, und nicht um einen dem ermäßigten Mehrwertsteuersatz von 6 % unterliegenden Verkauf eines alten Gebäudes und des Grundstücks, auf dem es stehe, mit anschließender Renovierung des Gebäudes.

12      Gegen diese Neueinstufung klagte Promo 54 vor dem Tribunal de première instance de Liège (Gericht Erster Instanz Lüttich, Belgien), jedoch ohne Erfolg.

13      Im Berufungsverfahren vertrat die Cour d’appel de Liège (Appellationshof Lüttich, Belgien) die Auffassung, dass die Beurteilung, ob eine Immobilie „neu“ sei, zwangsläufig mit einem gewissen Ermessen der Finanzverwaltung einhergehe und dass ein Mitgliedstaat nicht von der ihm durch Art. 12 Abs. 2 Unterabs. 2 der Mehrwertsteuerrichtlinie eingeräumten Möglichkeit Gebrauch machen müsse, um die in hinreichendem Umfang umgebauten alten Gebäude „neuen“ Gebäuden im Sinne von Art. 44 § 3 Nr. 1 Buchst. a des Mehrwertsteuergesetzbuchs gleichzustellen. Im vorliegenden Fall seien aber neue Gebäude errichtet worden, bei denen ein Erstbezug möglich sei und die daher nicht unter die Befreiung für die Lieferung naturgemäß unbeweglicher Sachen im Sinne von Art. 44 § 3 Nr. 1 Buchst. a des Mehrwertsteuergesetzbuchs fallen könnten.

14      Sowohl der belgische Staat als auch Promo 54 legten Kassationsbeschwerde gegen das Urteil des Appellationshofs Lüttich ein.

15      Promo 54 ist der Ansicht, dass nur auf neue Gebäude, also auf solche, bei denen noch kein Erstbezug erfolgt ist, Mehrwertsteuer erhoben werden könne. Ab dem Erstbezug oder der ersten Nutzung verliere jedes Gebäude seine Eigenschaft als „neu“, da der belgische Staat nicht von der Möglichkeit des Art. 12 Abs. 1 Buchst. a der Mehrwertsteuerrichtlinie Gebrauch gemacht habe, die Einzelheiten der Anwendung des Kriteriums des „Erstbezugs“ auf Umbauten von Gebäuden festzulegen. In Ermangelung dessen dürften die zuständigen Behörden den Begriff „Erstbezug“ nicht auf ein renoviertes Gebäude erstrecken, bei dem ein solcher Erstbezug bereits vor seinem Umbau erfolgt sei.

16      Unter diesen Umständen hat die Cour de cassation (Kassationshof, Belgien) beschlossen, das Verfahren auszusetzen und dem Gerichtshof folgende Frage zur Vorabentscheidung vorzulegen:

Sind Art. 12 Abs. 1 und 2 sowie Art. 135 Abs. 1 Buchst. j der Richtlinie 2006/112 dahin auszulegen, dass, sofern der Mitgliedstaat die Einzelheiten der Anwendung des Kriteriums des Erstbezugs auf Umbauten von Gebäuden nicht festgelegt hat, die Lieferung eines Gebäudes nach Umbau, wenn es vor dem Umbau Gegenstand eines Erstbezugs im Sinne von Art. 12 Abs. 1 Buchst. a oder Art. 12 Abs. 2 Unterabs. 3 der Richtlinie 2006/112 war, von der Mehrwertsteuer befreit bleibt?

 Zur Vorlagefrage

17      Mit seiner Frage möchte das vorlegende Gericht im Wesentlichen wissen, ob Art. 135 Abs. 1 Buchst. j der Mehrwertsteuerrichtlinie in Verbindung mit deren Art. 12 Abs. 1 und 2 dahin auszulegen ist, dass die in der erstgenannten Bestimmung vorgesehene Steuerbefreiung für die vor dem Erstbezug erfolgte Lieferung von Gebäuden oder Gebäudeteilen und dem dazugehörigen Grund und Boden auch auf die Lieferung eines Gebäudes Anwendung findet, das vor dem Umbau Gegenstand eines Erstbezugs war, selbst wenn der betreffende Mitgliedstaat im nationalen Recht nicht die Einzelheiten der Anwendung für das mit dem Erstbezug verbundene Kriterium auf Umbauten von Gebäuden festgelegt hat, wozu er nach Art. 12 dieser Richtlinie befugt gewesen wäre.

18      Hierzu ist darauf hinzuweisen, dass nach Art. 12 Abs. 1 Buchst. a der Mehrwertsteuerrichtlinie die Mitgliedstaaten auch Personen, die gelegentlich die Lieferung von Gebäuden oder Gebäudeteilen und dem dazugehörigen Grund und Boden vor deren Erstbezug bewirken, als Steuerpflichtige betrachten können.

19      Art. 135 Abs. 1 Buchst. j dieser Richtlinie sieht eine Mehrwertsteuerbefreiung für die Lieferung von anderen als den in Art. 12 Abs. 1 Buchst. a dieser Richtlinie genannten Gebäuden vor, also für andere Gebäude als die, deren Lieferung vor dem „Erstbezug“ erfolgt (vgl. in diesem Sinne Urteil vom 4. September 2019, KPC Herning, C‑71/18, EU:C:2019:660, Rn. 55).

20      Diese Bestimmungen unterscheiden in der Praxis zwischen den alten Gebäuden, deren Verkauf grundsätzlich nicht der Mehrwertsteuer unterliegt, und den neuen Gebäuden, deren Verkauf der Mehrwertsteuer unterliegt, unabhängig davon, ob dieser im Rahmen einer dauerhaften wirtschaftlichen Tätigkeit oder gelegentlich erfolgt (vgl. in diesem Sinne Urteil vom 4. September 2019, KPC Herning, C‑71/18, EU:C:2019:660, Rn. 56 und die dort angeführte Rechtsprechung). Folglich unterliegt die Lieferung eines Gebäudes vor seinem „Erstbezug“ durch einen Steuerpflichtigen der Besteuerung, während die Lieferung eines Gebäudes an einen Endverbraucher im Anschluss an den „Erstbezug“ steuerbefreit ist.

21      Die ratio legis dieser Bestimmungen besteht darin, dass der Verkauf eines alten Gebäudes kaum mit einer Wertschöpfung einhergeht. Denn der Verkauf eines Gebäudes an einen Endverbraucher im Anschluss an die das Ende des Produktionsprozesses kennzeichnende Erstlieferung verursacht keine signifikante Wertschöpfung und ist daher grundsätzlich von der Steuer zu befreien (Urteil vom 4. September 2019, KPC Herning, C‑71/18, EU:C:2019:660, Rn. 57 und die dort angeführte Rechtsprechung).

22      Zwar führt die Mehrwertsteuerrichtlinie in ihrem Art. 12 Abs. 1 Buchst. a den Begriff „Erstbezug“ ein, ohne ihn zu definieren, doch ergibt sich aus den Vorarbeiten zur Sechsten Richtlinie 77/388/EWG des Rates vom 17. Mai 1977 zur Harmonisierung der Rechtsvorschriften der Mitgliedstaaten über die Umsatzsteuern – Gemeinsames Mehrwertsteuersystem: einheitliche steuerpflichtige Bemessungsgrundlage (ABl. 1977, L 145, S. 1), die für die Auslegung der Mehrwertsteuerrichtlinie weiterhin von Bedeutung sind, dass das Kriterium „Erstbezug“ eines Gebäudes dahin zu verstehen ist, dass es dem Kriterium der ersten Benutzung des Gebäudes durch seinen Eigentümer oder durch seinen Mieter entspricht.

23      Da die Lieferung eines umgebauten alten Gebäudes ebenso wie die Lieferung eines neuen Gebäudes vor dem Erstbezug eine Wertschöpfung verursacht, erfüllt sie das Kriterium des „Erstbezugs“ im Sinne von Art. 12 Abs. 1 Buchst. a der Mehrwertsteuerrichtlinie und bewirkt einen steuerbaren Umsatz.

24      Die Mitgliedstaaten sind somit zwar nach Art. 12 Abs. 2 Unterabs. 2 der Mehrwertsteuerrichtlinie ermächtigt, die Einzelheiten der Anwendung des Kriteriums des „Erstbezugs“ auf Umbauten von Gebäuden festzulegen, doch kann diese Bestimmung nicht dahin ausgelegt werden, dass es den Mitgliedstaaten damit erlaubt wäre, in ihren nationalen Rechtsvorschriften den Begriff „Erstbezug“ selbst abzuändern, weil andernfalls die praktische Wirksamkeit der in Art. 135 Abs. 1 Buchst. j vorgesehenen Befreiung beeinträchtigt würde (vgl. in diesem Sinne Urteil vom 16. November 2017, Kozuba Premium Selection, C‑308/16, EU:C:2017:869, Rn. 45).

25      So hat der Gerichtshof näher bestimmt, wie der Begriff „Umbau eines Gebäudes“ abzugrenzen ist, und ist dabei davon ausgegangen, dass das betreffende Gebäude wesentliche Änderungen erfahren haben muss, um dessen Nutzung zu ändern oder dessen Bezugsbedingungen erheblich zu ändern (vgl. in diesem Sinne Urteil vom 16. November 2017, Kozuba Premium Selection, C‑308/16, EU:C:2017:869, Rn. 52).

26      Vorbehaltlich der Wahrung der Tragweite dieses Begriffs dürfen die Mitgliedstaaten nach Art. 12 Abs. 2 Unterabs. 2 der Mehrwertsteuerrichtlinie etwa ein quantitatives Kriterium vorgeben, nach dem die Kosten eines solchen Umbaus einen bestimmten Prozentsatz des Anfangswerts des betreffenden Gebäudes erreichen müssen, um die Mehrwertsteuerpflichtigkeit seines Verkaufs zu begründen (vgl. in diesem Sinne Urteil vom 16. November 2017, Kozuba Premium Selection, C‑308/16, EU:C:2017:869, Rn. 48).

27      Im vorliegenden Fall hat der belgische Gesetzgeber von dieser Möglichkeit zum Erlass solcher zwingenden Vorschriften zwar keinen Gebrauch gemacht, doch die belgische Verwaltung hat in ihrer Verwaltungspraxis zu Art. 44 § 3 Nr. 1 des Mehrwertsteuergesetzbuchs alte Gebäude, die derart umgebaut wurden, dass sie dadurch die Eigenschaften eines neuen Gebäudes erhalten, neuen Gebäuden gleichgestellt.

28      Zwar ist nach ständiger Rechtsprechung des Gerichtshofs bei der Umsetzung einer Richtlinie für die Erfüllung des Erfordernisses der Rechtssicherheit von besonderer Bedeutung, dass die Rechtslage für die Einzelnen so hinreichend bestimmt und klar ist, dass diese von allen ihren Rechten Kenntnis erlangen und sie gegebenenfalls vor den nationalen Gerichten geltend machen können (Urteil vom 7. Juni 2007, Kommission/Griechenland, C‑178/05, EU:C:2007:317, Rn. 33 und die dort angeführte Rechtsprechung).

29      Es lässt sich jedoch nicht vertreten, dass, sofern der betreffende Mitgliedstaat nicht von der ihm durch Art. 12 Abs. 2 Unterabs. 2 der Mehrwertsteuerrichtlinie gebotenen Möglichkeit Gebrauch gemacht hat, Einzelheiten der Anwendung des Kriteriums des Erstbezugs auf Umbauten von Gebäuden durch zwingende Vorschriften des nationalen Rechts festzulegen, bestimmte Formen des Umbaus von Gebäuden mittels Auslegung des in den nationalen Rechtsvorschriften vorgesehenen Begriffs „Erstbezug“ im Einklang mit Art. 135 Abs. 1 Buchst. j der Mehrwertsteuerrichtlinie in Verbindung mit deren Art. 12 Abs. 1 Buchst. a und mit der Rechtsprechung des Gerichtshofs von der Mehrwertsteuer befreit sein könnten.

30      Dies liefe nämlich auf die Annahme hinaus, dass die Mehrwertsteuerpflichtigkeit eines Gebäudes nur dadurch begründet werden könnte, dass ein Mitgliedstaat von der Möglichkeit Gebrauch macht, die Einzelheiten der Anwendung des Kriteriums des Erstbezugs auf Umbauten von Gebäuden festzulegen, obwohl sich die Mehrwertsteuerpflicht in Wirklichkeit aus dem Grundprinzip ergibt, dass für die Steuerpflichtigkeit die Wertschöpfung und sich aus der Rechtsprechung des Gerichtshofs ergebende Begriffsbestimmungen maßgebend sind. Insoweit können kaum Zweifel daran bestehen, dass es sich im vorliegenden Fall um „wesentliche“ Änderungen im Sinne der in Rn. 25 des vorliegenden Urteils angeführten Rechtsprechung handelt, was vom vorlegenden Gericht zu bestätigen sein wird.

31      Angesichts der vorstehenden Ausführungen verleiht das Fehlen einer zwingenden Festlegung der Einzelheiten der Anwendung des Kriteriums des Erstbezugs auf Umbauten von Gebäuden im nationalen Recht der Steuerbefreiung solcher Gebäude keine unmittelbare Wirkung, wohingegen eine Auslegung des nationalen Rechts im Einklang mit Art. 135 Abs. 1 Buchst. j der Mehrwertsteuerrichtlinie in Verbindung mit deren Art. 12 Abs. 1 Buchst. a und mit der einschlägigen Rechtsprechung des Gerichtshofs zu einer Versagung der geforderten Steuerbefreiung führt.

32      Daher ist auf die Vorlagefrage zu antworten, dass Art. 135 Abs. 1 Buchst. j der Mehrwertsteuerrichtlinie in Verbindung mit deren Art. 12 Abs. 1 und 2 dahin auszulegen ist, dass die in der erstgenannten Bestimmung vorgesehene Steuerbefreiung für die vor dem Erstbezug erfolgte Lieferung von Gebäuden oder Gebäudeteilen und dem dazugehörigen Grund und Boden auch auf die Lieferung eines Gebäudes Anwendung findet, das vor dem Umbau Gegenstand eines Erstbezugs war, selbst wenn der betreffende Mitgliedstaat im nationalen Recht nicht die Einzelheiten der Anwendung für das mit dem Erstbezug verbundene Kriterium auf Umbauten von Gebäuden festgelegt hat, wozu er nach Art. 12 dieser Richtlinie befugt gewesen wäre.

 Kosten

33      Für die Beteiligten des Ausgangsverfahrens ist das Verfahren Teil des beim vorlegenden Gericht anhängigen Verfahrens; die Kostenentscheidung ist daher Sache dieses Gerichts. Die Auslagen anderer Beteiligter für die Abgabe von Erklärungen vor dem Gerichtshof sind nicht erstattungsfähig.

Aus diesen Gründen hat der Gerichtshof (Achte Kammer) für Recht erkannt:

Art. 135 Abs. 1 Buchst. j der Richtlinie 2006/112/EG des Rates vom 28. November 2006 über das gemeinsame Mehrwertsteuersystem in Verbindung mit Art. 12 Abs. 1 und 2 dieser Richtlinie

ist dahin auszulegen, dass

die in der erstgenannten Bestimmung vorgesehene Steuerbefreiung für die vor dem Erstbezug erfolgte Lieferung von Gebäuden oder Gebäudeteilen und dem dazugehörigen Grund und Boden auch auf die Lieferung eines Gebäudes Anwendung findet, das vor dem Umbau Gegenstand eines Erstbezugs war, selbst wenn der betreffende Mitgliedstaat im nationalen Recht nicht die Einzelheiten der Anwendung für das mit dem Erstbezug verbundene Kriterium auf Umbauten von Gebäuden festgelegt hat, wozu er nach Art. 12 dieser Richtlinie befugt gewesen wäre.

Unterschriften



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