C-228/21 – Ministero dell’Interno (Brochure commune – Refoulement indirect)

C-228/21 – Ministero dell’Interno (Brochure commune – Refoulement indirect)

CURIA – Documents

Language of document : ECLI:EU:C:2023:316

Vorläufige Fassung

SCHLUSSANTRÄGE DER GENERALANWÄLTIN

JULIANE KOKOTT

vom 20. April 2023(1)

Verbundene Rechtssachen C228/21, C254/21, C297/21, C315/21 und C328/21

Ministero dell’Interno – Dipartimento per le libertà civili e l’immigrazione – Unità Dublino

gegen

CZA

(Vorabentscheidungsersuchen der Corte suprema di cassazione [Kassationsgerichtshof, Italien])

und

DG

gegen

Ministero dell’Interno – Dipartimento per le libertà civili e l’immigrazione – Unità Dublino

(Vorabentscheidungsersuchen des Tribunale di Roma [Gericht Rom, Italien])

und

XXX.XX

gegen

Ministero dell’Interno – Dipartimento per le libertà civili e l’immigrazione – Unità Dublino

(Vorabentscheidungsersuchen des Tribunale di Firenze [Gericht Florenz, Italien])

und

PP

gegen

Ministero dell’Interno – Dipartimento per le Libertà civili e l’Immigrazione – Unità Dublino

(Vorabentscheidungsersuchen des Tribunale di Milano [Gericht Mailand, Italien])

und

GE

gegen

Ministero dell’Interno – Dipartimento per le libertà civili e l’immigrazione – Unità Dublino

(Vorabentscheidungsersuchen des Tribunale di Trieste [Gericht Triest, Italien])

„Vorlagen zur Vorabentscheidung – Gemeinsame Politik im Bereich Asyl und subsidiärer Schutz – Verordnung (EU) Nr. 604/2013 – Wiederaufnahmeverfahren – Verletzung der Pflichten zur Aushändigung des gemeinsamen Merkblatts gemäß Art. 4 und zum Führen eines persönlichen Gesprächs gemäß Art. 5 – Verordnung (EU) Nr. 603/2013 – Verletzung der Informationspflicht gemäß Art. 29 – Folgen für die Überstellungsentscheidung – Gefahr der indirekten Zurückweisung – Gegenseitiges Vertrauen – Gerichtliche Überprüfung der Überstellungsentscheidung“

Inhaltsverzeichnis

I. Einleitung

II. Rechtlicher Rahmen

A. Unionsrecht

1. Dublin-III-Verordnung

2. Eurodac-Verordnung

3. Qualifikationsrichtlinie

4. Asylverfahrensrichtlinie

5. Verordnung Nr. 1560/2003

B. Italienisches Recht

III. Sachverhalt und Vorabentscheidungsersuchen

A. Rechtssache C228/21

B. Rechtssache C254/21

C. Rechtssache C297/21

D. Rechtssache C315/21

E. Rechtssache C328/21

IV. Verfahren vor dem Gerichtshof

V. Würdigung

A. Zum gemeinsamen Merkblatt und zum persönlichen Gespräch

1. Zur Informationspflicht gemäß Art. 4 der DublinIII-Verordnung

a) Aufnahme- und Wiederaufnahmeverfahren im Dublin-System

b) Pflicht zur Information nach Art. 4 der DublinIII-Verordnung auch im Wiederaufnahmeverfahren

1) Wortlaut und Systematik von Art. 4 der DublinIII-Verordnung

2) Sinn und Zweck von Art. 4 der DublinIII-Verordnung

i) Relevanz der Informationen im gemeinsamen Merkblatt für Antragsteller im Wiederaufnahmeverfahren

– Zuständigkeitskriterien, die auch im Wiederaufnahmeverfahren noch zu berücksichtigen sind

– Allgemeine Informationen zum Dublin-System

ii) Praktische Aspekte

3) Pflicht zur Information, auch wenn im zweiten Mitgliedstaat kein neuer Antrag gestellt wird?

4) Zwischenergebnis

c) Folgen eines Verstoßes gegen die Informationspflicht nach Art. 4 der DublinIII-Verordnung im Wiederaufnahmeverfahren

1) Rügefähigkeit von Art. 4 der DublinIII-Verordnung im Rahmen einer Klage gegen eine Überstellungsentscheidung im Wiederaufnahmeverfahren

2) Folgen von Verstößen gegen Art. 4 der DublinIII-Verordnung für die Überstellungsentscheidung

3) Zwischenergebnis

2. Zur Informationspflicht gemäß Art. 29 der Eurodac-Verordnung

a) Pflicht zur Information nach Art. 29 der Eurodac-Verordnung auch im Wiederaufnahmeverfahren

b) Rügefähigkeit und Folgen eines Verstoßes gegen die Informationspflicht nach Art. 29 der Eurodac-Verordnung im Wiederaufnahmeverfahren

c) Zwischenergebnis

3. Zum persönlichen Gespräch gemäß Art. 5 der DublinIII-Verordnung

a) Pflicht zum Führen des persönlichen Gesprächs nach Art. 5 der DublinIII-Verordnung auch im Wiederaufnahmeverfahren

b) Folgen eines Verstoßes gegen die Pflicht zum persönlichen Gespräch nach Art. 5 der DublinIII-Verordnung im Wiederaufnahmeverfahren

1) Rügefähigkeit von Art. 5 der DublinIII-Verordnung im Rahmen einer Klage gegen eine Überstellungsentscheidung im Wiederaufnahmeverfahren

2) Folgen von Verstößen gegen Art. 5 der DublinIII-Verordnung für die Überstellungsentscheidung

i) Möglichkeit der Heilung im Gerichtsverfahren und Folgen des Vorbringens neuer relevanter Elemente

ii) Bestandskraft der Überstellungsentscheidung bei Nichtanfechtung

c) Zwischenergebnis

B. Zur indirekten Zurückweisung

1. Zu der Vermutung der Achtung der Grundrechte durch alle Mitgliedstaaten und den Bedingungen für ihre Widerlegung

2. Zur Ermessensklausel in Art. 17 Abs. 1 der DublinIII-Verordnung

3. Zwischenergebnis

VI. Ergebnis

I.      Einleitung

1.        Das Gemeinsame Europäische Asylsystem fußt auf dem Prinzip, dass ein Asylantrag, den ein Drittstaatsangehöriger oder Staatenloser in der Europäischen Union stellt, nur von einem einzigen Mitgliedstaat geprüft wird. Wie dieser Mitgliedstaat zu bestimmen ist, richtet sich dabei nach der Verordnung (EU) Nr. 604/2013 zur Festlegung der Kriterien und Verfahren zur Bestimmung des Mitgliedstaats, der für die Prüfung eines von einem Drittstaatsangehörigen oder Staatenlosen in einem Mitgliedstaat gestellten Antrags auf internationalen Schutz zuständig ist (im Folgenden: Dublin-III-Verordnung)(2).

2.        Um Sekundärmigration sowie divergierende Ergebnisse zu vermeiden, soll nach dieser Verordnung nicht nur die materielle Prüfung eines Asylantrags selbst, sondern auch das Verfahren zur Bestimmung des Mitgliedstaats, der für diese Prüfung zuständig ist (gemäß Art. 1 der Dublin‑III-Verordnung und im Folgenden: zuständiger Mitgliedstaat), nur von einem einzigen Mitgliedstaat durchgeführt werden.

3.        Der Dublin‑III-Verordnung liegt das Bestreben zugrunde, die Asylbewerber an diesem Verfahren zur Bestimmung des zuständigen Mitgliedstaats zu beteiligen(3). Hierfür sind sie mittels eines gemeinsamen Merkblatts, das die Kommission erstellt, über das Dublin-System, das Verfahren zur Bestimmung des zuständigen Mitgliedstaats sowie die Zuständigkeitskriterien zu unterrichten. Dieses Merkblatt soll es ihnen insbesondere erlauben, während des Verfahrens zur Bestimmung des zuständigen Mitgliedstaats Informationen mitzuteilen, die für diese Bestimmung relevant sind.

4.        Wie verhält es sich nun aber im Wiederaufnahmeverfahren, d. h. wenn ein Asylbewerber, nachdem er in einem ersten Mitgliedstaat einen Asylantrag gestellt hat, diesen Mitgliedstaat verlassen und in einem zweiten Mitgliedstaat einen neuen Asylantrag gestellt hat oder sich dort aufhält, woraufhin der zweite Mitgliedstaat den ersten ersucht, den Betroffenen wieder aufzunehmen? Muss das gemeinsame Merkblatt auch durch den zweiten Mitgliedstaat ausgegeben werden, obgleich die Bestimmung des zuständigen Mitgliedstaats allein durch den ersten Mitgliedstaat erfolgen soll bzw. dort gegebenenfalls schon erfolgt ist? Und falls die Pflicht zur Aushändigung des Merkblatts auch im Wiederaufnahmeverfahren besteht, was sind dann die Folgen ihrer Missachtung für die Rechtmäßigkeit der Entscheidung des zweiten Mitgliedstaats, den Betroffenen in den ersten zu überstellen?

5.        Diese Fragen, die von verschiedenen italienischen Gerichten unterschiedlich beantwortet werden, bilden den ersten Fragenkomplex in drei der vorliegenden fünf Vorabentscheidungsersuchen(4).

6.        Der zweite Fragenkomplex, den eines dieser drei Vorabentscheidungsersuchen sowie die beiden weiteren Ersuchen(5) aufwerfen, betrifft den Grundsatz des gegenseitigen Vertrauens und damit das Herzstück des Dublin-Systems. Er dreht sich um die Frage, ob die Gerichte des ersuchenden Mitgliedstaats im Rahmen der Überprüfung einer Überstellungsentscheidung prüfen können, ob im ersuchten Mitgliedstaat die Gefahr eines Verstoßes gegen den Grundsatz der Nichtzurückweisung („principe de non-refoulement“) besteht, wenn in diesem Mitgliedstaat keine systemischen Mängel vorliegen, die Zweifel an der Rechtmäßigkeit des Asyl- und Gerichtssystems rechtfertigen würden.

II.    Rechtlicher Rahmen

A.      Unionsrecht

1.      DublinIII-Verordnung

7.        Die Dublin-III-Verordnung(6) legt die Kriterien und Verfahren zur Bestimmung des Mitgliedstaats fest, der für die Prüfung eines von einem Drittstaatsangehörigen oder Staatenlosen in einem Mitgliedstaat gestellten Antrags auf internationalen Schutz zuständig ist.

8.        Die Erwägungsgründe 3 bis 5, 14 bis 19 und 32 der Dublin-III-Verordnung lesen sich wie folgt:

„(3) Der Europäische Rat ist […] übereingekommen, auf ein [Gemeinsames Europäisches Asylsystem (GEAS)] hinzuwirken, das sich auf die uneingeschränkte und umfassende Anwendung des Genfer Abkommens vom 28. Juli 1951 über die Rechtsstellung der Flüchtlinge in der Fassung des New Yorker Protokolls vom 31. Januar 1967 […] stützt, damit der Grundsatz der Nichtzurückweisung gewahrt bleibt und niemand dorthin zurückgeschickt wird, wo er Verfolgung ausgesetzt ist. In dieser Hinsicht gelten unbeschadet der in dieser Verordnung festgelegten Zuständigkeitskriterien die Mitgliedstaaten, die alle den Grundsatz der Nichtzurückweisung achten, als sichere Staaten für Drittstaatsangehörige.

(4) Entsprechend den Schlussfolgerungen von Tampere sollte das GEAS auf kurze Sicht eine klare und praktikable Formel für die Bestimmung des für die Prüfung eines Asylantrags zuständigen Mitgliedstaats umfassen.

(5) Eine solche Formel sollte auf objektiven und für die Mitgliedstaaten und die Betroffenen gerechten Kriterien basieren. Sie sollte insbesondere eine rasche Bestimmung des zuständigen Mitgliedstaats ermöglichen, um den effektiven Zugang zu den Verfahren zur Gewährung des internationalen Schutzes zu gewährleisten und das Ziel einer zügigen Bearbeitung der Anträge auf internationalen Schutz nicht zu gefährden.

[…]

(14) Im Einklang mit der Europäischen Konvention zum Schutze der Menschenrechte und Grundfreiheiten und mit der Charta der Grundrechte der Europäischen Union sollte die Achtung des Familienlebens eine vorrangige Erwägung der Mitgliedstaaten sein, wenn sie diese Verordnung anwenden.

(15) Mit der gemeinsamen Bearbeitung der von den Mitgliedern einer Familie gestellten Anträge auf internationalen Schutz durch ein und denselben Mitgliedstaat kann sichergestellt werden, dass die Anträge sorgfältig geprüft werden, diesbezügliche Entscheidungen kohärent sind und dass die Mitglieder einer Familie nicht voneinander getrennt werden.

(16) Um die uneingeschränkte Achtung des Grundsatzes der Einheit der Familie und des Wohls des Kindes zu gewährleisten, sollte ein zwischen einem Antragsteller und seinem Kind, einem seiner Geschwister oder einem Elternteil bestehendes Abhängigkeitsverhältnis, das durch Schwangerschaft oder Mutterschaft, durch den Gesundheitszustand oder hohes Alter des Antragstellers begründet ist, als ein verbindliches Zuständigkeitskriterium herangezogen werden. Handelt es sich bei dem Antragsteller um einen unbegleiteten Minderjährigen, der einen Familienangehörigen oder Verwandten in einem anderen Mitgliedstaat hat, der für ihn sorgen kann, so sollte dieser Umstand ebenfalls als ein verbindliches Zuständigkeitskriterium gelten.

(17) Die Mitgliedstaaten sollten insbesondere aus humanitären Gründen oder in Härtefällen von den Zuständigkeitskriterien abweichen können, um Familienangehörige, Verwandte oder Personen jeder anderen verwandtschaftlichen Beziehung zusammenzuführen und einen bei ihm oder einem anderen Mitgliedstaat gestellten Antrag auf internationalen Schutz zu prüfen, auch wenn sie für eine solche Prüfung nach den in dieser Verordnung festgelegten verbindlichen Zuständigkeitskriterien nicht zuständig sind.

(18) Um die Bestimmung des für die Prüfung eines Antrags auf internationalen Schutz zuständigen Mitgliedstaats zu erleichtern, sollte ein persönliches Gespräch mit dem Antragsteller geführt werden. Der Antragsteller sollte unmittelbar bei der Stellung des Antrags auf internationalen Schutz über die Anwendung dieser Verordnung und über die Möglichkeit informiert werden, bei dem Gespräch Angaben über die Anwesenheit von Familienangehörigen, Verwandten oder Personen jeder anderen verwandtschaftlichen Beziehung in den Mitgliedstaaten zu machen, um das Verfahren zur Bestimmung des zuständigen Mitgliedstaats zu erleichtern.

(19) Um einen wirksamen Schutz der Rechte der Betroffenen zu gewährleisten, sollten im Einklang insbesondere mit Artikel 47 der Charta der Grundrechte der Europäischen Union Rechtsgarantien und das Recht auf einen wirksamen Rechtsbehelf gegen Überstellungsentscheidungen festgeschrieben werden. Um die Einhaltung des Völkerrechts sicherzustellen, sollte ein wirksamer Rechtsbehelf gegen diese Entscheidungen sowohl die Prüfung der Anwendung dieser Verordnung als auch die Prüfung der Rechts- und Sachlage in dem Mitgliedstaat umfassen, in den der Antragsteller überstellt wird.

[…]

(32) In Bezug auf die Behandlung von Personen, die unter diese Verordnung fallen, sind die Mitgliedstaaten an ihre Verpflichtungen aus den völkerrechtlichen Instrumenten einschließlich der einschlägigen Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte gebunden.“

9.        Art. 1 der Dublin-III-Verordnung erläutert deren Gegenstand:

„Diese Verordnung legt die Kriterien und Verfahren fest, die bei der Bestimmung des Mitgliedstaats, der für die Prüfung eines von einem Drittstaatsangehörigen oder Staatenlosen in einem Mitgliedstaat gestellten Antrags auf internationalen Schutz zuständig ist, zur Anwendung gelangen (im Folgenden ‚zuständiger Mitgliedstaat‘).“

10.      Art. 2 der Dublin‑III-Verordnung enthält „Definitionen“ und sein Buchst. b definiert einen „Antrag auf internationalen Schutz“ als einen „Antrag auf internationalen Schutz im Sinne des Artikels 2 Buchstabe h der Richtlinie 2011/95/EU“.

11.      Art. 3 der Dublin-III-Verordnung ist mit „Verfahren zur Prüfung eines Antrags auf internationalen Schutz“ überschrieben und lautet wie folgt:

„(1) Die Mitgliedstaaten prüfen jeden Antrag auf internationalen Schutz, den ein Drittstaatsangehöriger oder Staatenloser im Hoheitsgebiet eines Mitgliedstaats einschließlich an der Grenze oder in den Transitzonen stellt. Der Antrag wird von einem einzigen Mitgliedstaat geprüft, der nach den Kriterien des Kapitels III als zuständiger Staat bestimmt wird.

(2) Lässt sich anhand der Kriterien dieser Verordnung der zuständige Mitgliedstaat nicht bestimmen, so ist der erste Mitgliedstaat, in dem der Antrag auf internationalen Schutz gestellt wurde, für dessen Prüfung zuständig.

Erweist es sich als unmöglich, einen Antragsteller an den zunächst als zuständig bestimmten Mitgliedstaat zu überstellen, da es wesentliche Gründe für die Annahme gibt, dass das Asylverfahren und die Aufnahmebedingungen für Antragsteller in diesem Mitgliedstaat systemische Schwachstellen aufweisen, die eine Gefahr einer unmenschlichen oder entwürdigenden Behandlung im Sinne des Artikels 4 der Charta der Grundrechte mit sich bringen, so setzt der die Zuständigkeit prüfende Mitgliedstaat die Prüfung der in Kapitel III vorgesehenen Kriterien fort, um festzustellen, ob ein anderer Mitgliedstaat als zuständig bestimmt werden kann.

Kann keine Überstellung gemäß diesem Absatz an einen aufgrund der Kriterien des Kapitels III bestimmten Mitgliedstaat oder an den ersten Mitgliedstaat, in dem der Antrag gestellt wurde, vorgenommen werden, so wird der die Zuständigkeit prüfende Mitgliedstaat der zuständige Mitgliedstaat.

(3) Jeder Mitgliedstaat behält das Recht, einen Antragsteller nach Maßgabe der Bestimmungen und Schutzgarantien der Richtlinie 32/2013/EU in einen sicheren Drittstaat zurück- oder auszuweisen.“

12.      Art. 4 der Dublin-III-Verordnung trägt die Überschrift „Recht auf Information“ und bestimmt:

„(1) Sobald ein Antrag auf internationalen Schutz im Sinne des Artikels 20 Absatz 2 in einem Mitgliedstaat gestellt wird, unterrichten seine zuständigen Behörden den Antragsteller über die Anwendung dieser Verordnung und insbesondere über folgende Aspekte:

a)      die Ziele dieser Verordnung und die Folgen einer weiteren Antragstellung in einem anderen Mitgliedstaat sowie die Folgen eines Umzugs in einen anderen Mitgliedstaat während die Schritte, in welchen der nach dieser Verordnung zuständige Mitgliedstaat bestimmt wird und der Antrag auf internationalen Schutz geprüft wird;

b)      die Kriterien für die Bestimmung des zuständigen Mitgliedstaats, die Rangfolge derartiger Kriterien in den einzelnen Schritten des Verfahrens und ihre Dauer einschließlich der Tatsache, dass ein in einem Mitgliedstaat gestellter Antrag auf internationalen Schutz dazu führen kann, dass dieser Mitgliedstaat nach dieser Verordnung zuständig wird, selbst wenn diese Zuständigkeit nicht auf derartigen Kriterien beruht;

c)      das persönliche Gespräch gemäß Artikel 5 und die Möglichkeit, Angaben über die Anwesenheit von Familienangehörigen, Verwandten oder Personen jeder anderen verwandtschaftlichen Beziehung in den Mitgliedstaaten zu machen, einschließlich der Mittel, mit denen der Antragsteller diese Angaben machen kann;

d)      die Möglichkeit zur Einlegung eines Rechtsbehelfs gegen eine Überstellungsentscheidung und gegebenenfalls zur Beantragung einer Aussetzung der Überstellung;

e)      den Umstand, dass die zuständigen Behörden der Mitgliedstaaten ihn betreffende Daten allein zur Erfüllung ihrer Verpflichtungen aus dieser Verordnung austauschen dürfen;

f)      das Auskunftsrecht bezüglich ihn betreffender Daten und das Recht zu beantragen, dass solche Daten berichtigt werden, sofern sie unrichtig sind, oder gelöscht werden, sofern sie unrechtmäßig verarbeitet wurden, sowie die Verfahren zur Ausübung dieser Rechte einschließlich der Kontaktangaben der Behörden im Sinne des Artikels 35 und der nationalen Datenschutzbehörden, die für die Entgegennahme von Beschwerden über den Schutz personenbezogener Daten zuständig sind.

(2) Die Informationen nach Absatz 1 werden schriftlich in einer Sprache mitgeteilt, die der Antragsteller versteht oder von der vernünftigerweise angenommen werden darf, dass der Antragsteller sie versteht. Die Mitgliedstaaten verwenden hierzu das zu diesem Zweck gemäß Absatz 3 erstellte gemeinsame Merkblatt.

Wenn dies für das richtige Verständnis des Antragstellers notwendig ist, werden die Informationen auch mündlich, beispielsweise bei dem Gespräch nach Artikel 5, erteilt.

(3) Die Kommission erstellt im Wege von Durchführungsrechtsakten ein gemeinsames Merkblatt sowie ein spezielles Merkblatt für unbegleitete Minderjährige, das mindestens die Angaben in Absatz 1 dieses Artikels enthält. Dieses gemeinsame Merkblatt enthält außerdem Informationen über die Anwendung der Verordnung (EU) Nr. 603/2013 und insbesondere über den Zweck, zu dem die Daten eines Antragstellers in Eurodac verarbeitet werden dürfen. Das gemeinsame Merkblatt wird so gestaltet, dass es die Mitgliedstaaten mit zusätzlichen mitgliedstaatsspezifischen Informationen ergänzen können. Diese Durchführungsrechtsakte werden gemäß dem in Artikel 44 Absatz 2 dieser Verordnung genannten Prüfverfahren erlassen.“

13.      Art. 5 der Dublin-III-Verordnung sieht vor, dass der die Zuständigkeit prüfende Mitgliedstaat ein persönliches Gespräch mit dem Antragsteller führt, um das Verfahren zur Bestimmung des zuständigen Mitgliedstaats zu erleichtern, und regelt die Modalitäten dieses Gesprächs. Abs. 1 dieser Bestimmung lautet:

„(1) Um das Verfahren zur Bestimmung des zuständigen Mitgliedstaats zu erleichtern, führt der die Zuständigkeit prüfende Mitgliedstaat ein persönliches Gespräch mit dem Antragsteller. Dieses Gespräch soll auch das richtige Verständnis der dem Antragsteller gemäß Artikel 4 bereitgestellten Informationen ermöglichen.“

14.      Art. 7 der Dublin-III-Verordnung, der sich in Kapitel III dieser Verordnung („Kriterien zur Bestimmung des zuständigen Mitgliedstaates“) befindet, ist mit „Rangfolge der Kriterien“ überschrieben und seine Abs. 1 und 3 besagen:

„(1) Die Kriterien zur Bestimmung des zuständigen Mitgliedstaats finden in der in diesem Kapitel genannten Rangfolge Anwendung.

[…]

(3) Im Hinblick auf die Anwendung der in den Artikeln 8, 10 und[ 1]6 genannten Kriterien berücksichtigen die Mitgliedstaaten alle vorliegenden Indizien für den Aufenthalt von Familienangehörigen, Verwandten oder Personen jeder anderen verwandtschaftlichen Beziehung des Antragstellers im Hoheitsgebiet eines Mitgliedstaats, sofern diese Indizien vorgelegt werden, bevor ein anderer Mitgliedstaat dem Gesuch um Aufnahme- oder Wiederaufnahme der betreffenden Person gemäß den Artikeln 22 und 25 stattgegeben hat, und sofern über frühere Anträge des Antragstellers auf internationalen Schutz noch keine Erstentscheidung in der Sache ergangen ist.“

15.      Die Art. 8 bis 10 sowie 16 der Dublin‑III-Verordnung regeln die Bestimmung des zuständigen Mitgliedstaats in Fällen, insbesondere betreffend Minderjährige oder abhängige Personen, in denen sich Familienangehörige von Antragstellern schon in einem Mitgliedstaat befinden.

16.      Art. 17 der Dublin-III-Verordnung trägt die Überschrift „Ermessensklauseln“ und sein Abs. 1 Unterabs. 1 bestimmt:

„(1) Abweichend von Artikel 3 Absatz 1 kann jeder Mitgliedstaat beschließen, einen bei ihm von einem Drittstaatsangehörigen oder Staatenlosen gestellten Antrag auf internationalen Schutz zu prüfen, auch wenn er nach den in dieser Verordnung festgelegten Kriterien nicht für die Prüfung zuständig ist.“

17.      Art. 18 der Dublin-III-Verordnung ist mit „Pflichten des zuständigen Mitgliedstaats“ überschrieben und sieht Folgendes vor:

„(1) Der nach dieser Verordnung zuständige Mitgliedstaat ist verpflichtet:

a)      einen Antragsteller, der in einem anderen Mitgliedstaat einen Antrag gestellt hat, nach Maßgabe der Artikel 21, 22 und 29 aufzunehmen;

b)      einen Antragsteller, der während der Prüfung seines Antrags in einem anderen Mitgliedstaat einen Antrag gestellt hat oder der sich im Hoheitsgebiet eines anderen Mitgliedstaats ohne Aufenthaltstitel aufhält, nach Maßgabe der Artikel 23, 24, 25 und 29 wieder aufzunehmen;

c)      einen Drittstaatsangehörigen oder einen Staatenlosen, der seinen Antrag während der Antragsprüfung zurückgezogen und in einem anderen Mitgliedstaat einen Antrag gestellt hat oder der sich ohne Aufenthaltstitel im Hoheitsgebiet eines anderen Mitgliedstaats aufhält, nach Maßgabe der Artikel 23, 24, 25 und 29 wieder aufzunehmen;

d)      einen Drittstaatsangehörigen oder Staatenlosen, dessen Antrag abgelehnt wurde und der in einem anderen Mitgliedstaat einen Antrag gestellt hat oder der sich im Hoheitsgebiet eines anderen Mitgliedstaats ohne Aufenthaltstitel aufhält, nach Maßgabe der Artikel 23, 24, 25 und 29 wieder aufzunehmen.

(2) Der zuständige Mitgliedstaat prüft in allen dem Anwendungsbereich des Absatzes 1 Buchstaben a und b unterliegenden Fällen den gestellten Antrag auf internationalen Schutz oder schließt seine Prüfung ab.

[…]

In den in den Anwendungsbereich des Absatzes 1 Buchstabe d fallenden Fällen, in denen der Antrag nur in erster Instanz abgelehnt worden ist, stellt der zuständige Mitgliedstaat sicher, dass die betreffende Person die Möglichkeit hat oder hatte, einen wirksamen Rechtsbehelf gemäß Artikel 46 der Richtlinie 2013/32/EU einzulegen.“

18.      Art. 19 der Dublin‑III-Verordnung trägt die Überschrift „Übertragung der Zuständigkeit“ und liest sich wie folgt:

„(1) Erteilt ein Mitgliedstaat dem Antragsteller einen Aufenthaltstitel, so obliegen diesem Mitgliedstaat die Pflichten nach Artikel 18 Absatz 1.

(2) Die Pflichten nach Artikel 18 Absatz 1 erlöschen, wenn der zuständige Mitgliedstaat nachweisen kann, dass der Antragsteller oder eine andere Person im Sinne von Artikel 18 Absatz 1 Buchstabe c oder d, um dessen/deren Aufnahme oder Wiederaufnahme er ersucht wurde, das Hoheitsgebiet der Mitgliedstaaten für mindestens drei Monate verlassen hat, es sei denn, die betreffende Person ist im Besitz eines vom zuständigen Mitgliedstaat ausgestellten gültigen Aufenthaltstitels.

Ein nach der Periode der Abwesenheit im Sinne des Unterabsatzes 1 gestellter Antrag gilt als neuer Antrag, der ein neues Verfahren zur Bestimmung des zuständigen Mitgliedstaats auslöst.

(3) Die Pflichten nach Artikel 18 Absatz 1 Buchstaben c und d erlöschen, wenn der zuständige Mitgliedstaat nachweisen kann, dass der Antragsteller oder eine andere Person im Sinne von Artikel 18 Absatz 1 Buchstabe c oder d, um dessen/deren Wiederaufnahme er ersucht wurde, nach Rücknahme oder Ablehnung des Antrags das Hoheitsgebiet der Mitgliedstaaten auf der Grundlage eines Rückführungsbeschlusses oder einer Abschiebungsanordnung verlassen hat.

Ein nach einer vollzogenen Abschiebung gestellter Antrag gilt als neuer Antrag, der ein neues Verfahren zur Bestimmung des zuständigen Mitgliedstaats auslöst.“

19.      Kapitel VI der Dublin-III-Verordnung („Aufnahme- und Wiederaufnahmeverfahren“) regelt die Einleitung des Verfahrens zur Bestimmung des zuständigen Mitgliedstaats (Abschnitt I), das Aufnahmeverfahren für den Fall, dass ein Mitgliedstaat, in dem ein Antrag auf internationalen Schutz gestellt wurde, einen anderen Mitgliedstaat für die Prüfung des Antrags für zuständig hält (Abschnitt II), sowie das Wiederaufnahmeverfahren für den Fall, dass ein Mitgliedstaat, in dem eine Person, die vorher schon in einem anderen Mitgliedstaat einen Antrag auf internationalen Schutz gestellt hatte, einen neuen Antrag stellt oder sich ohne Aufenthaltstitel aufhält, diesen anderen Mitgliedstaat ersucht, den Betroffenen wieder aufzunehmen (Abschnitt III).

20.      Art. 20 der Dublin-III-Verordnung trägt die Überschrift „Einleitung des Verfahrens“, befindet sich im gleichnamigen Abschnitt I des Kapitels VI, und seine Abs. 1, 2 und 5 Unterabs. 1 bestimmen:

„(1) Das Verfahren zur Bestimmung des zuständigen Mitgliedstaats wird eingeleitet, sobald in einem Mitgliedstaat erstmals ein Antrag auf internationalen Schutz gestellt wird.

(2) Ein Antrag auf internationalen Schutz gilt als gestellt, wenn den zuständigen Behörden des betreffenden Mitgliedstaats ein vom Antragsteller eingereichtes Formblatt oder ein behördliches Protokoll zugegangen ist. Bei einem nicht in schriftlicher Form gestellten Antrag sollte die Frist zwischen der Abgabe der Willenserklärung und der Erstellung eines Protokolls so kurz wie möglich sein.

[…]

(5) Der Mitgliedstaat, bei dem der erste Antrag auf internationalen Schutz gestellt wurde, ist gehalten, einen Antragsteller, der sich ohne Aufenthaltstitel im Hoheitsgebiet eines anderen Mitgliedstaats aufhält oder dort einen Antrag auf internationalen Schutz gestellt hat, nachdem er seinen ersten Antrag noch während des Verfahrens zur Bestimmung des zuständigen Mitgliedstaats zurückgezogen hat, nach den Bestimmungen der Artikel 23, 24, 25 und 29 wieder aufzunehmen, um das Verfahren zur Bestimmung des zuständigen Mitgliedstaats zum Abschluss zu bringen.“

21.      Art. 21 der Dublin-III-Verordnung gehört zum Abschnitt II („Aufnahmeverfahren“) von deren Kapitel VI, ist überschrieben mit „Aufnahmegesuch“ und sieht in seinem Abs. 1 Folgendes vor:

„(1) Hält der Mitgliedstaat, in dem ein Antrag auf internationalen Schutz gestellt wurde, einen anderen Mitgliedstaat für die Prüfung des Antrags für zuständig, so kann er so bald wie möglich, auf jeden Fall aber innerhalb von drei Monaten nach Antragstellung im Sinne von Artikel 20 Absatz 2, diesen anderen Mitgliedstaat ersuchen, den Antragsteller aufzunehmen.

Abweichend von Unterabsatz 1 wird im Fall einer Eurodac-Treffermeldung im Zusammenhang mit Daten gemäß Artikel 14 der Verordnung (EU) Nr. 603/2013 dieses Gesuch innerhalb von zwei Monaten nach Erhalt der Treffermeldung gemäß Artikel 15 Absatz 2 jener Verordnung gestellt.

Wird das Gesuch um Aufnahme eines Antragstellers nicht innerhalb der in Unterabsätzen 1 und 2 niedergelegten Frist unterbreitet, so ist der Mitgliedstaat, in dem der Antrag auf internationalen Schutz gestellt wurde, für die Prüfung des Antrags zuständig.“

22.      Art. 23 („Wiederaufnahmegesuch bei erneuter Antragstellung im ersuchenden Mitgliedstaat“), 24 („Wiederaufnahmegesuch, wenn im ersuchenden Mitgliedstaat kein neuer Antrag gestellt wurde“) und 25 („Antwort auf ein Wiederaufnahmegesuch“) der Dublin-III-Verordnung befinden sich in Abschnitt III („Wiederaufnahmeverfahren“) von Kapitel VI und bestimmen auszugsweise:

„Art. 23

(1) Ist ein Mitgliedstaat, in dem eine Person im Sinne des Artikels 18 Absatz 1 Buchstaben b, c oder d einen neuen Antrag auf internationalen Schutz gestellt hat, der Auffassung, dass nach Artikel 20 Absatz 5 und Artikel 18 Absatz 1 Buchstaben b, c oder d ein anderer Mitgliedstaat für die Prüfung des Antrags zuständig ist, so kann er den anderen Mitgliedstaat ersuchen, die Person wieder aufzunehmen.

[…]

(3) Erfolgt das Wiederaufnahmegesuch nicht innerhalb der in Absatz 2 festgesetzten Frist, so ist der Mitgliedstaat für die Prüfung des Antrags auf internationalen Schutz zuständig, in dem der neue Antrag gestellt wurde.

Art. 24

(1) Ist ein Mitgliedstaat, in dessen Hoheitsgebiet sich eine Person im Sinne des Artikels 18 Absatz 1 Buchstaben b, c oder d ohne Aufenthaltstitel aufhält und bei dem kein neuer Antrag auf internationalen Schutz gestellt wurde, der Auffassung, dass ein anderer Mitgliedstaat gemäß Artikel 20 Absatz 5 und Artikel 18 Absatz 1 Buchstaben b, c oder d zuständig ist, so kann er den anderen Mitgliedstaat ersuchen, die Person wieder aufzunehmen.

Art. 25

(1) Der ersuchte Mitgliedstaat nimmt die erforderlichen Überprüfungen vor und entscheidet über das Gesuch um Wiederaufnahme der betreffenden Person so rasch wie möglich […]“

23.      Art. 26 der Dublin-III-Verordnung trägt die Überschrift „Zustellung der Überstellungsentscheidung“ und liest sich wie folgt:

„(1) Stimmt der ersuchte Mitgliedstaat der Aufnahme oder Wiederaufnahme eines Antragstellers oder einer anderen Person im Sinne von Artikel 18 Absatz 1 Buchstabe c oder d zu, setzt der ersuchende Mitgliedstaat die betreffende Person von der Entscheidung in Kenntnis, sie in den zuständigen Mitgliedstaat zu überstellen, sowie gegebenenfalls von der Entscheidung, ihren Antrag auf internationalen Schutz nicht zu prüfen. Wird die betreffende Person durch einen Rechtsbeistand oder einen anderen Berater vertreten, so können die Mitgliedstaaten sich dafür entscheiden, die Entscheidung diesem Rechtsbeistand oder Berater anstelle der betreffenden Person zuzustellen und die Entscheidung gegebenenfalls der betroffenen Person mitzuteilen.

(2) Die Entscheidung nach Absatz 1 enthält eine Rechtsbehelfsbelehrung, einschließlich des Rechts, falls erforderlich, aufschiebende Wirkung zu beantragen, und der Fristen für die Einlegung eines Rechtsbehelfs sowie Informationen über die Frist für die Durchführung der Überstellung mit erforderlichenfalls Angaben über den Ort und den Zeitpunkt, an dem oder zu dem sich die betreffende Person zu melden hat, wenn diese Person sich auf eigene Initiative in den zuständigen Mitgliedstaat begibt.

Die Mitgliedstaaten stellen sicher, dass die betreffende Person zusammen mit der Entscheidung nach Absatz 1 Angaben zu Personen oder Einrichtungen erhält, die sie rechtlich beraten können, sofern diese Angaben nicht bereits mitgeteilt wurden.

(3) Wird die betreffende Person nicht durch einen Rechtsbeistand oder einen anderen Berater unterstützt oder vertreten, so informiert der Mitgliedstaat sie in einer Sprache, die sie versteht oder bei der vernünftigerweise angenommen werden kann, dass sie sie versteht, über die wesentlichen Elemente der Entscheidung, darunter stets über mögliche Rechtsbehelfe und die Fristen zur Einlegung solcher Rechtsbehelfe.“

24.      Art. 27 der Dublin-III-Verordnung ist mit „Rechtsmittel“ überschrieben, und sein Abs. 1 lautet:

„(1) Der Antragsteller oder eine andere Person im Sinne von Artikel 18 Absatz 1 Buchstabe c oder d hat das Recht auf ein wirksames Rechtsmittel gegen eine Überstellungsentscheidung in Form einer auf Sach- und Rechtsfragen gerichteten Überprüfung durch ein Gericht.“

25.      Art. 29 der Dublin‑III-Verordnung trägt die Überschrift „Modalitäten und Fristen“ und bestimmt in seinem Abs. 2:

„(2) Wird die Überstellung nicht innerhalb der Frist von sechs Monaten durchgeführt, ist der zuständige Mitgliedstaat nicht mehr zur Aufnahme oder Wiederaufnahme der betreffenden Person verpflichtet und die Zuständigkeit geht auf den ersuchenden Mitgliedstaat über. Diese Frist kann höchstens auf ein Jahr verlängert werden, wenn die Überstellung aufgrund der Inhaftierung der betreffenden Person nicht erfolgen konnte, oder höchstens auf achtzehn Monate, wenn die betreffende Person flüchtig ist.“

2.      Eurodac-Verordnung

26.      Die Verordnung (EU) Nr. 603/2013 (im Folgenden: Eurodac-Verordnung)(7) regelt die Einrichtung einer Datenbank für den Abgleich von Fingerabdruckdaten zum Zwecke der effektiven Anwendung der Dublin-III-Verordnung.

27.      Art. 9 Abs. 1 Unterabs. 1 der Eurodac-Verordnung sieht Folgendes vor:

„(1) Jeder Mitgliedstaat nimmt jeder Person, die internationalen Schutz beantragt und mindestens 14 Jahre alt ist, umgehend den Abdruck aller Finger ab und übermittelt die Fingerabdruckdaten zusammen mit den in Artikel 11 Buchstaben b bis g der vorliegenden Verordnung aufgeführten Daten so bald wie möglich, spätestens aber 72 Stunden nach Antragstellung gemäß Artikel 20 Absatz 2 der Verordnung (EU) Nr. 604/2013 an das Zentralsystem.“

28.      Art. 17 Abs. 1 Unterabs. 1 der Eurodac-Verordnung bestimmt:

„(1) Um zu überprüfen, ob ein Drittstaatsangehöriger oder Staatenloser, der sich illegal im Hoheitsgebiet eines Mitgliedstaats aufhält, zu einem früheren Zeitpunkt einen Antrag auf internationalen Schutz in einem anderen Mitgliedstaat gestellt hat, kann ein Mitgliedstaat dem Zentralsystem die Fingerabdruckdaten, die er einem solchen mindestens 14 Jahre alten Drittstaatsangehörigen oder Staatenlosen gegebenenfalls abgenommen hat, zusammen mit der von diesem Mitgliedstaat verwendeten Kennnummer übermitteln.“

29.      Art. 29 der Eurodac-Verordnung betrifft die Rechte der von der Datenverarbeitung betroffenen Personen. Art. 29 Abs. 1 und 2 der Eurodac-Verordnung legt fest, dass diesen Personen bestimmte Informationen über den Zweck und die Modalitäten der Fingerabdrucknahme mitgeteilt werden, und sein Abs. 3 sieht vor, dass hierfür ein gemeinsames Merkblatt zu erstellen ist:

„(1) Der Herkunftsmitgliedstaat unterrichtet die unter Artikel 9 Absatz 1, Artikel 14 Absatz 1 oder Artikel 17 Absatz 1 fallenden Personen schriftlich, falls notwendig auch mündlich, in einer Sprache, die sie verstehen oder bei der vernünftigerweise davon ausgegangen werden kann, dass sie sie verstehen, über:

[…]

b)      den mit der Verarbeitung ihrer Daten in Eurodac verfolgten Zweck, einschließlich einer Beschreibung der Ziele der [Dublin-III-Verordnung] im Einklang mit Artikel 4 der [Dublin-III-Verordnung], sowie in verständlicher Form in einer klaren und einfachen Sprache darüber, dass die Mitgliedstaaten und Europol zu Gefahrenabwehr- und Strafverfolgungszwecken Zugang zu Eurodac haben;

[…]

(2) […]

Die in Absatz 1 des vorliegenden Artikels genannten Informationen werden Personen im Sinne des Artikels 17 Absatz 1 spätestens zum Zeitpunkt der Übermittlung der sie betreffenden Daten an das Zentralsystem erteilt. […]

(3) Nach dem Verfahren gemäß Artikel 44 Absatz 2 der [Dublin-III-Verordnung] wird ein gemeinsames Merkblatt erstellt, das mindestens die Angaben gemäß Absatz 1 des vorliegenden Artikels und gemäß Artikel 4 Absatz 1 der [Dublin-III-Verordnung] enthält.

Das Merkblatt muss klar und einfach in einer Sprache abgefasst sein, die die betroffene Person versteht oder bei der vernünftigerweise davon ausgegangen werden kann, dass sie sie versteht.

Das Merkblatt wird so gestaltet, dass es die Mitgliedstaaten mit zusätzlichen mitgliedstaatsspezifischen Informationen ergänzen können. Diese mitgliedstaatsspezifischen Informationen müssen mindestens Angaben über die Rechte der betreffenden Person und die Möglichkeit einer Unterstützung durch die nationalen Kontrollbehörden sowie die Kontaktdaten des für die Datenverarbeitung Verantwortlichen und der nationalen Kontrollbehörden enthalten.“

30.      Art. 37 der Eurodac-Verordnung ist mit „Haftung“ überschrieben und sieht in seinen Abs. 1 und 3 Folgendes vor:

„(1) Jede Person oder jeder Mitgliedstaat, der oder dem durch eine rechtswidrige Verarbeitung oder durch eine andere Handlung, die dieser Verordnung zuwiderläuft, ein Schaden entstanden ist, hat das Recht, von dem für den erlittenen Schaden verantwortlichen Mitgliedstaat Schadenersatz zu verlangen. Dieser Mitgliedstaat wird teilweise oder vollständig von seiner Haftung befreit, wenn er nachweist, dass er für den Umstand, durch den der Schaden eingetreten ist, nicht verantwortlich ist.

[…]

(3) Die Durchsetzung von Schadenersatzansprüchen nach den Absätzen 1 und 2 gegen einen Mitgliedstaat unterliegt den nationalen Rechtsvorschriften des beklagten Mitgliedstaats.“

3.      Qualifikationsrichtlinie

31.      Die Richtlinie 2011/95/EU des Europäischen Parlaments und des Rates vom 13. Dezember 2011 über Normen für die Anerkennung von Drittstaatsangehörigen oder Staatenlosen als Personen mit Anspruch auf internationalen Schutz, für einen einheitlichen Status für Flüchtlinge oder für Personen mit Anrecht auf subsidiären Schutz und für den Inhalt des zu gewährenden Schutzes (im Folgenden: Qualifikationsrichtlinie)(8) regelt die Kriterien, nach welchen einem Antrag auf internationalen Schutz stattzugeben ist.

32.      Art. 2 der Qualifikationsrichtlinie enthält „Begriffsbestimmungen“, und sein Buchst. h definiert einen „Antrag auf internationalen Schutz“ als „das Ersuchen eines Drittstaatsangehörigen oder Staatenlosen um Schutz durch einen Mitgliedstaat, wenn davon ausgegangen werden kann, dass der Antragsteller die Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft oder die Gewährung des subsidiären Schutzstatus anstrebt, und wenn er nicht ausdrücklich um eine andere, gesondert zu beantragende Form des Schutzes außerhalb des Anwendungsbereichs dieser Richtlinie ersucht“.

33.      In ihrem Art. 8 sieht die Qualifikationsrichtlinie unter der Überschrift „Interner Schutz“ Ausnahmen vom Bedürfnis internationalen Schutzes für den Fall vor, dass der Antragsteller in einem Teil seines Herkunftslands Schutz suchen kann:

„(1) Bei der Prüfung des Antrags auf internationalen Schutz können die Mitgliedstaaten feststellen, dass ein Antragsteller keinen internationalen Schutz benötigt, sofern er in einem Teil seines Herkunftslandes

a)      keine begründete Furcht vor Verfolgung hat oder keine tatsächliche Gefahr, einen ernsthaften Schaden zu erleiden, besteht oder

b)      Zugang zu Schutz vor Verfolgung oder ernsthaftem Schaden gemäß Artikel 7 hat,

und er sicher und legal in diesen Landesteil reisen kann, dort aufgenommen wird und vernünftigerweise erwartet werden kann, dass er sich dort niederlässt.

(2) Bei Prüfung der Frage, ob ein Antragsteller begründete Furcht vor Verfolgung hat oder die tatsächliche Gefahr, einen ernsthaften Schaden zu erleiden, besteht oder Zugang zu Schutz vor Verfolgung oder ernsthaftem Schaden in einem Teil seines Herkunftslandes gemäß Absatz 1 in Anspruch nehmen kann, berücksichtigen die Mitgliedstaaten zum Zeitpunkt der Entscheidung über den Antrag die dortigen allgemeinen Gegebenheiten und die persönlichen Umstände des Antragstellers gemäß Artikel 4. Zu diesem Zweck stellen die Mitgliedstaaten sicher, dass genaue und aktuelle Informationen aus relevanten Quellen, wie etwa Informationen des Hohen Kommissars der Vereinten Nationen für Flüchtlinge oder des Europäischen Unterstützungsbüros für Asylfragen, eingeholt werden.“

34.      In ihrem Kapitel V sieht die Qualifikationsrichtlinie als Voraussetzung für subsidiären Schutz die Gefahr eines „ernsthaften Schadens“ vor. Als solcher gilt gemäß Art. 15 Buchst. c:

„c) eine ernsthafte individuelle Bedrohung des Lebens oder der Unversehrtheit einer Zivilperson infolge willkürlicher Gewalt im Rahmen eines internationalen oder innerstaatlichen bewaffneten Konflikts“.

4.      Asylverfahrensrichtlinie

35.      Art. 33 der Richtlinie 2013/32/EU des Europäischen Parlaments und des Rates vom 26. Juni 2013 zu gemeinsamen Verfahren für die Zuerkennung und Aberkennung des internationalen Schutzes (im Folgenden: Asylverfahrensrichtlinie)(9) ist mit „Unzulässige Anträge“ überschrieben, und sein Abs. 1 sowie sein Abs. 2 Buchst. a sehen Folgendes vor:

„(1) Zusätzlich zu den Fällen, in denen nach Maßgabe der Verordnung (EU) Nr. 604/2013 ein Antrag nicht geprüft wird, müssen die Mitgliedstaaten nicht prüfen, ob dem Antragsteller der internationale Schutz im Sinne der Richtlinie 2011/95/EU zuzuerkennen ist, wenn ein Antrag auf der Grundlage des vorliegenden Artikels als unzulässig betrachtet wird.

(2) Die Mitgliedstaaten können einen Antrag auf internationalen Schutz nur dann als unzulässig betrachten, wenn

a)       ein anderer Mitgliedstaat internationalen Schutz gewährt hat“.

5.      Verordnung Nr. 1560/2003

36.      Art. 16a der Verordnung (EG) Nr. 1560/2003(10), der Durchführungsverordnung der Kommission zum Dublin-System, in ihrer durch die Dublin-III-Verordnung sowie die Durchführungsverordnung (EU) Nr. 118/2014(11) geänderten Fassung, trägt die Überschrift „Informationsmerkblätter für Personen, die internationalen Schutz beantragen“, und seine Abs. 1 und 4 bestimmen:

„(1) Anhang X enthält ein gemeinsames Merkblatt, mit dem alle Personen, die internationalen Schutz beantragen, über die Bestimmungen der [Dublin-III-Verordnung] und die Anwendung der [Eurodac-Verordnung] informiert werden.

[…]

(4) Anhang XIII enthält Informationen für Drittstaatsangehörige oder Staatenlose, die sich illegal in einem Mitgliedstaat aufhalten.“

37.      Das Merkblatt gemäß Anhang X der Verordnung Nr. 1560/2003 enthält in seinem Teil A unter dem Titel „Informationen über die Dublin-Verordnung gemäß Artikel 4 der Verordnung (EU) Nr. 604/2013 für Personen, die internationalen Schutz beantragen“ insbesondere folgende Informationen (Hervorhebungen im Original):

„Sie haben uns gebeten, Ihnen Schutz zu gewähren, weil Sie nach eigener Angabe Ihr Land aufgrund von Verfolgung, Krieg oder der Gefahr, ernsthaften Schaden zu erleiden, verlassen mussten. Nach dem Gesetz ist dies ein ‚Antrag auf internationalen Schutz‘, und Sie selbst werden als ‚Antragsteller‘ bezeichnet. Menschen, die um Schutz nachsuchen, werden häufig auch ‚Asylbewerber‘ genannt.

Die Tatsache, dass Sie hier Asyl beantragt haben, bedeutet nicht automatisch, dass wir Ihren Antrag auch hier prüfen. Das Land, das Ihren Antrag prüfen wird, wird in einem Verfahren nach einer Rechtsvorschrift der Europäischen Union bestimmt, der sogenannten ‚Dublin-Verordnung‘. Nach dieser Rechtsvorschrift ist nur ein Land für die Prüfung Ihres Antrags zuständig.

[…]

Bevor Ihr Antrag auf Asyl geprüft werden kann, müssen wir feststellen, ob wir für die Prüfung zuständig sind oder ob ein anderes Land zuständig ist — das nennen wir ‚Dublin-Verfahren‘. Das Dublin-Verfahren betrifft nicht den Grund Ihres Asylantrags. Es wird nur die Frage geklärt, welches Land dafür zuständig ist, über Ihren Asylantrag zu entscheiden.

[…]

Beschließen unsere Behörden, dass wir für die Entscheidung über Ihren Asylantrag zuständig sind, bedeutet dies, dass Sie in diesem Land bleiben können und dass Ihr Antrag hier geprüft wird. Das Verfahren zur Prüfung Ihres Antrags beginnt dann sofort.

Wenn wir zu dem Ergebnis kommen, dass ein anderes Land für Ihren Antrag zuständig ist, werden wir Sie so bald wie möglich in dieses Land schicken, damit Ihr Antrag dort bearbeitet werden kann. […]

Die Rechtsvorschrift enthält verschiedene Gründe dafür, warum ein Land für die Prüfung Ihres Antrags zuständig sein kann. Diese Gründe werden in der Reihenfolge ihrer Bedeutung in der Rechtsvorschrift berücksichtigt. Dazu zählt, ob Sie in diesem Dublin-Land einen Familienangehörigen haben, ob Sie derzeit oder in der Vergangenheit ein Visum oder einen Aufenthaltstitel eines Dublin-Landes besitzen/besaßen oder ob Sie legal oder illegal in ein anderes Dublin-Land gereist oder über ein anderes Dublin-Land eingereist sind.

Es ist wichtig, dass Sie uns so bald wie möglich mitteilen, ob Sie Familienangehörige in einem anderen Dublin-Land haben. Wenn Ihre Ehefrau, Ihr Ehemann oder Ihr Kind Asylbewerber ist oder in einem anderen Dublin-Land internationalen Schutz erhalten hat, könnte dieses Land für die Prüfung Ihres Asylantrags zuständig sein.

Wir können beschließen, Ihren Antrag in unserem Land zu prüfen, auch wenn wir nach den Kriterien der Dublin-Verordnung nicht dafür zuständig sind. Wir werden Sie nicht in ein Land schicken, in dem Ihre Menschenrechte nachgewiesenermaßen verletzt werden.

[…]

Sie haben die Möglichkeit zu sagen, dass Sie mit der Entscheidung, in ein anderes Dublin-Land geschickt zu werden, nicht einverstanden sind, und Sie können gegen diese Entscheidung vor Gericht einen Rechtsbehelf einlegen. Sie können auch darum bitten, so lange hier zu bleiben, bis über Ihren Rechtsbehelf oder Ihren Überprüfungsantrag entschieden wurde.

Wenn Sie Ihren Asylantrag zurückziehen und in ein anderes Dublin-Land reisen, werden Sie wahrscheinlich hierher oder in den zuständigen Staat zurückgeschickt.

Daher ist es wichtig, dass Sie nach Ihrem Antrag auf Asyl hier bleiben, bis wir 1. entschieden haben, wer für die Prüfung Ihres Antrags zuständig ist, und/oder 2. entscheiden, Ihren Asylantrag hier zu prüfen.

[…]

Wenn wir der Ansicht sind, dass ein anderes Land für die Prüfung ihres Antrags zuständig sein könnte, erhalten Sie detaillierte Informationen über dieses Verfahren und seine Auswirkungen auf Sie und Ihre Rechte.“

38.      In seinem Teil B enthält das Merkblatt gemäß Anhang X der Verordnung Nr. 1560/2003 u. a. folgende „Informationen für Personen, die internationalen Schutz beantragen und sich in einem Dublin-Verfahren befinden“:

Sie haben dieses Merkblatt erhalten, weil Sie in diesem Land oder einem anderen Dublin-Land internationalen Schutz (Asyl) beantragt haben und die Behörden Grund zu der Annahme haben, dass ein anderes Land für die Prüfung Ihres Antrags zuständig sein könnte.

Das Land, das Ihren Antrag prüfen wird, wird in einem Verfahren nach einer Rechtsvorschrift der Europäischen Union bestimmt, der sogenannten ‚Dublin-Verordnung‘. Dieses Verfahren wird als ‚Dublin-Verfahren‘ bezeichnet. In diesem Merkblatt wird versucht, die am häufigsten gestellten Fragen zu diesem Verfahren zu beantworten.

[…]

Mit dem Dublin-Verfahren wird festgestellt, welches Land für die Prüfung Ihres Asylantrags zuständig ist. Das bedeutet, dass Sie aus unserem Land in ein anderes Land geschickt werden können, wenn dieses für die Prüfung Ihres Antrags zuständig ist.

[…]

BITTE BEACHTEN SIE: Sie sollten nicht in ein anderes Dublin-Land umziehen. Wenn Sie in ein anderes Dublin-Land umziehen, werden Sie hierher oder in das Land zurückgestellt, in dem Sie zuvor Asyl beantragt haben. Wenn Sie Ihren Antrag hier zurückziehen, führt dies nicht zu einer Änderung des zuständigen Landes. Wenn Sie sich verstecken oder flüchten, besteht die Gefahr, dass Sie in Haft genommen werden.

[…]

Wie bestimmen die Behörden, welches Land für die Prüfung meines Antrags zuständig ist?

Es gibt verschiedene Gründe dafür, warum ein Land für die Prüfung Ihres Antrags zuständig sein kann. Diese Gründe werden in der Reihenfolge ihrer in der Rechtsvorschrift vorgegebenen Bedeutung berücksichtigt. Wenn ein Grund nicht zutrifft, wird der nächste berücksichtigt, usw.

Die Gründe beziehen sich auf folgende Faktoren in der Reihenfolge ihrer Bedeutung:

–        Sie haben einen Familienangehörigen (Ehepartner, Kinder unter 18 Jahren), dem internationaler Schutz gewährt wurde oder der in einem anderen Dublin-Land Asyl beantragt hat.

Daher ist es wichtig, dass Sie uns mitteilen, ob Sie Familienangehörige in einem anderen Dublin-Land haben, bevor eine erste Entscheidung über Ihren Asylantrag getroffen wird. Wenn Sie in demselben Land zusammengeführt werden wollen, müssen Sie und Ihre Familienangehörigen diesen Wunsch schriftlich äußern.

[…]

Was geschieht, wenn ich von einer anderen Person abhängig bin oder jemand anderer von mir abhängig ist?

Sie können in demselben Land zusammengeführt werden, in dem Ihre Mutter, Ihr Vater, Kind, Bruder oder Ihre Schwester leben, wenn alle folgenden Voraussetzungen erfüllt sind:

–        Die Personen halten sich rechtmäßig in einem der Dublin-Länder auf.

–        Jemand von Ihnen ist schwanger, hat ein neugeborenes Kind, ist schwer krank oder alt oder hat eine schwere Behinderung.

–        Jemand von Ihnen ist auf die Unterstützung einer anderen Person angewiesen, die in der Lage ist, für ihn/sie zu sorgen.

Das Land, in dem sich Ihr Kind, Ihre Geschwister oder Eltern aufhalten, sollte normalerweise die Zuständigkeit für die Prüfung Ihres Antrags übernehmen, sofern in Ihrem Herkunftsland bereits eine familiäre Bindung bestanden hat. Sie werden auch aufgefordert, den beiderseitigen Wunsch auf Zusammenführung schriftlich zu äußern.

Sie können darum bitten, wenn Sie sich bereits in dem Land aufhalten, in dem Ihre Kinder, Geschwister oder Eltern leben, oder wenn Sie in einem anderen Land als dem sind, in dem Ihre Verwandten ansässig sind. Im zweiten Fall bedeutet das, dass Sie in das betreffende Land reisen müssen, es sei denn, Sie können aus gesundheitlichen Gründen keine längere Reise unternehmen.

Zusätzlich zu dieser Möglichkeit können Sie während des Asylverfahrens stets darum bitten, aus humanitären, familiären oder kulturellen Gründen mit einem Verwandten zusammengeführt zu werden. Wird dies genehmigt, so müssen Sie gegebenenfalls in das Land umziehen, in dem sich Ihr Verwandter aufhält. In einem solchen Fall werden Sie ebenfalls aufgefordert, schriftlich Ihre Zustimmung zu äußern. Es ist wichtig, dass Sie uns über alle humanitären Gründe für die Prüfung Ihres Antrags in diesem oder einem anderen Land informieren.

[…]

–        Wenn Sie das erste Mal einen Asylantrag in einem Dublin-Land gestellt haben, wir aber Grund zu der Annahme haben, dass ein anderes Dublin-Land Ihren Asylantrag prüfen sollte, werden wir das andere Land ersuchen, Sie ‚ aufzunehmen‘.

[…]

–        Haben Sie bereits in einem anderen Dublin-Land als dem, in dem Sie sich aufhalten, einen Asylantrag gestellt, werden wir das andere Land ersuchen, Sie ‚ wieder aufzunehmen‘.

[…]

Haben Sie jedoch hier keinen Asylantrag gestellt und wurde Ihr früherer Asylantrag in einem anderen Land endgültig abgelehnt, können wir entweder ein Gesuch auf Wiederaufnahme an das zuständige Land stellen oder Sie in Ihr Herkunftsland oder das Land Ihres ständigen Wohnsitzes oder ein sicheres Drittland zurückführen.

[…]

Das zuständige Land wird Sie als Asylbewerber behandeln, und Sie kommen in den Genuss aller damit verbundenen Rechte. Haben Sie in dem betreffenden Land noch nie Asyl beantragt, werden Sie Gelegenheit haben, nach Ihrer Ankunft einen Antrag zu stellen.

[…]“

39.      Das Merkblatt gemäß Anhang XIII der Verordnung Nr. 1560/2003 enthält „Informationen für Drittstaatsangehörige oder Staatenlose, die sich illegal in einem Mitgliedstaat aufhalten, gemäß Artikel 29 Absatz 3 der [Eurodac-Verordnung]“:

„Falls Sie sich illegal in einem ‚Dublin-Land‘ aufhalten, können die Behörden Ihre Fingerabdrücke abnehmen und an eine Fingerabdruck-Datenbank namens ‚Eurodac‘ übermitteln. Dies dient lediglich der Überprüfung, ob Sie in der Vergangenheit bereits Asyl beantragt haben. Ihre Fingerabdruck-Daten werden nicht in der Eurodac-Datenbank gespeichert. Falls Sie jedoch in der Vergangenheit in einem anderen Land Asyl beantragt haben, können Sie in dieses Land zurückgesandt werden.

[…]

Falls unsere Behörden der Auffassung sind, dass Sie möglicherweise in einem anderen Land internationalen Schutz beantragt haben und dass dieses Land für die Prüfung Ihres Antrags zuständig sein könnte, erhalten Sie genauere Informationen über das folgende Verfahren und dessen Auswirkungen auf Sie und Ihre Rechte(12).“

B.      Italienisches Recht

40.      Im italienischen Recht regelt Art. 3 des Decreto legislativo Nr. 25/2008 vom 28. Januar 2008 zur Umsetzung der Richtlinie 2005/85/EG, die durch die Richtlinie 2013/32/EU zu gemeinsamen Verfahren für die Zuerkennung und Aberkennung der Flüchtlingseigenschaft aufgehoben und ersetzt wurde (GURI Nr. 40 vom 16. Februar 2008), in seiner aktuellen Fassung, Klagen gegen Überstellungsentscheidungen im Rahmen des Dublin-Systems.

III. Sachverhalt und Vorabentscheidungsersuchen

A.      Rechtssache C228/21

41.      Der Antragsteller in der Rechtssache C‑228/21, Herr CZA, stellte in Italien einen Antrag auf internationalen Schutz, nachdem er bereits in Slowenien einen solchen Antrag gestellt hatte. Daraufhin ersuchte die zuständige italienische Behörde, das beim Innenministerium angesiedelte Dublin-Referat, Slowenien um die Wiederaufnahme des Antragstellers gemäß Art. 18 Abs. 1 Buchst. b der Dublin-III-Verordnung. Diesem Ersuchen stimmte Slowenien zu. In der Folge erging gegenüber dem Antragsteller eine Überstellungsentscheidung nach Art. 26 der Dublin-III-Verordnung, mit der er über die Entscheidung in Kenntnis gesetzt wurde, ihn nach Slowenien zu überstellen.

42.      Die hiergegen gerichtete Klage des Antragstellers, gestützt auf einen Verstoß gegen die in Art. 4 der Dublin-III-Verordnung vorgesehene Informationspflicht, war in der ersten Instanz vor dem Tribunale di Catanzaro (Gericht Catanzaro, Italien) erfolgreich. Die zuständige Behörde konnte nicht nachweisen, dass dem Antragsteller das gemäß Art. 4 der Dublin-III-Verordnung erforderliche Merkblatt ausgehändigt worden war. Die Vorlage des gemäß Art. 5 dieser Verordnung erstellten Protokolls des persönlichen Gesprächs und die Aushändigung eines anderen Merkblatts zum Zeitpunkt der förmlichen Stellung des Antrags auf internationalen Schutz in Italien hielt das Gericht für nicht ausreichend. Es kam zu dem Ergebnis, dass die Verletzung der Informationspflicht nach Art. 4 der Dublin-III-Verordnung zur Ungültigkeit der Überstellungsentscheidung führe.

43.      Gegen diese Entscheidung legte das Innenministerium eine Kassationsbeschwerde bei der Corte suprema di cassazione (Kassationsgerichtshof, Italien) ein. Diese hat mit Entscheidung vom 29. März 2021, eingegangen am 8. April 2021, das Verfahren ausgesetzt und dem Gerichtshof folgende Fragen zur Vorabentscheidung vorgelegt:

1.      Ist Art. 4 der Dublin-III-Verordnung dahin auszulegen, dass ein Rechtsbehelf im Sinne von Art. 27 der Verordnung gegen eine von einem Mitgliedstaat gemäß dem Verfahren nach Art. 26 der Verordnung und auf der Grundlage der Wiederaufnahmepflicht nach Art. 18 Abs. 1 Buchst. b der Verordnung erlassene Überstellungsentscheidung allein darauf gestützt werden kann, dass der Mitgliedstaat, der die Überstellungsanordnung erlassen hat, das in Art. 4 Abs. 2 der Verordnung geregelte Merkblatt nicht ausgehändigt hat?

2.      Ist Art. 27 der Verordnung in Verbindung mit den Erwägungsgründen 18 und 19 sowie Art. 4 der Verordnung dahin auszulegen, dass ein wirksamer Rechtsbehelf bei einem festgestellten Verstoß gegen die in Art. 4 vorgesehenen Verpflichtungen erfordert, dass der Richter die Überstellungsentscheidung aufhebt?

3.      Bei einer Verneinung der Frage 2: Ist Art. 27 der Verordnung in Verbindung mit den Erwägungsgründen 18 und 19 sowie Art. 4 der Verordnung dahin auszulegen, dass ein wirksamer Rechtsbehelf bei einem festgestellten Verstoß gegen die in Art. 4 vorgesehenen Verpflichtungen erfordert, dass der Richter die Relevanz eines solchen Verstoßes anhand der vom Rechtsbehelfsführer vorgetragenen Umstände prüft, und ihm erlaubt, die Überstellungsentscheidung in all den Fällen zu bestätigen, in denen keine Gründe für den Erlass einer Überstellungsentscheidung anderen Inhalts zutage treten?

B.      Rechtssache C254/21

44.      In der Rechtssache C‑254/21 stellte DG, ein afghanischer Staatsangehöriger, in Italien einen zweiten Antrag auf internationalen Schutz, nachdem sein erster, in Schweden gestellter Antrag auf Zuerkennung internationalen Schutzes dort bereits endgültig abgelehnt worden war. Das italienische Innenministerium richtete daraufhin infolge eines Eurodac-Treffers ein Wiederaufnahmegesuch gemäß Art. 18 Abs. 1 Buchst. d der Dublin‑III-Verordnung an die schwedischen Behörden, das diese akzeptierten, und ordnete die Überstellung nach Schweden an.

45.      Gegen diese Entscheidung wendet sich der Antragsteller vor dem Tribunale di Roma (Gericht Rom, Italien) und macht einen Verstoß gegen Art. 4 der Charta der Grundrechte der Europäischen Union (im Folgenden: Charta) und gegen Art. 17 Abs. 1 der Dublin‑III-Verordnung geltend. Er begründet dies damit, dass ihm eine indirekte Zurückweisung über Schweden nach Afghanistan bevorstünde und ihm in Afghanistan eine unmenschliche und erniedrigende Behandlung drohe. Eine Zuständigkeit Italiens dafür, ihm Schutz vor der indirekten Zurückweisung zu gewähren, folge aus Art. 17 der Dublin‑III-Verordnung.

46.      Unter diesen Umständen hat das Tribunale di Roma (Gericht Rom) beschlossen, das Verfahren auszusetzen und dem Gerichtshof mit Entscheidung vom 12. April 2021, eingegangen am 22. April 2021, folgende Fragen zur Vorabentscheidung vorzulegen:

1.      Verlangt das Recht auf einen wirksamen Rechtsbehelf im Sinne von Art. 47 der Charta, dass die Art. 4 und 19 der Charta unter den Umständen des Ausgangsverfahrens auch gegen die Gefahr der indirekten Zurückweisung infolge einer Überstellung in einen Mitgliedstaat der Union, der keine systemischen Schwachstellen im Sinne von Art. 3 Abs. 2 der Dublin-III-Verordnung aufweist (in Ermangelung anderer Mitgliedstaaten, die auf der Grundlage der Kriterien in den Kapiteln III und IV zuständig sind) und den ersten Antrag auf internationalen Schutz bereits geprüft und zurückgewiesen hat, Schutz gewähren?

2.      Muss das Gericht des Mitgliedstaats, in dem der zweite Antrag auf internationalen Schutz gestellt wurde, das mit einer Klage im Sinne von Art. 27 der Dublin-Verordnung befasst ist – und damit dafür zuständig ist, die Überstellung innerhalb der Union zu prüfen, aber nicht dafür, über den Antrag auf Schutz zu entscheiden –, die Gefahr der indirekten Zurückweisung in ein Drittland als gegeben bewerten, wenn der Mitgliedstaat, in dem der erste Antrag auf internationalen Schutz gestellt wurde, den Begriff „interner Schutz“ im Sinne von Art. 8 der Richtlinie 2011/95 anders beurteilt hat?

3.      Ist die Beurteilung der Gefahr der indirekten Zurückweisung infolge der in zwei Mitgliedstaaten unterschiedlichen Auslegung des Bedürfnisses nach „internem Schutz“ vereinbar mit Art. 3 Abs. 1 (zweiter Teil) der Verordnung und mit dem allgemeinen Verbot für Drittstaatsangehörige, den Mitgliedstaat der Union auszuwählen, in dem sie einen Antrag auf internationalen Schutz stellen?

4.      Wenn die vorstehenden Fragen bejaht werden:

a)      Verpflichtet die Beurteilung des Vorliegens der Gefahr der indirekten Zurückweisung, die von dem Gericht des Staates vorgenommen wurde, in dem der Antragsteller nach der Zurückweisung des ersten Antrags den zweiten Antrag auf internationalen Schutz gestellt hat, zur Anwendung der Klausel in Art. 17 Abs. 1, die von der Verordnung als „Ermessensklausel“ definiert wird?

b)      Welche Kriterien muss das gemäß Art. 27 der Verordnung angerufene Gericht zusätzlich zu den in den Kapiteln III und IV genannten heranziehen, um – unter Berücksichtigung der Tatsache, dass diese Gefahr von dem Staat, der den ersten Antrag auf internationalen Schutz geprüft hat, bereits ausgeschlossen wurde – die indirekte Gefahr der Zurückweisung beurteilen zu können?

C.      Rechtssache C297/21

47.      In der Rechtssache C‑297/21 stellte XXX.XX, ein afghanischer Staatsangehöriger, in Italien einen zweiten Antrag auf internationalen Schutz, nachdem ein zuvor in Deutschland gestellter erster Antrag auf Zuerkennung internationalen Schutzes endgültig zurückgewiesen worden war und der Antragsteller dort eine endgültige Ausweisungsverfügung erhalten hatte. Das italienische Innenministerium richtete daraufhin nach einem Eurodac-Treffer ein Wiederaufnahmegesuch gemäß Art. 18 Abs. 1 Buchst. d der Dublin‑III-Verordnung an die deutschen Behörden, das diese akzeptierten.

48.      Gegen die daraufhin gegen ihn erlassene Überstellungsentscheidung erhob der Antragsteller Klage vor dem Tribunale di Firenze (Gericht Florenz, Italien). Er ist der Ansicht, die angefochtene Entscheidung verstoße gegen Art. 4 der Charta sowie gegen Art. 3 Abs. 2 und Art. 17 Abs. 1 der Dublin‑III-Verordnung, da ihm eine indirekte Zurückweisung über Deutschland nach Afghanistan bevorstehe und ihm nach seiner Rückführung dorthin eine unmenschliche und entwürdigende Behandlung drohe. Deshalb bestehe seiner Ansicht nach eine Zuständigkeit Italiens gemäß Art. 17 Abs. 1 der Dublin‑III-Verordnung.

49.      Unter diesen Umständen hat das Tribunale di Firenze (Gericht Florenz) beschlossen, das Verfahren auszusetzen und dem Gerichtshof mit Entscheidung vom 29. April 2021, eingegangen am 10. Mai 2021, folgende Fragen zur Vorabentscheidung vorzulegen:

1.      Ist Art. 17 Abs. 1 der Dublin-III-Verordnung im Einklang mit den Art. 19 und 47 der Charta und Art. 27 der Dublin-III-Verordnung dahin auszulegen, dass es dem Gericht des Mitgliedstaats, das mit der Anfechtung der Maßnahme des Dublin-Referats befasst ist, gestattet ist, die Zuständigkeit des Staates, der die Überstellung auf der Grundlage von Art. 18 Abs. 1 Buchst. d durchführen müsste, festzustellen, wenn es feststellt, dass im zuständigen Mitgliedstaat die Gefahr eines Verstoßes gegen den Grundsatz der Nichtzurückweisung durch Zurückweisung des Antragstellers in sein Herkunftsland besteht, in dem dem Antragsteller Lebensgefahr oder die Gefahr unmenschlicher und entwürdigender Behandlung drohen würde?

2.      Hilfsweise: Ist Art. 3 Abs. 2 der Dublin-III-Verordnung im Einklang mit den Art. 19 und 47 der Charta und Art. 27 der Dublin-III-Verordnung dahin auszulegen, dass es dem Gericht gestattet ist, die Zuständigkeit des Staates festzustellen, der die Überstellung gemäß Art. 18 Abs. 1 Buchst. d dieser Verordnung durchzuführen hat, wenn feststeht:

a)      dass im zuständigen Mitgliedstaat die Gefahr eines Verstoßes gegen den Grundsatz der Nichtzurückweisung durch Zurückweisung des Antragstellers in sein Herkunftsland besteht, in dem dem Antragsteller Lebensgefahr oder die Gefahr unmenschlicher und entwürdigender Behandlung drohen würde;

b)      dass es unmöglich ist, die Überstellung in einen anderen auf der Grundlage der Kriterien in Kapitel III der Dublin-III-Verordnung bestimmten Mitgliedstaat durchzuführen?

D.      Rechtssache C315/21

50.      In der Rechtssache C‑315/21 stellte der in Pakistan geborene PP einen Antrag auf internationalen Schutz in Italien, nachdem er zuvor bereits einen entsprechenden Antrag in Deutschland gestellt hatte. Das italienische Innenministerium richtete daraufhin ein Wiederaufnahmegesuch gemäß Art. 18 Abs. 1 Buchst. b der Dublin‑III-Verordnung an die deutschen Behörden, das diese als Wiederaufnahmegesuch gemäß Art. 18 Abs. 1 Buchst. d der Dublin‑III-Verordnung akzeptierten. Sodann ordnete das italienische Innenministerium die Überstellung des Antragstellers nach Deutschland an.

51.      Gegen diese Entscheidung erhob der Antragsteller Klage beim Tribunale di Milano (Gericht Mailand, Italien) und beantragte erfolgreich die einstweilige Aussetzung des Vollzugs der Entscheidung. Zur Begründung berief er sich zum einen auf eine Verletzung der Informationspflichten aus den Art. 4 und 5 der Dublin‑III-Verordnung und zum anderen auf eine drohende indirekte Zurückweisung über Deutschland nach Pakistan, wo für ihn die konkrete Gefahr einer unmenschlichen und entwürdigenden Behandlung bestünde. Das beim Innenministerium angesiedelte Dublin-Referat trat diesem Vorbringen entgegen und erbrachte den Nachweis, dass das in Art. 5 der Dublin‑III-Verordnung vorgesehene persönliche Gespräch mit dem Antragsteller geführt worden war.

52.      Unter diesen Umständen hat das Tribunale di Milano (Gericht Mailand) beschlossen, das Verfahren auszusetzen und dem Gerichtshof mit Entscheidung vom 14. April 2021, eingegangen am 17. Mai 2021, folgende Fragen zur Vorabentscheidung vorzulegen:

1.      Sind die Art. 4 und 5 der Dublin-III-Verordnung dahin auszulegen, dass ihre Verletzung für sich genommen die Rechtswidrigkeit der gemäß Art. 27 der Dublin-III-Verordnung angefochtenen Maßnahme unabhängig von den konkreten Folgen des genannten Verstoßes für den Inhalt der Maßnahme und die Bestimmung des zuständigen Mitgliedstaats nach sich zieht?

2.      Ist Art. 27 der Dublin-III-Verordnung in Verbindung mit Art. 18 Abs. 1 Buchst. a oder mit Art. 18 Abs. 1 Buchst. b, c und d und Art. 20 Abs. 5 der Dublin-III-Verordnung dahin auszulegen, dass er voneinander verschiedene Anfechtungsgegenstände, unterschiedliche gerichtlich geltend zu machende Rügen und verschiedene Arten von Verstößen gegen die Pflichten im Sinne der Art. 4 und 5 der Dublin-III-Verordnung, Informationen zu erteilen und ein persönliches Gespräch zu führen, benennt?

Falls die Frage 2 bejaht wird: Sind die Art. 4 und 5 der Dublin-III-Verordnung dahin auszulegen, dass die dort vorgesehenen Informationsgarantien nur in dem von Art. 18 Abs. 1 Buchst. a vorgesehenen Fall gelten und nicht auch im Wiederaufnahmeverfahren, oder sind sie dahin auszulegen, dass in diesem Verfahren Informationspflichten zumindest in Bezug auf die Übertragung der Zuständigkeiten gemäß Art. 19 oder auf die in Art. 3 Abs. 2 genannten systemischen Schwachstellen des Asylverfahrens oder der Aufnahmebedingungen für Antragsteller, die eine Gefahr einer unmenschlichen oder entwürdigenden Behandlung im Sinne des Art. 4 der Charta mit sich bringen, bestehen?

3.      Ist Art. 3 Abs. 2 dahin auszulegen, dass unter „systemische Schwachstellen des Asylverfahrens“ auch die etwaigen Folgen der bereits rechtskräftigen Entscheidungen über die Ablehnung des Antrags auf internationalen Schutz fallen, die vom Gericht des Mitgliedstaats erlassen wurden, der die Wiederaufnahme durchführt, wenn das gemäß Art. 27 der Dublin-III-Verordnung angerufene Gericht die Gefahr für den Kläger, im Fall der Repatriierung in sein Herkunftsland durch den genannten Mitgliedstaat eine unmenschliche und entwürdigende Behandlung zu erleiden, auch unter Berücksichtigung des angenommenen Vorliegens eines allgemeinen bewaffneten Konflikts im Sinne von Art. 15 Buchst. c der Richtlinie 2011/95 im konkreten Fall für gegeben hält?

E.      Rechtssache C328/21

53.      In der Rechtssache C‑328/21 ordnete das italienische Innenministerium die Überstellung des aus dem Irak stammenden Antragstellers GE nach Finnland an, nachdem festgestellt worden war, dass dieser sich unrechtmäßig in Italien aufhielt und ein Eurodac-Treffer ergeben hatte, dass er zuvor einen Antrag auf internationalen Schutz in Finnland gestellt hatte. Auf das Wiederaufnahmegesuch gemäß Art. 18 Abs. 1 Buchst. b der Dublin‑III-Verordnung erkannte Finnland die eigene Zuständigkeit gemäß Art. 18 Abs. 1 Buchst. d dieser Verordnung an.

54.      Gegen die Überstellungsentscheidung erhob der Antragsteller Klage beim Tribunale di Roma (Gericht Rom), das sich für unzuständig erklärte und das Verfahren an das Tribunale di Trieste (Gericht Triest) verwies. Der Antragsteller beruft sich insbesondere auf die Verletzung von Informationspflichten aus Art. 4 der Dublin‑III-Verordnung und Art. 29 der Eurodac-Verordnung.

55.      Unter diesen Umständen hat das Tribunale di Trieste (Gericht Triest) beschlossen, das Verfahren auszusetzen und dem Gerichtshof mit Entscheidung vom 2. April 2021, eingegangen am 26. Mai 2021, folgende Fragen zur Vorabentscheidung vorzulegen:

1.      Welche rechtlichen Folgen sieht das Recht der Europäischen Union in Bezug auf Entscheidungen über die Überstellung zur Wiederaufnahme gemäß Kapitel VI Abschnitt III der Dublin-III-Verordnung vor, wenn der Staat die in Art. 4 der Dublin-III-Verordnung und Art. 29 der Eurodac-Verordnung vorgesehenen Informationen nicht erteilt hat?

2.      Für den Fall, dass ein umfassender und wirksamer Rechtsbehelf gegen die Überstellungsentscheidung eingelegt wurde, wird der Gerichtshof der Europäischen Union insbesondere gefragt:

2.1.      Ist Art. 27 der Dublin-III-Verordnung dahin auszulegen,

–        dass die unterbliebene Aushändigung des in Art. 4 Abs. 2 und 3 der Dublin-III-Verordnung vorgesehenen Merkblatts an eine Person, die sich in der in Art. 23 Abs. 1 der Dublin-III-Verordnung beschriebenen Lage befindet, für sich genommen die nicht heilbare Nichtigkeit der Überstellungsentscheidung nach sich zieht (und eventuell auch bewirkt, dass der Mitgliedstaat, an den die Person ihren neuen Antrag gerichtet hat, für die Entscheidung über den Antrag auf internationalen Schutz zuständig ist);

–        oder dahin, dass es dem Kläger obliegt, im Verfahren darzutun, dass das Verfahren einen anderen Ausgang genommen hätte, wenn ihm das Merkblatt ausgehändigt worden wäre?

2.2.      Ist Art. 27 der Dublin-III-Verordnung dahin auszulegen,

–        dass die unterbliebene Aushändigung des in Art. 29 der Eurodac-Verordnung vorgesehenen Merkblatts an eine Person, die sich in der in Art. 24 Abs. 1 der Dublin-III-Verordnung beschriebenen Lage befindet, für sich genommen die nicht heilbare Nichtigkeit der Überstellungsentscheidung nach sich zieht (und eventuell auch das daraus folgende erforderliche Angebot der Möglichkeit, einen neuen Antrag auf internationalen Schutz zu stellen);

–        oder dahin, dass es dem Kläger obliegt, im Verfahren darzutun, dass das Verfahren einen anderen Ausgang genommen hätte, wenn ihm das Merkblatt ausgehändigt worden wäre?

IV.    Verfahren vor dem Gerichtshof

56.      Die vorlegenden Gerichte in den Rechtssachen C‑254/21, C‑297/21, C‑315/21 und C‑328/21 haben beantragt, die Rechtssachen im beschleunigten Verfahren gemäß Art. 105 der Verfahrensordnung des Gerichtshofs oder mit Vorrang gemäß Art. 53 Abs. 3 der Verfahrensordnung zu behandeln.

57.      Mit Beschlüssen des Präsidenten des Gerichtshofs vom 14. Juni und vom 6. Juli 2021 wurden diese Anträge abgelehnt.

58.      Mit Beschluss des Präsidenten des Gerichtshofs vom 6. Juli 2021 wurden die Rechtssachen C‑228/21, C‑254/21, C‑297/21, C‑315/21 und C‑328/21 zu gemeinsamen schriftlichen und mündlichen Verfahren und zu gemeinsamer Entscheidung verbunden.

59.      Deutschland, Frankreich, Italien, die Niederlande, die Europäische Kommission sowie die Kläger der Ausgangsverfahren in den Rechtssachen C‑297/21 und C‑328/21 haben sich schriftlich geäußert.

60.      An der gemeinsamen mündlichen Verhandlung am 8. Juni 2022 haben sich Italien, die Kommission sowie die Kläger der Ausgangsverfahren in den Rechtssachen C‑297/21 und C‑328/21 beteiligt.

V.      Würdigung

61.      Die Situationen, die den vorliegenden fünf Vorabentscheidungsersuchen zugrunde liegen, zeichnen sich allesamt dadurch aus, dass die betroffenen Asylsuchenden sich, nachdem sie einen ersten Antrag auf internationalen Schutz in einem Mitgliedstaat gestellt hatten, nach Italien begaben und dort entweder einen weiteren Antrag auf internationalen Schutz stellten (Rechtssachen C‑228/21, C‑254/21, C‑297/21 und C‑315/21) oder sich ohne Aufenthaltstitel aufhielten (Rechtssache C‑328/21, wobei hier umstritten ist, ob der Kläger im Ausgangsverfahren in Italien einen neuen Antrag gestellt hat oder nicht, siehe hierzu Nrn. 98 und 123 dieser Schlussanträge). In der Folge ersuchte die zuständige italienische Behörde die Mitgliedstaaten, in denen die Betroffenen zuvor Anträge auf internationalen Schutz gestellt hatten, um deren Wiederaufnahme und erließ den Betroffenen gegenüber Überstellungsentscheidungen gemäß Art. 26 der Dublin‑III-Verordnung, die nun Gegenstand der Ausgangsverfahren sind.

62.      Vor diesem Hintergrund betreffen die Fragen, die in den vorliegenden Vorabentscheidungsersuchen an den Gerichtshof gerichtet werden, wie eingangs geschildert, zwei Themenkomplexe: Zum einen geht es um die Pflichten zur Information und Aushändigung des gemeinsamen Merkblatts gemäß Art. 4 der Dublin‑III-Verordnung bzw. Art. 29 der Eurodac-Verordnung sowie zum Führen des persönlichen Gesprächs gemäß Art. 5 der Dublin‑III-Verordnung (Rechtssachen C‑228/21, C‑315/21 und C‑328/21) (A). Zum anderen geht es um die Frage, ob die Gerichte des ersuchenden Mitgliedstaats im Rahmen einer Klage gegen die Überstellungsentscheidung das Risiko der Verletzung des Grundsatzes der Nichtzurückweisung durch den ersuchten Mitgliedstaat prüfen können, wenn in diesem Mitgliedstaat keine systemischen Mängel bestehen (Rechtssachen C‑254/21, C‑297/21 und C‑315/21) (B).

A.      Zum gemeinsamen Merkblatt und zum persönlichen Gespräch

63.      Mit ihren Fragen in den Rechtssachen C‑228/21, C‑315/21 und C‑328/21 wollen die vorlegenden Gerichte zunächst wissen, ob die Pflichten zur Information der Antragsteller und zur Aushändigung des gemeinsamen Merkblatts gemäß Art. 4 der Dublin‑III-Verordnung bzw. Art. 29 der Eurodac-Verordnung und zum Führen des persönlichen Gesprächs gemäß Art. 5 der Dublin‑III-Verordnung nicht nur im Rahmen des Verfahrens zur Bestimmung des zuständigen Mitgliedstaats, das beim ersten Antrag auf internationalen Schutz in einem Mitgliedstaat durchgeführt wird, gelten, sondern auch im Wiederaufnahmeverfahren. Dieses wird durchgeführt, wenn ein Asylsuchender in einem weiteren Mitgliedstaat einen Antrag auf internationalen Schutz stellt oder sich dort aufhält und dieser zweite Mitgliedstaat plant, ihn in den ersten Mitgliedstaat zu überstellen.

64.      Sollten die betreffenden Pflichten auch im Wiederaufnahmeverfahren gelten, so wollen die vorlegenden Gerichte ferner in Erfahrung bringen, ob eine Klage gegen eine Überstellungsentscheidung auf einen Verstoß gegen diese Pflichten gestützt werden kann und welche Folgen ein solcher Verstoß für die Überstellungsentscheidung hat.

65.      Da Art. 4 der Dublin‑III-Verordnung (1), Art. 29 der Eurodac-Verordnung (2) sowie Art. 5 der Dublin‑III-Verordnung (3) jeweils spezifische Fragen aufwerfen, bietet es sich an, sie nacheinander zu behandeln.

1.      Zur Informationspflicht gemäß Art. 4 der DublinIII-Verordnung

66.      Die Frage, ob die Pflichten zur Information und zur Aushändigung des gemeinsamen Merkblatts gemäß Art. 4 der Dublin‑III-Verordnung auch im Wiederaufnahmeverfahren gelten, wird explizit als zweiter Teil der zweiten Frage in der Rechtssache C‑315/21 gestellt; implizit liegt sie aber auch den Fragen in den Rechtssachen C‑228/21 und C‑328/21 zugrunde. Denn diese betreffen die Folgen eines Verstoßes gegen besagte Pflichten für die Überstellungsentscheidung im Wiederaufnahmeverfahren, was deren Anwendbarkeit voraussetzt.

67.      Ich werde zunächst die Unterscheidung zwischen Aufnahme- und Wiederaufnahmeverfahren sowie die verschiedenen Konstellationen skizzieren, in denen Letzteres Anwendung findet (a). Sodann werde ich erläutern, warum die in Rede stehende Informationspflicht auch im Wiederaufnahmeverfahren gilt (b). Schließlich werde ich mich der Frage zuwenden, ob ein Verstoß gegen diese Pflicht im Rahmen einer Klage gegen die Überstellungsentscheidung gerügt werden kann und welche Folgen er hat (c).

a)      Aufnahme- und Wiederaufnahmeverfahren im Dublin-System

68.      Nach Art. 20 Abs. 1 der Dublin‑III-Verordnung ist das Verfahren zur Bestimmung des zuständigen Mitgliedstaats einzuleiten, sobald in einem Mitgliedstaat erstmals ein Antrag auf internationalen Schutz gestellt wird. Hält dieser Mitgliedstaat einen anderen Mitgliedstaat für zuständig, so kann er diesen ersuchen, den Antragsteller aufzunehmen (Art. 18 Abs. 1 Buchst. a in Verbindung mit Art. 21 Abs. 1 der Dublin‑III-Verordnung).

69.      Das Wiederaufnahmeverfahren gemäß den Art. 23 und 24 der Dublin‑III-Verordnung ist dagegen auf Personen anwendbar, die sich, nachdem sie einen ersten Antrag in einem Mitgliedstaat gestellt haben, in einen anderen Mitgliedstaat begeben und dort einen weiteren Antrag stellen oder sich ohne Aufenthaltstitel aufhalten. Daraufhin kann dieser Mitgliedstaat den Mitgliedstaat, der zuvor mit ihrem Antrag befasst war, ersuchen, sie wieder aufzunehmen.

70.      Im Wiederaufnahmeverfahren sind zwei Situationen zu unterscheiden, auf die auch das vorlegende Gericht in der Rechtssache C‑315/21 abstellt: Zum einen findet dieses Verfahren Anwendung auf die Situation von Personen, die in einem ersten Mitgliedstaat einen Antrag gestellt und diesen Mitgliedstaat in der Folge verlassen haben, noch bevor das Verfahren zur Bestimmung des zuständigen Mitgliedstaats abgeschlossen war (Art. 20 Abs. 5 der Dublin‑III-Verordnung). In den Ausgangsverfahren ist diese Konstellation nicht einschlägig.

71.      Zum anderen ist das Wiederaufnahmeverfahren auf die Situationen von Personen anzuwenden, die sich während der materiellen Prüfung ihres Antrags oder nach dessen Ablehnung durch den zuständigen Mitgliedstaat in einen anderen Mitgliedstaat begeben und dort einen weiteren Antrag stellen oder sich ohne Aufenthaltstitel aufhalten (Art. 18 Abs. 1 Buchst. b bis d der Dublin‑III-Verordnung)(13). Diesen Situationen entsprechen die Umstände der vorliegenden Ausgangsverfahren.

b)      Pflicht zur Information nach Art. 4 der DublinIII-Verordnung auch im Wiederaufnahmeverfahren

72.      Art. 4 Abs. 1 der Dublin‑III-Verordnung sieht vor, dass die Behörden die Antragsteller über die Anwendung dieser Verordnung und ihre relevanten Aspekte unterrichten, „sobald ein Antrag auf internationalen Schutz im Sinne des Art. 20 Abs. 2 in einem Mitgliedstaat gestellt wird“. Die entsprechenden Informationen sind in einem gemeinsamen Merkblatt enthalten, das die Kommission nach Art. 4 Abs. 2 und 3 der Dublin‑III-Verordnung in der Durchführungsverordnung Nr. 118/2014 erstellt hat.

73.      Nachstehend werde ich zunächst auf den Wortlaut und die Systematik (1), sodann auf den Sinn und Zweck von Art. 4 der Dublin‑III-Verordnung (2) und schließlich auf den Fall eingehen, in dem im zweiten Mitgliedstaat kein neuer Antrag gestellt wird (3).

1)      Wortlaut und Systematik von Art. 4 der DublinIII-Verordnung

74.      Seinem Wortlaut nach macht Art. 4 Abs. 1 der Dublin‑III-Verordnung hinsichtlich der Informationsverpflichtung keinen Unterschied zwischen einem ersten und weiteren Anträgen auf internationalen Schutz bzw. zwischen dem Aufnahme- und dem Wiederaufnahmeverfahren.

75.      Zwar ist Art. 20 der Dublin‑III-Verordnung mit „Einleitung des Verfahrens“ überschrieben, und sein Abs. 1 sieht vor, dass das Verfahren zur Bestimmung des zuständigen Mitgliedstaats eingeleitet wird, sobald in einem Mitgliedstaat erstmals(14) ein Antrag auf internationalen Schutz gestellt wird. Abs. 2 dieser Vorschrift regelt dann aber ganz allgemein, wann ein Antrag auf internationalen Schutz (definiert durch Art. 2 Buchst. b der Dublin‑III-Verordnung sowie Art. 2 Buchst. h der Qualifikationsrichtlinie) als gestellt gilt und bezieht sich nicht nur auf den ersten Antrag. Das folgt auch aus Art. 23 Abs. 2 Unterabs. 2 der Dublin‑III-Verordnung, der auf Art. 20 Abs. 2 verweist. Art. 23 gilt jedoch allein für Fälle eines erneuten Antrags auf internationalen Schutz und somit gerade nicht für den ersten Antrag.

76.      Systematisch befindet sich Art. 4 der Dublin‑III-Verordnung in deren Kapitel II, das mit „Allgemeine Grundsätze und Schutzgarantien“ überschrieben ist. Dessen Bestimmungen gelten somit für den gesamten Anwendungsbereich dieser Verordnung und nicht nur für einen bestimmten Verfahrenstyp.

2)      Sinn und Zweck von Art. 4 der DublinIII-Verordnung

77.      Hinsichtlich der Ratio der Informationspflicht wenden die Kommission und Italien ein, dass diese ausweislich des 18. Erwägungsgrundes der Dublin‑III-Verordnung dazu dienen soll, die Bestimmung des Mitgliedstaats zu erleichtern, der für die materielle Prüfung eines Antrags auf internationalen Schutz zuständig ist. Das Wiederaufnahmeverfahren sei jedoch hauptsächlich auf Situationen anwendbar, in denen der zuständige Mitgliedstaat bereits bestimmt sei. Daher müssten in diesem Verfahren nicht mehr sämtliche Informationen betreffend die Bestimmung des zuständigen Mitgliedstaats mitgeteilt werden. Vielmehr müsse es ausreichen, die Betroffenen über die Aspekte zu informieren, die sie auch in diesem Verfahrensstadium noch geltend machen können. Die Kommission und Italien stützen dieses Vorbringen insbesondere auf das Urteil des Gerichtshofs in der Rechtssache H. und R. (im Folgenden: Urteil H. und R.)(15).

78.      Der Kommission und Italien ist zuzugeben, dass in den Situationen, die von Art. 18 Abs. 1 Buchst. b bis d der Dublin‑III-Verordnung erfasst werden (oben, Nr. 71), das Verfahren zur Bestimmung des zuständigen Mitgliedstaats bereits abgeschlossen ist und dieser mit der materiellen Prüfung des Antrags begonnen oder diese sogar schon beendet hat. Der Gerichtshof hat daher im Urteil H. und R.festgestellt, dass sich in einem solchen Fall eine erneute Anwendung der Regeln über das Verfahren zur Bestimmung der Zuständigkeit erübrigt(16).

79.      Auch in der von Art. 20 Abs. 5 der Dublin‑III-Verordnung erfassten Situation (oben, Nr. 70), wenn die Prüfung der Zuständigkeit im ersuchten Mitgliedstaat noch läuft, ist der ersuchende Mitgliedstaat im Prinzip nicht verpflichtet, zu prüfen, ob der ersuchte Mitgliedstaat zuständig ist. Vielmehr muss er lediglich prüfen, ob die Kriterien von Art. 20 Abs. 5 erfüllt sind, d. h., ob im ersuchten Mitgliedstaat ein erster Antrag gestellt wurde und dieser das Verfahren zur Bestimmung des zuständigen Mitgliedstaats eingeleitet, aber noch nicht abgeschlossen hat(17).

80.      Dies schließt allerdings nicht aus, dass bestimmte Zuständigkeitskriterien auch im Wiederaufnahmeverfahren noch berücksichtigt werden müssen. Wie ich nachfolgend näher darlegen werde, hat der Gerichtshof dies in Bezug auf manche Zuständigkeitskriterien schon explizit festgestellt, was auch die Kommission und Italien einräumen. Darüber hinaus umfasst die Informationspflicht nach Art. 4 der Dublin‑III-Verordnung nicht nur die Kriterien für die Bestimmung des zuständigen Mitgliedstaats, sondern auch allgemeine Informationen zur Funktionsweise des Dublin-Systems. All diese Informationen sind im gemeinsamen Merkblatt enthalten. Eine selektive Informationspflicht im Wiederaufnahmeverfahren, wie sie die Kommission und Italien vorschlagen, erscheint vor diesem Hintergrund nicht im Sinne der Ziele der Dublin‑III-Verordnung (i) und in der Praxis schwerlich umsetzbar (ii).

i)      Relevanz der Informationen im gemeinsamen Merkblatt für Antragsteller im Wiederaufnahmeverfahren

–       Zuständigkeitskriterien, die auch im Wiederaufnahmeverfahren noch zu berücksichtigen sind

81.      Im Wiederaufnahmeverfahren muss der ersuchende Mitgliedstaat nicht mehr von Amts wegen die Kriterien zur Bestimmung des zuständigen Mitgliedstaats gemäß Kapitel III der Dublin‑III-Verordnung prüfen(18). Dies bedeutet aber nicht, dass er die Augen vor Elementen verschließen kann, die ein Antragsteller vorbringt und die auch in diesem Stadium noch der Überstellung in den ersuchten Mitgliedstaat entgegenstehen können. Daher ist es auch im Wiederaufnahmeverfahren geboten, die Antragsteller mittels des gemeinsamen Merkblatts über die Möglichkeit zu informieren, solche Elemente darzutun.

82.      Dies gilt insbesondere für den Übergang der Zuständigkeit auf den ersuchenden Mitgliedstaat nach Art. 19(19), Art. 23 Abs. 3(20) und Art. 29 Abs. 2(21) der Dublin‑III-Verordnung, systemische Schwachstellen im ersuchten Mitgliedstaat (Art. 3 Abs. 2 Unterabs. 2(22)) oder, in Sonderfällen betreffend den Gesundheitszustand der Antragsteller, die Gefahr einer unmenschlichen Behandlung durch den Transfer in den ersuchten Mitgliedstaat selbst(23). In Fällen, in denen der Antragsteller den ersuchten Mitgliedstaat verlassen hat, noch bevor das Verfahren zur Bestimmung des zuständigen Mitgliedstaats abgeschlossen war (Art. 20 Abs. 5, oben, Nr. 70), kann dem Gerichtshof zufolge darüber hinaus auch im Wiederaufnahmeverfahren noch geltend gemacht werden, dass der ersuchende Mitgliedstaat aufgrund der Kriterien in den Art. 8 bis 10 eigentlich der zuständige Mitgliedstaat sei(24).

83.      Darüber hinaus können Antragsteller im Wiederaufnahmeverfahren (sowohl in den von Art. 20 Abs. 5 [oben, Nr. 70] als auch in den von Art. 18 Abs. 1 Buchst. b bis d der Dublin‑III-Verordnung [oben, Nr. 71] erfassten Situationen) insbesondere Indizien für den Aufenthalt von Familienangehörigen, Verwandten oder Personen jeder anderen verwandtschaftlichen Beziehung des Antragstellers im Hoheitsgebiet des ersuchenden Mitgliedstaats vorbringen, die zur Anwendung der in den Art. 8, 10 und 16 der Dublin‑III-Verordnung genannten Kriterien führen können. Solche Indizien müssen die Mitgliedstaaten nämlich gemäß Art. 7 Abs. 3 berücksichtigen, sofern sie vorgelegt werden, bevor ein anderer Mitgliedstaat dem Gesuch um Aufnahme oder Wiederaufnahme(25) der betreffenden Person gemäß den Art. 22 und 25(26) stattgegeben hat, und sofern über frühere Anträge des Antragstellers auf internationalen Schutz noch keine Erstentscheidung in der Sache ergangen ist.

84.      Art. 7 Abs. 3 der Dublin‑III-Verordnung gilt damit ausweislich seines Wortlauts und nach seiner Ratio auch im Wiederaufnahmeverfahren. Dies wurde im Urteil H. und R., soweit ersichtlich, nicht in Frage gestellt, da sich der Gerichtshof in diesem Urteil nicht mit dieser Bestimmung auseinandergesetzt hat.

85.      Auch das gemeinsame Merkblatt weist ausdrücklich darauf hin, dass die Antragsteller den Behörden mitteilen sollen, ob sie Familienangehörige in einem Dublin-Land haben, „bevor eine erste Entscheidung über [i]hren Asylantrag getroffen wird“(27), ohne diese Möglichkeit auf das Aufnahmeverfahren zu beschränken.

86.      Dies ist auch folgerichtig.

87.      Zwar hat die Dublin‑III-Verordnung das Ziel, eine rasche Bestimmung des zuständigen Mitgliedstaats und damit eine zeitnahe Prüfung der Asylanträge zu gewährleisten(28). Asylanträge können daher gegebenenfalls von einem anderen Mitgliedstaat geprüft werden als dem, der nach den Kriterien in Kapitel III dieser Verordnung zuständig ist(29). Dies ist unproblematisch, da die Vermutung besteht, dass die Behandlung der Asylbewerber in jedem Mitgliedstaat in Einklang mit der Charta sowie der Genfer Flüchtlingskonvention(30) und der EMRK steht(31). Dank der unionsrechtlichen Harmonisierung prüfen die Mitgliedstaaten Asylanträge auch weitgehend nach den gleichen Regeln(32). Dementsprechend soll eine einmal bestimmte Zuständigkeit im Prinzip nicht mehr in Frage gestellt werden.

88.      Allerdings muss von diesem Grundsatz in Anbetracht der Bedeutung des Rechts auf Schutz des Familienlebens abgewichen werden, wenn gemäß Art. 7 Abs. 3 der Dublin‑III-Verordnung Elemente vorgebracht werden, die auf die Anwesenheit von Familienmitgliedern des Antragstellers in einem anderen als dem ursprünglich als zuständig bestimmten Mitgliedstaat schließen lassen.

89.      Diese Bestimmung trägt nämlich dem Recht auf Schutz des Familienlebens Rechnung. Laut des Kommissionsvorschlags für die Dublin‑III-Verordnung soll sie das Recht auf Familienzusammenführung stärken und verhindern, dass ein Antragsteller in einen Mitgliedstaat überstellt wird, obwohl aus Gründen der Einheit der Familie ein anderer Mitgliedstaat zuständig ist(33). Die Erwägungsgründe 14 bis 16 der Dublin‑III-Verordnung bestätigen die Bedeutung der Achtung des Familienlebens bei der Durchführung dieser Verordnung. Demnach soll mit der gemeinsamen Bearbeitung der von den Mitgliedern einer Familie gestellten Anträge auf internationalen Schutz durch ein und denselben Mitgliedstaat insbesondere sichergestellt werden, dass diesbezügliche Entscheidungen kohärent sind und die Mitglieder einer Familie nicht voneinander getrennt werden.

90.      Die Information der Antragsteller im Wiederaufnahmeverfahren mittels des gemeinsamen Merkblatts dient somit auch und gerade dem Schutz ihres Rechts auf Familienleben.

–       Allgemeine Informationen zum Dublin-System

91.      Der Verzicht auf die Aushändigung des gemeinsamen Merkblatts im Wiederaufnahmeverfahren stünde darüber hinaus im Widerspruch zu den Zielen der Dublin‑III-Verordnung. Dieser liegt nämlich das Bestreben zugrunde, die Rechte der Antragsteller zu stärken, sie bestmöglich am Verfahren zur Bestimmung des zuständigen Mitgliedstaats zu beteiligen(34) und sie über die Funktionsweise des Dublin-Systems aufzuklären, um Sekundärmigration entgegenzuwirken(35).

92.      Die Informationspflicht gemäß Art. 4 Abs. 1 der Dublin‑III-Verordnung bezieht sich daher nicht nur auf die Kriterien für die Bestimmung des zuständigen Mitgliedstaats (Buchst. b). Vielmehr umfasst sie auch die Systematik des Dublin-Systems, insbesondere die Folgen einer weiteren Antragstellung oder eines Umzugs in einen anderen Mitgliedstaat, das persönliche Gespräch gemäß Art. 5 und die Möglichkeit, Angaben über die Anwesenheit von Familienangehörigen zu machen sowie einen Rechtsbehelf gegen die Überstellungsentscheidung einzulegen (Buchst. a, c und d).

93.      Es steht außer Frage, dass es sinnvoll ist, den Betroffenen auch im Wiederaufnahmeverfahren diese allgemeinen Informationen zum Dublin-System zu kommunizieren. Das gemeinsame Merkblatt enthält im Übrigen einen ausdrücklichen Hinweis für Antragsteller im Wiederaufnahmeverfahren: „Haben Sie bereits in einem anderen Dublin-Land als dem, in dem Sie sich aufhalten, einen Asylantrag gestellt, werden wir das andere Land ersuchen, Sie ‚ wieder aufzunehmen‘.“(36) Daher ist auch nicht zu befürchten, dass die erneute Aushändigung des Merkblatts im Wiederaufnahmeverfahren den Antragstellern fälschlicherweise suggerieren könnte, der ersuchende Mitgliedstaat werde in jedem Fall von Amts wegen eine erneute Bestimmung des zuständigen Mitgliedstaats vornehmen.

ii)    Praktische Aspekte

94.      Eine selektive Information der Antragsteller, wie sie die Kommission und Italien vorschlagen, erscheint darüber hinaus schwer umsetzbar, weil es nur ein gemeinsames Merkblatt gibt. Auch kann gegebenenfalls für die Behörden des zweiten Mitgliedstaats (insbesondere vor der Eurodac-Abfrage, siehe hierzu Nrn. 115 und 116 dieser Schlussanträge) nicht sofort ersichtlich sein, in welcher Situation der Antragsteller sich genau befindet und welche Elemente er somit noch geltend machen kann. Die systematische Kommunikation des gemeinsamen Merkblatts im Wiederaufnahmeverfahren ist demgegenüber eine klare, einfache und rechtssichere Lösung, die sicherstellt, dass alle Antragsteller in jedem Fall – notfalls erneut – sämtliche Informationen erhalten, die für ihre jeweilige Situation relevant sind.

95.      Es ist zwar davon auszugehen, dass ein Antragsteller, der in einem zweiten Mitgliedstaat einen Antrag auf internationalen Schutz stellt, das gemeinsame Merkblatt schon bei seiner ersten Antragstellung im ersten Mitgliedstaat ausgehändigt bekommen hat. Es kann jedoch nicht ausgeschlossen werden, dass dies in Einzelfällen vergessen wurde oder dass eine Erinnerung an diese Informationen von Nutzen ist. In jedem Fall wird es für die Behörden des zweiten Mitgliedstaats regelmäßig schwer zu überprüfen sein, ob die Antragsteller das Merkblatt schon einmal bekommen haben.

96.      Und schließlich führt die Pflicht zur (gegebenenfalls erneuten) Aushändigung des gemeinsamen Merkblatts im Wiederaufnahmeverfahren auch nicht zu einem unverhältnismäßigen Aufwand für den ersuchenden Mitgliedstaat. Denn dieser muss das gemeinsame Merkblatt ohnehin in sämtlichen Sprachversionen vorhalten, um es an Antragsteller auszugeben, die ihren ersten Antrag auf internationalen Schutz bei seinen Behörden stellen.

3)      Pflicht zur Information, auch wenn im zweiten Mitgliedstaat kein neuer Antrag gestellt wird?

97.      Der Vollständigkeit halber ist noch darauf hinzuweisen, dass das Wiederaufnahmeverfahren nicht nur Situationen erfasst, in denen ein Antragsteller, nachdem er in einem ersten Mitgliedstaat einen Antrag auf internationalen Schutz gestellt hat, in einem weiteren Mitgliedstaat einen solchen Antrag stellt. Vielmehr kommt das Wiederaufnahmeverfahren auch in Situationen zur Anwendung, in denen sich ein Antragsteller, nachdem er in einem Mitgliedstaat einen ersten Antrag gestellt hat, in einen weiteren Mitgliedstaat begibt und sich dort ohne Aufenthaltstitel aufhält, ohne einen weiteren Antrag zu stellen (Art. 24 in Verbindung mit Art. 20 Abs. 5 und Art. 18 Abs. 1 Buchst. b bis d der Dublin‑III-Verordnung).

98.      Nach den Angaben des vorlegenden Gerichts entspricht dies vorliegend der Situation im Ausgangsverfahren in der Rechtssache C‑328/21. GE, der Betroffene in dieser Rechtssache, bringt dagegen vor, er sei nur als illegal aufhältig eingestuft worden, weil die italienischen Behörden seinen Antrag auf internationalen Schutz nicht ordnungsgemäß aufgenommen hätten. Ob dies der Fall ist, muss das vorlegende Gericht beurteilen, wobei die Anforderungen an das Vorliegen eines Antrags auf internationalen Schutz nicht zu streng und formalistisch ausgelegt werden dürfen(37).

99.      Ausweislich des Wortlauts von Art. 4 Abs. 1 der Dublin‑III-Verordnung besteht die Pflicht, die dort angeführten Informationen auszuhändigen, nur, „[s]obald ein Antrag auf internationalen Schutz im Sinne des Artikels 20 Absatz 2 in einem Mitgliedstaat gestellt wird“. Sie kann daher nicht auf Fälle ausgeweitet werden, in denen sich ein Antragsteller nach Stellung eines ersten Antrags in einem Mitgliedstaat in einen anderen Mitgliedstaat begibt und sich dort lediglich ohne Aufenthaltstitel aufhält, ohne einen weiteren Antrag zu stellen.

100. In Anbetracht der obigen Ausführungen erscheint eine Aushändigung des Merkblatts, das über die Funktionsweise des Dublin-Systems aufklärt, zwar auch in solchen Fällen hilfreich. Sie könnte den Betroffenen insbesondere dabei helfen, den Behörden verständlich zu machen, ob sie einen Antrag auf internationalen Schutz stellen wollen. Das Merkblatt auch hier auszugeben, wäre jedoch nur eine gute Verwaltungspraxis, die die Mitgliedstaaten anwenden können, ohne hierzu gemäß Art. 4 der Dublin‑III-Verordnung formal verpflichtet zu sein.

4)      Zwischenergebnis

101. Aus alledem folgt, dass Art. 4 der Dublin‑III-Verordnung dahin auszulegen ist, dass die Pflicht zur Aushändigung der dort genannten Informationen sowohl in den von Art. 20 Abs. 1 und Art. 18 Abs. 1 Buchst. a als auch in den von Art. 20 Abs. 5 und Art. 18 Abs. 1 Buchst. b bis d dieser Verordnung erfassten Situationen besteht, sobald in einem Mitgliedstaat ein Antrag auf internationalen Schutz im Sinne von Art. 20 Abs. 2 gestellt wird.

c)      Folgen eines Verstoßes gegen die Informationspflicht nach Art. 4 der DublinIII-Verordnung im Wiederaufnahmeverfahren

102. Mit ihren Fragen in den Rechtssachen C‑228/21 und C‑328/21 sowie der ersten und der zweiten Frage in der Rechtssache C‑315/21 wollen die vorlegenden Gerichte zum einen wissen, ob Verstöße gegen die Informationspflicht aus Art. 4 der Dublin‑III-Verordnung im Wiederaufnahmeverfahren im Rahmen einer Klage gegen die Überstellungsentscheidung geltend gemacht werden können (a). Zum anderen fragen sie, ob solche Verstöße per se die Aufhebung dieser Entscheidung nach sich ziehen müssen oder ob der zuständige Richter im Einzelfall prüfen muss, ob sie sich auf deren Inhalt ausgewirkt haben (b).

1)      Rügefähigkeit von Art. 4 der DublinIII-Verordnung im Rahmen einer Klage gegen eine Überstellungsentscheidung im Wiederaufnahmeverfahren

103. Die Frage, ob Verstöße gegen Art. 4 der Dublin‑III-Verordnung im Rahmen einer Klage gegen eine Überstellungsentscheidung gerügt werden können, ist mit Ja zu beantworten. Der Gerichtshof hat nämlich bereits festgestellt, dass ein Rechtsbehelf gegen eine Überstellungsentscheidung gemäß Art. 27 Abs. 1 der Dublin‑III-Verordnung auf die Überprüfung der Anwendung dieser Verordnung einschließlich der Beachtung der von ihr vorgesehenen Verfahrensgarantien abzielen können muss(38).

104. Der Ansicht der Kommission, nach der Verstöße gegen die Informationspflicht nur dann geltend gemacht werden könnten, wenn sie sich auf den Inhalt der Überstellungsentscheidung ausgewirkt haben, ist dagegen nicht zu folgen. Dies würde nämlich dazu führen, die Prüfung der Zulässigkeit einer Klage gegen die Überstellungsentscheidung mit der Prüfung ihrer Begründetheit zu vermengen.

2)      Folgen von Verstößen gegen Art. 4 der DublinIII-Verordnung für die Überstellungsentscheidung

105. Entgegen der von GE im Rahmen der Rechtssache C‑328/21 geäußerten Auffassung bedeutet die Möglichkeit, sich auf Verstöße gegen Art. 4 der Dublin‑III-Verordnung zu berufen, jedoch nicht zwangsläufig, dass die Überstellungsentscheidung aufzuheben ist und die Zuständigkeit für die Prüfung des Antrags auf den ersuchenden Mitgliedstaat übergeht. GE zufolge müsse dies bei Verstößen gegen Art. 4 ebenso der Fall sein wie bei Verstößen gegen die Fristenregelungen im Aufnahme-, Wiederaufnahme- und Überstellungsverfahren gemäß Art. 21 Abs. 1 Unterabs. 3, Art. 23 Abs. 3, Art. 24 Abs. 3 und Art. 29 Abs. 2 der Dublin‑III-Verordnung.

106. Eine solche Rechtsfolge ist in Bezug auf Art. 4 der Dublin‑III-Verordnung aber gerade nicht vorgesehen. Vielmehr sieht diese Verordnung insofern keinerlei Rechtsfolgen vor. In diesem Fall richten sich die Rechtsfolgen nach dem nationalen Recht, wobei die Mitgliedstaaten die Grundsätze der Äquivalenz und der Effektivität zu wahren haben. Die Modalitäten des nationalen Rechts dürfen insbesondere die praktische Wirksamkeit der Dublin‑III-Verordnung nicht in Frage stellen(39).

107. Der von den Mitgliedstaaten insofern nach dem Unionsrecht zu beachtende Standard ergibt sich aus der Rechtsprechung zur Verletzung der Verteidigungsrechte. Eine solche Verletzung, insbesondere des Anspruchs auf rechtliches Gehör, führt nur dann zur Nichtigerklärung der Entscheidung, die am Ende des fraglichen Verwaltungsverfahrens erlassen wird, wenn das Verfahren ohne diese Regelwidrigkeit zu einem anderen Ergebnis hätte führen können(40).

108. Wie soeben dargelegt, dient die Informationspflicht gemäß Art. 4 der Dublin‑III-Verordnung dazu, die Betroffenen über die Funktionsweise des Dublin-Systems und ihre Rechte innerhalb dieses Systems aufzuklären. Hierdurch sollen sie insbesondere im Wiederaufnahmeverfahren u. a. erfahren, dass sie der Überstellung in den die Zuständigkeit prüfenden oder den zuständigen Mitgliedstaat mit gewissen Argumenten entgegentreten können.

109. Dennoch kann das Unterbleiben der Aushändigung dieser Informationen an die Betroffenen allein nicht die Annahme rechtfertigen, dass die Überstellungsentscheidung notwendigerweise mit einem Fehler behaftet und daher aufzuheben ist. Wie Deutschland vorträgt, kann diese fehlende Aushändigung nämlich im weiteren Verfahrensverlauf, insbesondere im persönlichen Gespräch (vgl. hierzu auch Art. 4 Abs. 2 Unterabs. 2 der Dublin-III-Verordnung), kompensiert werden. Dies kann dadurch geschehen, dass die relevanten Informationen, insbesondere die Anwesenheit von Familienangehörigen im ersuchenden oder einem dritten Mitgliedstaat, die gegebenenfalls zur Anwendung von Art. 8, 10 oder 16 der Dublin‑III-Verordnung führen könnten, im persönlichen Gespräch abgefragt werden. Gleichermaßen sollten in diesem Gespräch Elemente abgefragt werden oder zutage treten können, die auf das Risiko einer Verletzung von Art. 4 der Charta im ersuchten Mitgliedstaat oder durch den Transport dorthin schließen lassen.

110. Damit die fehlende Aushändigung des Merkblatts zur Aufhebung der Überstellungsentscheidung führt, müsste somit erwiesen sein, dass im persönlichen Gespräch ein Element, das geeignet wäre, der Überstellung in den ersuchten Mitgliedstaat entgegenzustehen, nicht vorgebracht werden konnte, weil der Betroffene das gemeinsame Merkblatt nicht erhalten hat und daher nicht wusste, dass es relevant ist. Darüber hinaus müsste es unmöglich sein, den Verfahrensfehler im Gerichtsverfahren zu heilen (vgl. hierzu sogleich, Nr. 141).

111. Wie Deutschland vorbringt, kann die Last der Darlegung der Auswirkungen eines Verfahrensfehlers der zuständigen Behörde des ersuchenden Mitgliedstaats jedoch nicht allein dem Antragsteller obliegen. Vielmehr muss das mit der Klage gegen die Überstellungsentscheidung befasste Gericht prüfen, ob das fragliche Wiederaufnahmeverfahren unter den speziellen tatsächlichen und rechtlichen Umständen des konkreten Falls ohne diesen Fehler zu einem anderen Ergebnis hätte führen können, weil die betroffenen Drittstaatsangehörigen sich besser hätten verteidigen und Gesichtspunkte hätten geltend machen können, die geeignet gewesen wären, sich auf den Inhalt der Überstellungsentscheidung auszuwirken(41).

112. In der Rechtssache C‑328/21 fragt das vorlegende Gericht mit seiner ersten Frage allgemein nach den Rechtsfolgen eines Verstoßes gegen Art. 4 der Dublin‑III-Verordnung für die Überstellungsentscheidung, ohne Bezug zu der Einlegung eines Rechtsbehelfs. Unabhängig von einer gerichtlichen Überprüfung kann die Nichtaushändigung des Merkblatts jedoch nicht ipso iure zur Nichtigkeit der Überstellungsentscheidung führen. Gemäß Art. 26 Abs. 2 muss diese Entscheidung allerdings eine Rechtsbehelfsbelehrung enthalten. Nach Abs. 3 dieser Bestimmung muss der Mitgliedstaat die betreffende Person, wenn sie nicht durch einen Rechtsbeistand unterstützt wird, in einer Sprache, die sie versteht, nicht nur über mögliche Rechtsbehelfe, sondern auch über die wesentlichen Elemente der Entscheidung informieren. Diese Belehrung kann nur dann effektiv sein, wenn der Betreffende (spätestens) in diesem Zuge auch die Informationen enthält, die im gemeinsamen Merkblatt enthalten sind.

3)      Zwischenergebnis

113. Aus dem Vorstehenden folgt, dass Verstöße gegen Art. 4 der Dublin‑III-Verordnung im Rahmen einer Klage gegen eine Überstellungsentscheidung im Wiederaufnahmeverfahren gerügt werden können. Sie müssen jedoch nur dann zur Aufhebung der Überstellungsentscheidung führen, wenn aufgrund der fehlenden Aushändigung der in dieser Bestimmung genannten Informationen ein Element nicht vorgebracht werden konnte, das geeignet wäre, der Überstellung in den ersuchten Mitgliedstaat entgegenzustehen, und wenn dieser Fehler nicht im Verfahren der gerichtlichen Überprüfung dieser Entscheidung gemäß Art. 27 geheilt werden kann.

2.      Zur Informationspflicht gemäß Art. 29 der Eurodac-Verordnung

114. In der Rechtssache C‑328/21 fragt das vorlegende Gericht nach den Folgen eines Verstoßes gegen die Pflicht zur Aushändigung des Merkblatts nach Art. 29 der Eurodac-Verordnung für die Überstellungsentscheidung.

115. Um die Durchführung des Dublin-Systems zu gewährleisten, regelt die Eurodac-Verordnung die Einrichtung einer Datenbank mit Informationen, insbesondere Fingerabdrücken, von Personen, die internationalen Schutz beantragen oder illegal in Mitgliedstaaten kommen oder sich dort aufhalten. Diese Datenbank dient den Mitgliedstaaten insbesondere dazu, herauszufinden, ob eine solche Person schon in einem anderen Mitgliedstaat einen Antrag auf internationalen Schutz gestellt hat. Art. 29 sieht vor, dass Personen, die von dieser Datenverarbeitung betroffen sind, über deren Zweck und Modalitäten aufgeklärt werden und dass hierfür ebenfalls ein gemeinsames Merkblatt zu erstellen ist.

a)      Pflicht zur Information nach Art. 29 der Eurodac-Verordnung auch im Wiederaufnahmeverfahren

116. Es ist unstreitig, dass die Pflicht zur Aushändigung des Merkblatts nach Art. 29 der Eurodac-Verordnung auch im Wiederaufnahmeverfahren besteht. Dies gilt sowohl, wenn im zweiten Mitgliedstaat ein erneuter Antrag auf internationalen Schutz gestellt wird (Art. 9), als auch, wenn eine Person sich illegal in einem Mitgliedstaat aufhält (Art. 17). In beiden Fällen werden nämlich die Fingerabdruckdaten der Betroffenen ins Eurodac-System eingespeist, so dass die Informationspflicht gemäß Art. 29 anwendbar ist. Das Eurodac-System ist gerade für Fälle gedacht, in denen ein Mitgliedstaat die Fingerabdruckdaten einer Person an das Zentralsystem übermittelt, um herauszufinden, ob der Betroffene schon einen Antrag auf internationalen Schutz in einem anderen Mitgliedstaat gestellt hat. Wenn sich dies bewahrheitet, kann der erstgenannte Mitgliedstaat sodann den zweitgenannten um Wiederaufnahme des Betroffenen ersuchen.

117. Dementsprechend enthält auch das gemeinsame Merkblatt gemäß Art. 29 der Eurodac-Verordnung folgenden Hinweis: „Falls Sie jedoch in der Vergangenheit in einem anderen Land Asyl beantragt haben, können Sie in dieses Land zurückgesandt werden.“(42)

b)      Rügefähigkeit und Folgen eines Verstoßes gegen die Informationspflicht nach Art. 29 der Eurodac-Verordnung im Wiederaufnahmeverfahren

118. Die Informationspflicht nach Art. 29 der Eurodac-Verordnung dient dazu, die Betroffenen über den Zweck und die Funktionsweise der Datenverarbeitung im Eurodac-System aufzuklären. Das Recht auf Aushändigung des Merkblatts ist somit ein Datenschutzrecht und kein Verfahrensrecht in Bezug auf das Wiederaufnahmeverfahren gemäß der Dublin‑III-Verordnung. Es soll die Wahrnehmung der Datenschutzrechte befördern, nicht zu einem besseren Ergebnis des Überstellungsverfahrens beitragen. Deshalb kann der Verstoß gegen dieses Recht auch den Ausgang des Überstellungsverfahrens nicht beeinflussen.

119. Art. 37 der Eurodac-Verordnung sieht vor, dass Betroffene vom verantwortlichen Mitgliedstaat Ersatz für Schäden verlangen können, die durch Handlungen entstehen, die dieser Verordnung zuwiderlaufen. Hierfür müssen die Mitgliedstaaten einen effektiven Rechtsbehelf vorsehen. Insofern erscheint es durchaus möglich (aber nicht zwingend), dass ein Verstoß gegen Art. 29 der Eurodac-Verordnung (auch) im Rahmen einer Klage gegen die Überstellungsentscheidung gerügt werden kann.

120. In Einklang mit der in den Nrn. 107 und 111 angeführten Rechtsprechung müsste eine Verletzung dieser Bestimmung allerdings nur dann zur Aufhebung der Überstellungsentscheidung führen, wenn das Verfahren ohne diese Regelwidrigkeit zu einem anderen Ergebnis hätte kommen können und der Fehler nicht durch eine Anhörung im Gerichtsverfahren geheilt werden kann. Es erscheint jedoch unwahrscheinlich, dass die fehlende Aushändigung der Informationen gemäß Art. 29 der Eurodac-Verordnung dazu führen kann, dass ein Element nicht vorgebracht wird, das für den Inhalt der Überstellungsentscheidung relevant wäre.

c)      Zwischenergebnis

121. Damit ist festzuhalten, dass Art. 29 in Verbindung mit Art. 9 Abs. 1 und Art. 17 Abs. 1 der Eurodac-Verordnung dahin auszulegen ist, dass die Pflicht zur Aushändigung der dort genannten Informationen sowohl in den von Art. 20 Abs. 1 und Art. 18 Abs. 1 Buchst. a als auch in den von Art. 20 Abs. 5 und Art. 18 Abs. 1 Buchst. b bis d der Dublin‑III-Verordnung erfassten Situationen besteht. Verstöße gegen Art. 29 der Eurodac-Verordnung können im Rahmen einer Klage gegen eine Überstellungsentscheidung gemäß Art. 26 der Dublin‑III-Verordnung gerügt werden. Sie müssen allerdings nur dann zur Aufhebung der Überstellungsentscheidung führen, wenn aufgrund der fehlenden Aushändigung der betreffenden Informationen ein Element nicht vorgebracht werden konnte, das geeignet wäre, der Überstellung in den ersuchten Mitgliedstaat entgegenzustehen, und wenn dieser Fehler nicht im Gerichtsverfahren geheilt werden kann.

3.      Zum persönlichen Gespräch gemäß Art. 5 der DublinIII-Verordnung

122. In der Rechtssache C‑315/21 fragt das vorlegende Gericht, ob die Pflicht, ein persönliches Gespräch gemäß Art. 5 der Dublin‑III-Verordnung mit dem Antragsteller zu führen, auch im Wiederaufnahmeverfahren besteht und, falls ja, welche Folgen ihre Missachtung für die Überstellungsentscheidung hat. Diese Frage ist allerdings in dieser Rechtssache nicht entscheidungserheblich, da das persönliche Gespräch laut den Angaben des vorlegenden Gerichts mit dem Antragsteller geführt wurde.

123. In der Rechtssache C‑328/21 erwähnt das vorlegende Gericht Art. 5 der Dublin‑III-Verordnung in seinem Vorlagebeschluss, aber nicht in seinen Vorlagefragen. GE, die Partei im Ausgangsverfahren in dieser Rechtssache, macht geltend, dass er zu Unrecht nicht als Antragsteller eingestuft worden sei (siehe hierzu schon oben, Nr. 98). Es ist Aufgabe des vorlegenden Gerichts, diese Frage zu klären. In der mündlichen Verhandlung hat GE vorgetragen, dass die italienischen Behörden auch kein persönliches Gespräch mit ihm geführt hätten.

124. Wie ich sogleich darlegen werde, bin ich der Ansicht, dass das persönliche Gespräch im Wiederaufnahmeverfahren geführt werden muss, unabhängig davon, ob im ersuchenden Mitgliedstaat ein neuer Antrag gestellt wurde oder nicht. Die Frage nach den Folgen des Verstoßes gegen diese Pflicht ist meiner Ansicht nach somit in der Rechtssache C‑328/21 in jedem Fall entscheidungserheblich.

125. Die Frage, ob das persönliche Gespräch im Wiederaufnahmeverfahren geführt werden muss und, falls ja, was die Konsequenzen für die Überstellungsentscheidung sind, wenn es nicht geführt wird, stellt sich darüber hinaus in der aktuell anhängigen Rechtssache C‑80/22, die nicht Gegenstand des vorliegenden Verfahrens ist(43).

126. In den anderen drei der vorliegenden Rechtssachen (C‑228/21, C‑254/21 und C‑297/21) wurde das Gespräch dagegen entweder geführt (Rechtssache C‑228/21) oder die vorlegenden Gerichte machen hierzu keine näheren Angaben.

127. Ich werde zunächst erörtern, warum die Pflicht zum Führen des persönlichen Gesprächs gemäß Art. 5 der Dublin‑III-Verordnung auch im Wiederaufnahmeverfahren besteht (a), bevor ich mich den Folgen von Verstößen gegen diese Pflicht zuwende (b).

a)      Pflicht zum Führen des persönlichen Gesprächs nach Art. 5 der DublinIII-Verordnung auch im Wiederaufnahmeverfahren

128. Im Einklang mit ihrer Position im Hinblick auf die Informationspflicht gemäß Art. 4 der Dublin‑III-Verordnung lehnen die Kommission und Italien auch eine Pflicht zum Führen des persönlichen Gesprächs gemäß Art. 5 im Wiederaufnahmeverfahren ab. Dieses Gespräch solle die Bestimmung des zuständigen Mitgliedstaats erleichtern, welche hier nicht mehr vorzunehmen sei.

129. Der Kommission und Italien ist zuzugeben, dass der 18. Erwägungsgrund und Art. 5 Abs. 1 der Dublin‑III-Verordnung das Führen des persönlichen Gesprächs mit dem Antragsteller in Verbindung mit der Bestimmung des zuständigen Mitgliedstaats vorsehen. Wie oben in den Nrn. 78, 79 und 81 dargelegt, muss der ersuchende Mitgliedstaat eine solche Bestimmung im Wiederaufnahmeverfahren nicht mehr von Amts wegen vornehmen.

130. In Einklang mit den Ausführungen in den Nrn. 81 bis 90 lässt dies aber nicht den Schluss zu, dass im Wiederaufnahmeverfahren auf das persönliche Gespräch zu verzichten wäre. Denn wie dort dargelegt, kann ein Antragsteller auch im Wiederaufnahmeverfahren noch Elemente vorbringen, die die Zuständigkeit des ersuchten Mitgliedstaats in Frage stellen und dem Erlass einer Überstellungsentscheidung entgegenstehen können.

131. Darüber hinaus gehören nach ständiger Rechtsprechung die Verteidigungsrechte, die den Anspruch auf Anhörung in jedem Verfahren umfassen, zu den tragenden Grundsätzen des Unionsrechts. Diese Rechte sind daher auch dann zu wahren, wenn die anwendbare Regelung solche Verfahrensrechte nicht ausdrücklich vorsieht(44).

132. Eine persönliche Anhörung impliziert im Prinzip gewiss nicht immer ein persönliches Gespräch, sondern kann gegebenenfalls auch schriftlich erfolgen. Im Fall von Drittstaatsangehörigen oder Staatenlosen, die sich in einem Dublin-Verfahren befinden, ist es aber notwendig, dass die Anhörung im persönlichen Gespräch erfolgt. Denn nur so kann sichergestellt werden, dass diese Personen das Dublin-System verstehen und alle Elemente vorbringen, die für die Bestimmung des zuständigen Mitgliedstaats relevant sind.

133. Dies bestätigt auch die Rechtsprechung zu ähnlichen Situationen unter der Asylverfahrensrichtlinie. In seinem Urteil in der Rechtssache Addis hat der Gerichtshof entschieden, dass das persönliche Gespräch mit dem Antragsteller, das diese Richtlinie vorsieht, in keinem Fall unterbleiben kann. Denn der persönlichen, mündlichen Anhörung des Antragstellers kommt in diesem Kontext grundlegende Bedeutung zu. Wird das Gespräch nicht geführt und kann es auch nicht im Gerichtsverfahren nachgeholt werden, so muss dies zur Aufhebung der betreffenden Entscheidung und zur Zurückverweisung der Sache an die zuständige Behörde führen(45). Dies gilt insbesondere im Hinblick auf die Zurückweisung eines Antrags als unzulässig, weil bereits ein anderer Mitgliedstaat internationalen Schutz gewährt hat (Art. 33 Abs. 2 Buchst. a dieser Richtlinie)(46).

134. Die Asylverfahrensrichtlinie regelt zwar das Verfahren zur materiellen Prüfung von Asylanträgen, während die Dublin‑III-Verordnung nur das Verfahren zur Bestimmung des Mitgliedstaats betrifft, der für diese Prüfung zuständig ist. Dennoch ist die Situation, die von Art. 33 Abs. 2 Buchst. a dieser Richtlinie erfasst wird (Zurückweisung eines Antrags als unzulässig, weil bereits ein anderer Mitgliedstaat Schutz gewährt hat), mit derjenigen im Wiederaufnahmeverfahren gemäß der Dublin‑III-Verordnung vergleichbar. Bei der Anwendung von Art. 33 Abs. 2 Buchst. a der Asylverfahrensrichtlinie muss der Mitgliedstaat, der den Antrag als unzulässig betrachten will, durch das persönliche Gespräch sicherstellen, dass im Fall der Überstellung an den Mitgliedstaat, der dem Antragsteller Schutz gewährt hat, kein Verstoß gegen Art. 4 der Charta droht(47).

135. Ebenso dient im Wiederaufnahmeverfahren gemäß der Dublin‑III-Verordnung das persönliche Gespräch insbesondere dazu, herauszufinden, ob der ersuchende Mitgliedstaat von einer Überstellung in den ersuchten Mitgliedstaat absehen muss. Dies kann u. a. aufgrund der Gefahr eines Verstoßes gegen Art. 4 der Charta im ersuchten Mitgliedstaat oder aufgrund von Indizien für den Aufenthalt von Familienangehörigen, Verwandten oder Personen jeder anderen verwandtschaftlichen Beziehung des Antragstellers im Hoheitsgebiet des ersuchenden Mitgliedstaats der Fall sein (vgl. oben, Nrn. 82 bis 85). Die in Art. 33 Abs. 2 der Asylverfahrensrichtlinie genannten Fälle, in denen Mitgliedstaaten Anträge auf internationalen Schutz nicht in der Sache prüfen müssen, ergänzen ausweislich von Abs. 1 dieser Bestimmung die Fälle, in denen ein Antrag gemäß der Dublin‑III-Verordnung nicht geprüft wird. Beide Regelwerke sind im Übrigen am selben Tag im Rahmen der allgemeinen Überarbeitung des Gemeinsamen Europäischen Asylsystems erlassen worden.

136. Daher muss der ersuchende Mitgliedstaat dem Betroffenen auch im Wiederaufnahmeverfahren gemäß der Dublin‑III-Verordnung vor Erlass einer Überstellungsentscheidung die Gelegenheit geben, sich im persönlichen Gespräch zu äußern. Dies gilt unabhängig davon, ob er einen erneuten Antrag auf internationalen Schutz gestellt hat oder nicht. Wie GE vorbringt, ist dies insbesondere wichtig, um auszuschließen, dass ein Drittstaatsangehöriger oder Staatenloser als illegal aufhältig eingestuft wird, obwohl er eigentlich einen Antrag auf internationalen Schutz stellen wollte.

137. Allerdings sieht, wie Deutschland geltend macht, Art. 5 Abs. 2 der Dublin‑III-Verordnung vor, dass unter bestimmten Umständen auf das persönliche Gespräch verzichtet werden kann. Dieses kann unterbleiben, wenn der Antragsteller flüchtig ist (a) oder wenn er bereits die sachdienlichen Angaben für die Bestimmung des zuständigen Mitgliedstaats gemacht hat (b). In letzterem Fall muss der Mitgliedstaat dem Antragsteller lediglich Gelegenheit geben, alle weiteren sachdienlichen Informationen vorzulegen, bevor eine Überstellungsentscheidung ergeht.

138. In Anbetracht der soeben unterstrichenen Bedeutung des persönlichen Gesprächs im Dublin-Verfahren ist diese Bestimmung dahin auszulegen, dass die Möglichkeit, alle weiteren sachdienlichen Informationen vorzulegen, effektiv bestehen muss. In Anbetracht dessen sowie aller weiteren Umstände ist im Einzelfall zu prüfen, ob der Verzicht auf das persönliche Gespräch vertretbar ist.

b)      Folgen eines Verstoßes gegen die Pflicht zum persönlichen Gespräch nach Art. 5 der DublinIII-Verordnung im Wiederaufnahmeverfahren

1)      Rügefähigkeit von Art. 5 der DublinIII-Verordnung im Rahmen einer Klage gegen eine Überstellungsentscheidung im Wiederaufnahmeverfahren

139. Stimmt man der Ansicht, wonach die Pflicht zum persönlichen Gespräch gemäß Art. 5 der Dublin‑III-Verordnung auch im Wiederaufnahmeverfahren besteht, zu, so folgt aus der in Nr. 103 angeführten Rechtsprechung, dass ihre Verletzung im Rahmen einer Klage gegen die Überstellungsentscheidung geltend gemacht werden kann.

2)      Folgen von Verstößen gegen Art. 5 der DublinIII-Verordnung für die Überstellungsentscheidung

140. Wie in Nr. 107 dargelegt, führt nach ständiger Rechtsprechung eine Verletzung der Verteidigungsrechte, insbesondere des Anspruchs auf rechtliches Gehör, nur dann zur Nichtigerklärung der Entscheidung, die am Ende des fraglichen Verwaltungsverfahrens erlassen wird, wenn das Verfahren ohne diese Regelwidrigkeit zu einem anderen Ergebnis hätte führen können.

141. Allerdings hat der Gerichtshof in seinem schon in den Nrn. 133 bis 135 erörterten Urteil in der Rechtssache Addis klargestellt, dass diese Rechtsprechung nicht auf den Fall der Anhörungsrechte gemäß der Asylverfahrensrichtlinie übertragbar ist(48). Zwar muss auch in diesem Fall die fehlende Anhörung im Verwaltungsverfahren nicht zwingend zur Aufhebung der Entscheidung und zur Zurückverweisung der Sache an die zuständige Behörde führen. Jedoch kann der Anhörungsfehler nur geheilt werden, wenn die mündliche Anhörung im Gerichtsverfahren unter Beachtung der notwendigen Verfahrensgarantien nachgeholt werden kann und sich dabei herausstellt, dass trotz des dabei vorgetragenen Vorbringens keine andere Entscheidung in der Sache ergehen kann. Kann eine solche Anhörung im Gerichtsverfahren nicht garantiert werden, muss die Entscheidung dagegen aufgehoben und die Sache an die zuständige Behörde zurückverwiesen werden(49).

142. Wie in den Nrn. 134 und 135 dargelegt, ist die Situation, die dem Urteil in der Rechtssache Addis zugrunde lag, mit der vorliegenden vergleichbar. Der Verstoß gegen die Pflicht zum persönlichen Gespräch kann daher auch im Rahmen des Wiederaufnahmeverfahrens gemäß der Dublin‑III-Verordnung kein Verfahrensverstoß sein, der sich nur auswirkt, wenn die Entscheidung ohne ihn hätte anders ausfallen können. Vielmehr schlägt dieser Verstoß nur dann nicht auf den Bestand der Überstellungsentscheidung durch, wenn das Gespräch im Gerichtsverfahren nachgeholt werden kann. Hier stellt sich dann die Frage, was die Folgen sind, wenn neue relevante Elemente vorgebracht werden (i). Wird dagegen kein Rechtsbehelf gegen die Überstellungsentscheidung eingelegt, so kann diese auch ohne das persönliche Gespräch bestandskräftig werden, sofern die Rechtsbehelfsbelehrung des Betroffenen effektiv war (ii).

i)      Möglichkeit der Heilung im Gerichtsverfahren und Folgen des Vorbringens neuer relevanter Elemente

143. Aus dem Vorstehenden folgt, dass in einem Fall, in dem es nicht gemäß Art. 5 Abs. 2 der Dublin‑III-Verordnung gerechtfertigt war, auf das persönliche Gespräch zu verzichten (vgl. oben, Nrn. 137 und 138), der Verfahrensfehler, der darin besteht, dass dieses Gespräch im Wiederaufnahmeverfahren nicht geführt wurde, nur dadurch geheilt werden kann, dass dieses Gespräch im Gerichtsverfahren anlässlich der Anfechtung der Überstellungsentscheidung geführt wird. Kann dies gemäß dem einschlägigen nationalen Recht gewährleistet werden (was vorliegend laut GE im italienischen Recht zweifelhaft ist), so kann die Überstellungsentscheidung bestätigt werden, wenn sich herausstellt, dass trotz des dabei vorgetragenen Vorbringens keine andere Entscheidung in der Sache ergehen kann. Andernfalls ist die Überstellungsentscheidung aufzuheben.

144. Im Hinblick auf Elemente bezüglich des Familienlebens ist in diesem Zusammenhang anzumerken, dass Art. 7 Abs. 3 der Dublin‑III-Verordnung zwar vorsieht, dass Indizien für den Aufenthalt von Familienangehörigen oder anderen Verwandten eines Antragstellers im Hoheitsgebiet eines Mitgliedstaats berücksichtigt werden, „sofern [sie] vorgelegt werden, bevor ein anderer Mitgliedstaat dem Gesuch um Aufnahme- oder Wiederaufnahme der betreffenden Person […] stattgegeben hat, und sofern über frühere Anträge des Antragstellers auf internationalen Schutz noch keine Erstentscheidung in der Sache ergangen ist“. Die Überstellungsentscheidung kann aber nach Art. 26 Abs. 1 erst ergehen, wenn der ersuchte Staat der Aufnahme oder Wiederaufnahme zugestimmt hat, und die gerichtliche Überprüfung dieser Entscheidung findet somit zwangsläufig nach dieser Zustimmung statt(50).

145. In Anbetracht der Bedeutung des Schutzes des Familienlebens, dem Art. 7 Abs. 3 dient (vgl oben, Nrn. 88 und 89), ist aber davon auszugehen, dass Indizien für den Aufenthalt von Familienangehörigen des Antragstellers im Hoheitsgebiet eines Mitgliedstaats auch dann noch berücksichtigt werden müssen, wenn sie im Rahmen der gerichtlichen Überprüfung der Überstellungsentscheidung vorgebracht werden und der Umstand, dass sie verspätet vorgebracht wurden, dem ersuchenden Mitgliedstaat zuzurechnen ist. Denn die Zustimmung des ersuchten Mitgliedstaats zu einem Aufnahme- oder Wiederaufnahmeersuchen verhindert nicht, dass ein Antragsteller im Rahmen eines Rechtsbehelfs gegen die Überstellungsentscheidung die fehlerhafte Anwendung eines in Kapitel III der Dublin‑III-Verordnung aufgestellten Zuständigkeitskriteriums geltend machen kann(51). In dieselbe Richtung geht, dass es möglich sein muss, sich im Rahmen eines solchen oder eines anderen Rechtsbehelfs auf Umstände zu berufen, die nach dem Erlass der Überstellungsentscheidung eingetreten sind(52).

146. Stellt sich aufgrund von Elementen, die während des persönlichen Gesprächs mit dem Betroffenen im Gerichtsverfahren zutage treten, heraus, dass die Überstellungsentscheidung aufzuheben ist, so erscheinen insbesondere zwei Szenarien denkbar: Entweder der Antragsteller bleibt im ersuchenden Mitgliedstaat, wenn sich dieser als zuständig erweist, oder ein dritter Mitgliedstaat ist zuständig, z. B., weil sich dort Familienangehörige des Antragstellers aufhalten. In dieser Situation würde sich die Frage stellen, ob die Fristen gemäß Art. 21, Art. 23 oder Art. 24 für die Stellung eines Aufnahme- oder Wiederaufnahmegesuchs bei diesem Mitgliedstaat wiedereröffnet werden könnten.

147. Diese Fristen dienen der zügigen Bearbeitung der Asylanträge. Dieses Ziel rechtfertigt es, dass solche Anträge gegebenenfalls von einem anderen Mitgliedstaat geprüft werden als dem, der nach den in Kapitel III der Dublin‑III-Verordnung genannten Kriterien als zuständig bestimmt wird(53). Daher kann ein Wiederaufnahmegesuch nach Ablauf der entsprechenden Fristen im Prinzip nicht mehr wirksam gestellt werden, und die Zuständigkeit geht auf den Mitgliedstaat über, bei dem ein neuer Antrag auf internationalen Schutz gestellt wurde(54).

148. Von diesem Grundsatz muss allerdings eine Ausnahme möglich sein, wenn sich die Zuständigkeit des dritten Mitgliedstaats auf die Anwesenheit von Familienangehörigen des Antragstellers in dessen Hoheitsgebiet stützt. Denn wie in den Nrn. 88 und 89 dargelegt, dient die Möglichkeit, auch in einem späten Stadium noch Elemente zum Aufenthalt von Familienangehörigen vorzubringen, dem Schutz des Familienlebens der Antragsteller. Sie soll verhindern, dass ihre Anträge in einem anderen Mitgliedstaat geprüft werden als in dem, in dem sich ihre Familienangehörigen aufhalten. Dies muss auch in einem Fall gelten, in dem der Grund für das verspätete Vorbringen der relevanten Elemente dem ersuchenden Mitgliedstaat zuzurechnen ist, der einen Antragsteller nicht rechtzeitig angehört hat(55).

ii)    Bestandskraft der Überstellungsentscheidung bei Nichtanfechtung

149. Wird kein Rechtsbehelf gegen die Überstellungsentscheidung eingelegt, so kann die Verletzung der Pflicht zum persönlichen Gespräch wie auch die Verletzung der Informationspflicht (oben, Nr. 112) nicht dazu führen, dass die Überstellungsentscheidung ipso iure nichtig ist. Zwar ist die Verletzung der Pflicht, das persönliche Gespräch zu führen, ein gravierender Verfahrensverstoß. Legt der Betroffene allerdings trotz einer effektiven Rechtsbehelfsbelehrung, die den diesbezüglichen Anforderungen genügt und insbesondere sicherstellt, dass er das Dublin-System versteht (oben, Nr. 112), keinen Rechtsbehelf ein, so erscheint die Bestandskraft gerechtfertigt. Dies gilt insbesondere insoweit, als Art. 26 Abs. 2 Unterabs. 2 die Mitgliedstaaten verpflichtet, sicherzustellen, dass der Betroffene zusammen mit der Überstellungsentscheidung Angaben zu Personen oder Einrichtungen erhält, die ihn rechtlich beraten können, sofern diese Angaben nicht bereits mitgeteilt wurden.

c)      Zwischenergebnis

150. Aus dem Vorstehenden folgt, dass Art. 5 der Dublin‑III-Verordnung in Verbindung mit dem unionsrechtlichen Grundsatz der Achtung der Verteidigungsrechte dahin auszulegen ist, dass das dort vorgesehene persönliche Gespräch sowohl in den von Art. 20 Abs. 1 und Art. 18 Abs. 1 Buchst. a als auch in den von Art. 20 Abs. 5 und Art. 18 Abs. 1 Buchst. b bis d dieser Verordnung erfassten Situationen zu führen ist. Dies gilt unabhängig davon, ob im ersuchenden Mitgliedstaat ein Antrag auf internationalen Schutz gestellt wurde. Verstöße gegen Art. 5 können im Rahmen einer Klage gegen eine Überstellungsentscheidung gemäß Art. 26 gerügt werden. Solche Verstöße müssen zur Aufhebung der Überstellungsentscheidung führen, wenn das persönliche Gespräch nicht unter Einhaltung der notwendigen Verfahrensgarantien im Verfahren der gerichtlichen Überprüfung dieser Entscheidung gemäß Art. 27 nachgeholt werden kann und sich dabei herausstellt, dass trotz des dabei vorgetragenen Vorbringens keine andere Entscheidung in der Sache ergehen kann. Wenn kein Rechtsbehelf gegen die Überstellungsentscheidung eingelegt wird, kann sie dagegen auch in Ermangelung des persönlichen Gesprächs bestandskräftig werden, sofern die Rechtsbehelfsbelehrung effektiv war.

B.      Zur indirekten Zurückweisung

151. Mit ihren Fragen in den Rechtssachen C‑254/21, C‑297/21 sowie der dritten Frage in der Rechtssache C‑315/21 wollen die vorlegenden Gerichte wissen, ob sie im Rahmen der Überprüfung einer Überstellungsentscheidung, die im Wiederaufnahmeverfahren ergangen ist, das Risiko einer Verletzung des Grundsatzes der Nichtzurückweisung durch den ersuchten Mitgliedstaat (also das Risiko einer „indirekten Zurückweisung“) zu prüfen haben. In den diesen Rechtssachen zugrunde liegenden Ausgangsverfahren wurden die Anträge der Betroffenen auf internationalen Schutz von den jeweils ersuchten Mitgliedstaaten (Schweden und Deutschland) schon in der Sache geprüft und abgewiesen. Die vorlegenden Gerichte fragen sich daher, ob sie prüfen dürfen oder müssen, ob den Betroffenen in den ersuchten Mitgliedstaaten eine Zurückweisung in ihre Heimatstaaten droht, in denen ihnen wiederum Lebensgefahr oder die Gefahr unmenschlicher Behandlung drohen würde.

152. Die verschiedenen diesbezüglichen Fragen der vorlegenden Gerichte lassen sich wie folgt zusammenfassen: Sind Art. 3 Abs. 1 und 2, Art. 17 Abs. 1 und Art. 27 der Dublin‑III-Verordnung in Verbindung mit den Art. 4, 19 und 47 der Charta dahin auszulegen,

–        dass ein Gericht des ersuchenden Mitgliedstaats im Rahmen der Überprüfung einer Überstellungsentscheidung, die im Wiederaufnahmeverfahren ergangen ist, das Risiko einer Verletzung des Grundsatzes der Nichtzurückweisung durch den ersuchten Mitgliedstaat überprüfen kann bzw. muss, auch wenn dieser ersuchte Mitgliedstaat keine systemischen Schwachstellen im Sinne von Art. 3 Abs. 2 der Dublin‑III-Verordnung aufweist(56);

–        dass das betreffende Gericht des ersuchenden Mitgliedstaats die Zuständigkeit dieses Mitgliedstaats feststellen kann bzw. muss, wenn es der Ansicht ist, dass im ersuchten Mitgliedstaat die Gefahr eines Verstoßes gegen den Grundsatz der Nichtzurückweisung besteht(57);

–        dass das betreffende Gericht des ersuchenden Mitgliedstaats die Gefahr der indirekten Zurückweisung in ein Drittland als gegeben bewerten muss, wenn es den Begriff „interner Schutz“ im Sinne von Art. 8 der Qualifikationsrichtlinie anders beurteilt als der ersuchte Mitgliedstaat(58);

–        dass unter „systemische Schwachstellen des Asylverfahrens“ im Sinne von Art. 3 Abs. 2 der Dublin‑III-Verordnung auch die Folgen der Ablehnung des Antrags auf internationalen Schutz durch den ersuchten Mitgliedstaat fallen, wenn das zuständige Gericht des ersuchenden Mitgliedstaats die Gefahr für den Kläger, im Fall der Repatriierung in sein Herkunftsland eine unmenschliche und entwürdigende Behandlung zu erleiden, auch unter Berücksichtigung des angenommenen Vorliegens eines allgemeinen bewaffneten Konflikts im Sinne von Art. 15 Buchst. c der Qualifikationsrichtlinie im konkreten Fall für gegeben hält(59).

153.  Darüber hinaus fragt das Gericht in der Rechtssache C‑254/21, welche Kriterien es gegebenenfalls anwenden müsste, um die Gefahr der Zurückweisung durch den ersuchten Mitgliedstaat zu beurteilen, nachdem dieser diese Gefahr bereits ausgeschlossen hat(60).

1.      Zu der Vermutung der Achtung der Grundrechte durch alle Mitgliedstaaten und den Bedingungen für ihre Widerlegung

154. Gemäß Art. 3 Abs. 1 der Dublin‑III-Verordnung wird ein Antrag auf internationalen Schutz, den ein Drittstaatsangehöriger oder Staatenloser im Hoheitsgebiet eines Mitgliedstaats stellt, von einem einzigen Mitgliedstaat geprüft, der nach den Kriterien des Kapitels III als zuständiger Staat bestimmt wird. Wie Deutschland vorträgt, ist es nämlich das Prinzip des Dublin-Systems, dass es innerhalb der Europäischen Union nur einen Mitgliedstaat geben soll, der sich mit der Prüfung eines Antrags auf internationalen Schutz befasst. Dies dient insbesondere der Rationalisierung und Beschleunigung des Asylverfahrens und der Vermeidung von Sekundärmigration.

155. Dieses System beruht auf dem Grundsatz des gegenseitigen Vertrauens. Dieser verlangt von jedem Mitgliedstaat, dass er, abgesehen von außergewöhnlichen Umständen, davon ausgeht, dass alle anderen Mitgliedstaaten das Unionsrecht und insbesondere die dort anerkannten Grundrechte beachten. Folglich muss im Kontext des Gemeinsamen Europäischen Asylsystems und insbesondere der Dublin‑III-Verordnung die Vermutung gelten, dass die Behandlung der Antragsteller in jedem einzelnen Mitgliedstaat in Einklang mit den Erfordernissen der Charta, der Genfer Flüchtlingskonvention und der EMRK steht(61). Dementsprechend geht aus dem dritten Erwägungsgrund der Dublin‑III-Verordnung hervor, dass die Mitgliedstaaten, die alle den Grundsatz der Nichtzurückweisung achten, als sichere Staaten für Drittstaatsangehörige gelten.

156. Im Rahmen des Dublin‑Systems sind die Mitgliedstaaten daher grundsätzlich unionsrechtlich verpflichtet, die Beachtung der Grundrechte durch die übrigen Mitgliedstaaten zu unterstellen. Somit haben sie weder die Möglichkeit, von einem anderen Mitgliedstaat ein höheres nationales Schutzniveau der Grundrechte zu verlangen als das durch das Unionsrecht gewährleistete, noch können sie – von Ausnahmefällen abgesehen – prüfen, ob dieser andere Mitgliedstaat in einem konkreten Fall die durch die Union gewährleisteten Grundrechte tatsächlich beachtet hat(62).

157. Diese Vermutung der Achtung der Grundrechte durch die anderen Mitgliedstaaten ist nicht unwiderlegbar. Denn wie der Gerichtshof festgestellt hat, kann nicht ausgeschlossen werden, dass das Asylsystem in der Praxis in einem Mitgliedstaat auf größere Funktionsstörungen stößt, so dass bei der Überstellung eines Antragstellers in diesen Mitgliedstaat die Gefahr von Grundrechtsverstößen besteht(63). Daher sieht Art. 3 Abs. 2 der Dublin‑III-Verordnung, der diese Rechtsprechung kodifiziert, vor, dass von einer Überstellung eines Antragstellers in einen Mitgliedstaat abzusehen ist, falls es wesentliche Gründe für die Annahme gibt, dass das Asylverfahren und die Aufnahmebedingungen für Antragsteller in diesem Mitgliedstaat systemische Schwachstellen aufweisen, die eine Gefahr einer unmenschlichen oder entwürdigenden Behandlung im Sinne des Art. 4 der Charta mit sich bringen(64).

158. Diese Bestimmung wurde in der Folge vom Gerichtshof noch ergänzt: Verfügt das mit einem Rechtsbehelf gegen eine Überstellungsentscheidung befasste Gericht über Angaben, die die betreffende Person zum Nachweis eines Risikos eines Verstoßes gegen Art. 4 der Charta vorgelegt hat, so muss das Gericht prüfen, ob es zum Zeitpunkt der Überstellung, während des Asylverfahrens oder nach dessen Abschluss dazu kommen könnte, dass diese Person aufgrund von systemischen oder allgemeinen oder aber bestimmte Personengruppen betreffenden Schwachstellen im zuständigen Mitgliedstaat einem ernsthaften Risiko ausgesetzt wäre, eine unmenschliche oder erniedrigende Behandlung zu erfahren(65).

159. Im Einklang mit dem in Art. 4 der Charta aufgestellten Verbot obliegt es daher den Mitgliedstaaten, im Rahmen des Dublin-Systems keine Überstellungen an einen Mitgliedstaat vorzunehmen, von dem ihnen nicht unbekannt sein kann, dass dort solche Mängel bestehen. Die Überstellung eines Asylbewerbers im Rahmen der Dublin‑III-Verordnung darf vielmehr nur unter Bedingungen vorgenommen werden, die es ausschließen, dass er tatsächlich Gefahr läuft, wegen seiner Überstellung eine unmenschliche oder erniedrigende Behandlung im Sinne dieser Bestimmung zu erleiden(66).

160. Da diese Durchbrechung des gegenseitigen Vertrauens eine Ausnahme darstellt, ist sie jedoch nur in Fällen gerechtfertigt, in denen Nachweise dafür vorliegen, dass die Schwachstellen, die im ersuchten Mitgliedstaat bestehen, eine besonders hohe Schwelle der Erheblichkeit erreichen(67). Vor allem aber müssen diese Schwachstellen einen allgemeinen, systemischen Charakter aufweisen. Sie müssen nicht die Handhabung von Einzelfällen durch die Verwaltung betreffen, sondern allgemeine, systemische Defizite. Dagegen kann nicht jede Verletzung eines Grundrechts durch den zuständigen Mitgliedstaat im Einzelfall die Verpflichtungen der übrigen Mitgliedstaaten zur Beachtung der Bestimmungen der Dublin‑III‑Verordnung berühren(68).

161. Zum einen wäre es nämlich nicht mit den Zielen und der Funktionsweise des Dublin‑Systems vereinbar, wenn jeder Verstoß gegen die einschlägigen Vorschriften – insbesondere die Qualifikationsrichtlinie – die Überstellung eines Asylbewerbers an den zuständigen Mitgliedstaat verhindern würde. Dies würde nicht nur die Verpflichtungen aushöhlen, die in der Dublin‑III-Verordnung zur Bestimmung des zuständigen Mitgliedstaats vorgesehen sind, und damit das gesamte Dublin-System zum Erliegen bringen. Mehr noch, auf dem Spiel stehen nach den Worten des Gerichtshofs „der Daseinsgrund der Union und die Verwirklichung des Raums der Freiheit, der Sicherheit und des Rechts, konkret des Gemeinsamen Europäischen Asylsystems, das auf gegenseitigem Vertrauen und einer Vermutung der Beachtung des Unionsrechts, genauer der Grundrechte, durch die anderen Mitgliedstaaten gründet“(69).

162. Zum anderen und vor allem ist es aber – wenn im ersuchten Mitgliedstaat keine systemischen Mängel vorliegen – auch nicht notwendig, dass eine (vermeintliche) Fehlanwendung der einschlägigen Asylbestimmungen zur Aussetzung der Überstellung eines Antragstellers in den ersuchten Mitgliedstaat führt. Denn in Ermangelung systemischer Mängel insbesondere des Justizsystems ist davon auszugehen, dass im ersuchten Mitgliedstaat jegliche Entscheidung, mit der internationaler Schutz verweigert wird, einer gerichtlichen Überprüfung zugeführt werden kann, die die Grundrechte des Betroffenen wahrt. Für Entscheidungen gemäß Art. 18 Abs. 1 Buchst. d wie die vorliegend betroffenen sieht Art. 18 Abs. 2 Unterabs. 3 der Dublin‑III-Verordnung dies im Übrigen explizit vor.

163. Darüber hinaus könnte, wie Frankreich vorträgt, das Gericht eines ersuchenden Mitgliedstaats die Gefahr eines Verstoßes gegen den Grundsatz der Nichtzurückweisung durch den ersuchten Mitgliedstaat nur aufgrund der Ablehnung des Antrags auf internationalen Schutz durch diesen Mitgliedstaat noch gar nicht abschließend prüfen. Aus dieser Ablehnung folgt nämlich noch nicht zwingend, dass der Antragsteller in sein Herkunftsland zurückgeschickt wird(70). Vielmehr muss der ersuchte Mitgliedstaat erst noch eine Rückkehrentscheidung gemäß Art. 6 der Rückführungsrichtlinie 2008/115/EG(71) erlassen. Gegen diese muss wiederum ein wirksamer Rechtsbehelf gemäß Art. 13 dieser Richtlinie gegeben sein. Ein solcher Rechtsbehelf muss aufschiebende Wirkung haben, wenn ernsthafte Gründe befürchten lassen, dass im Fall der Abschiebung tatsächlich die Gefahr einer Art. 4 der Charta widersprechenden Behandlung des Betroffenen besteht(72). Das vorlegende Gericht in der Rechtssache C‑297/21 gibt allerdings an, dass dem Antragsteller gegenüber im ersuchten Mitgliedstaat schon eine endgültige Rückkehrentscheidung erlassen wurde.

164. In Bezug auf die Anwendung des materiellen Asylrechts sowie des Asylverfahrens funktioniert das Dublin-System wie schon in Nr. 87 dargelegt auf der Grundlage, dass die diesbezüglichen Regelungen in weitem Umfang auf Unionsebene harmonisiert wurden, insbesondere durch die Qualifikations- sowie die Asylverfahrensrichtlinie. Daher ist zwar grundsätzlich davon auszugehen, dass der von einem Asylbewerber gestellte Antrag weitgehend nach den gleichen Regelungen geprüft wird, welcher Mitgliedstaat auch immer für seine Prüfung zuständig ist(73). Dennoch sind Meinungsverschiedenheiten in Einzelfällen unvermeidbar, da es der Natur der Sache entspricht, dass die Anwendung des Rechts auf Einzelfälle nicht stets klar und eindeutig zum selben Ergebnis führt.

165. Darüber hinaus schließt die unionsrechtliche Harmonisierung der Asylregeln gewisse Ermessenspielräume der Mitgliedstaaten nicht aus. So sieht, wie Frankreich geltend macht, insbesondere der vom vorlegenden Gericht in der Rechtssache C‑254/21 angeführte Art. 8 der Qualifikationsrichtlinie vor, dass die Mitgliedstaaten feststellen können, dass ein Antragsteller keinen internationalen Schutz benötigt, wenn er in einem Teil seines Herkunftslands, der ihm zugänglich ist, Schutz vor Verfolgung finden kann. Umgekehrt können die Mitgliedstaaten gemäß dem 14. Erwägungsgrund und Art. 3 der Qualifikationsrichtlinie günstigere Normen zur Entscheidung darüber, wer als Flüchtling oder Person gilt, die Anspruch auf subsidiären Schutz hat, und zur Bestimmung des Inhalts des internationalen Schutzes erlassen oder beibehalten, sofern sie mit dieser Richtlinie vereinbar sind.

166. Vor dem Hintergrund des gegenseitigen Vertrauens der Mitgliedstaaten können daher – wenn im ersuchten Mitgliedstaat keine systemischen Mängel vorliegen – Meinungsverschiedenheiten zwischen den Behörden und Gerichten des ersuchenden und des ersuchten Mitgliedstaats hinsichtlich der Auslegung der materiellen Voraussetzungen für internationalen Schutz nicht als systemische Schwachstellen qualifiziert werden. Sie können auch nicht dazu führen, dass die Zuständigkeit für die materielle Prüfung des Antrags auf den ersuchenden Mitgliedstaat übergeht.

167. Soweit solche Meinungsverschiedenheiten die Auslegung unionsrechtlicher Bestimmungen betreffen, obliegt es den Gerichten des nach der Dublin‑III-Verordnung zuständigen Mitgliedstaats, den Gerichtshof gemäß Art. 267 AEUV anzurufen. Ist ein Mitgliedstaat der Ansicht, ein anderer Mitgliedstaat wende diese Verordnung fehlerhaft an und lege Fragen entgegen Art. 267 Abs. 3 AEUV nicht dem Gerichtshof vor, so steht es ihm offen, ein Vertragsverletzungsverfahren nach Art. 259 AEUV anzustrengen. Es ist hingegen nicht Aufgabe der Gerichte eines nicht zuständigen Mitgliedstaats, selbst an diese Stelle zu treten und eine (vermeintlich) gebotene Korrektur der Auslegung einer Norm durch den zuständigen Mitgliedstaat vorzunehmen.

168. Aus alledem folgt, dass die Gerichte des ersuchenden Mitgliedstaats bei der Überprüfung der Überstellungsentscheidung gemäß Art. 27 der Dublin‑III-Verordnung in Ermangelung systemischer Mängel insbesondere des Justizsystems im ersuchten Mitgliedstaat nicht prüfen dürfen, ob in diesem Mitgliedstaat ein Verstoß gegen den Grundsatz der Nichtzurückweisung droht. Denn dies würde auf eine Prüfung des Antrags auf internationalen Schutz in der Sache hinauslaufen, die im Rahmen der gerichtlichen Überprüfung der Überstellungsentscheidung gemäß Art. 27 der Dublin‑III-Verordnung gerade nicht vorgesehen ist.

169. Das von verschiedenen Beteiligten der vorliegenden Verfahren diskutierte Urteil in der Rechtssache C. K. u. a.(74) steht dieser Feststellung nicht entgegen. In diesem Urteil hat der Gerichtshof zwar festgestellt, dass die Überstellung eines Asylbewerbers auch in einem Fall unzulässig sein kann, in dem keine systemischen Schwachstellen im ersuchten Mitgliedstaat vorliegen. Dies betraf jedoch eine Situation, in der aufgrund des Gesundheitszustands des Betroffenen die Überstellung in den ersuchten Mitgliedstaat als solche – und damit unabhängig von den Zuständen in diesem Mitgliedstaat – potenziell eine mit Art. 4 der Charta unvereinbare Behandlung darstellen konnte. Dementsprechend hat der Gerichtshof klargestellt, dass in einem solchen Fall auch bei Absehen von der Überstellung der Grundsatz des gegenseitigen Vertrauens voll und ganz gewahrt bleibt. Denn hier wird die Existenz einer Vermutung für die Einhaltung der Grundrechte in allen Mitgliedstaaten durch diese Nichtüberstellung nicht berührt(75).

170. Einem solchen Fall entsprechen die vorliegenden Fälle – vorbehaltlich einer Prüfung durch die vorlegenden Gerichte – aber gerade nicht. Damit würde hier durch das Absehen von der Überstellung aufgrund von Zweifeln an der Rechtmäßigkeit der Überstellungsentscheidungen, die nicht durch systemische Mängel in den ersuchten Mitgliedstaaten begründet sind, der Grundsatz des gegenseitigen Vertrauens ausgehebelt.

171. Somit sind die Gerichte der ersuchenden Mitgliedstaaten vorliegend im Sinne der in Nr. 156 angeführten Rechtsprechung unionsrechtlich verpflichtet, die Beachtung der Grundrechte durch die ersuchten Mitgliedstaaten zu unterstellen. Sie dürfen daher nicht prüfen, ob diese anderen Mitgliedstaaten die durch die Union gewährleisteten Grundrechte tatsächlich beachtet haben.

2.      Zur Ermessensklausel in Art. 17 Abs. 1 der DublinIII-Verordnung

172. Wie soeben dargelegt, wird nach Art. 3 Abs. 1 der Dublin‑III-Verordnung ein Antrag auf internationalen Schutz von einem einzigen Mitgliedstaat geprüft, der nach den Kriterien des Kapitels III dieser Verordnung als zuständiger Staat bestimmt wird. Abweichend davon kann jeder Mitgliedstaat nach Art. 17 Abs. 1 dieser Verordnung beschließen, einen bei ihm von einem Drittstaatsangehörigen oder Staatenlosen gestellten Antrag auf internationalen Schutz zu prüfen, auch wenn er nach diesen Kriterien nicht für die Prüfung zuständig ist.

173. In Ergänzung ihrer Fragen zu Art. 3 Abs. 2 der Dublin‑III-Verordnung wollen die vorlegenden Gerichte in den Rechtssachen C‑254/21 und C‑297/21 wissen, ob der ersuchende Mitgliedstaat zur Anwendung der Ermessensklausel in Art. 17 Abs. 1 verpflichtet ist, wenn im ersuchten Mitgliedstaat das Risiko eines Verstoßes gegen den Grundsatz der Nichtzurückweisung besteht. Darüber hinaus fragen sie, ob sie die Behörden des ersuchenden Mitgliedstaats in diesem Fall zur Anwendung dieser Klausel verpflichten können.

174. Wie soeben erläutert, dürfen in einem Fall, in dem im ersuchten Mitgliedstaat keine systemischen Mängel bestehen, weder die Behörden noch die Gerichte des ersuchenden Mitgliedstaats das Risiko einer Verletzung des Grundsatzes der Nichtzurückweisung durch den ersuchten Mitgliedstaat prüfen. Dementsprechend kann ein Gericht des ersuchenden Mitgliedstaats die Behörden dieses Mitgliedstaats in einem solchen Fall auch nicht zur Anwendung der Ermessensklausel in Art. 17 Abs. 1 der Dublin‑III-Verordnung verpflichten.

175. Nur ergänzend weise ich daher darauf hin, dass der Gerichtshof bereits klargestellt hat, dass die Anwendung dieser Klausel für die Mitgliedstaaten fakultativ und an keine besondere Bedingung geknüpft ist(76). Diese Befugnis hat vielmehr zum Ziel, die Prärogativen der Mitgliedstaaten bei der Ausübung des Rechts auf Gewährung internationalen Schutzes zu wahren. Sie soll es jedem Mitgliedstaat ermöglichen, sich aus politischen, humanitären oder praktischen Erwägungen bereit zu erklären, einen Antrag auf internationalen Schutz zu prüfen, wobei sie den Mitgliedstaaten ein weites Ermessen einräumt(77). Die Mitgliedstaaten sind daher unionsrechtlich niemals zur Anwendung dieser Klausel verpflichtet, auch nicht aus humanitären Erwägungen wie dem Gesundheitszustand des Antragstellers oder dem Kindeswohl(78).

176. Dies ist dadurch gerechtfertigt, dass das Dublin-System, wie oben dargelegt, auf der Prämisse fußt, dass alle Mitgliedstaaten die Grundrechte achten. Daher ist davon auszugehen, dass alle Mitgliedstaaten humanitäre Erwägungen hinreichend berücksichtigen. Dieses Vertrauen kann, wie erläutert, nur erschüttert werden, wenn systemische Mängel genau daran zweifeln lassen. In diesem Fall wird die Zuständigkeit des ersuchenden Mitgliedstaats aber durch Art. 3 Abs. 2 der Dublin‑III-Verordnung begründet, so dass es nicht notwendig ist, auf Art. 17 Abs. 1 zu rekurrieren.

177. Zwar hat der Gerichtshof festgestellt, dass die Weigerung eines Mitgliedstaats, Art. 17 Abs. 1 der Dublin‑III-Verordnung anzuwenden, gegebenenfalls im Rahmen eines Rechtsbehelfs gegen die Überstellungsentscheidung angefochten werden kann(79). In Anbetracht des weiten Ermessens, das den Mitgliedstaaten bei dieser Anwendung eingeräumt wird, verlangt das Unionsrecht jedoch nur eine gerichtliche Prüfung, die sich auf offensichtliche Ermessensfehler beschränkt. Solche offensichtlichen Ermessensfehler können aber wiederum nur dann vorliegen, wenn der ersuchende Mitgliedstaat sich nicht für die Prüfung eines Antrags auf internationalen Schutz zuständig erklärt hat, obwohl im ersuchten Mitgliedstaat systemische Mängel bestehen und daher die Tatbestandsvoraussetzungen für die Anwendung von Art. 3 Abs. 2 dieser Verordnung erfüllt sind.

178. Davon unbeschadet bleibt die Möglichkeit der nationalen Gerichte, die Mitgliedstaaten aufgrund von günstigeren Vorschriften des nationalen Rechts zur Zuerkennung von nationalem Schutz zu verpflichten, sofern das nationale Recht dies vorsieht und es mit den Vorschriften der Qualifikationsrichtlinie vereinbar ist(80).

3.      Zwischenergebnis

179. Aus den vorstehenden Erwägungen folgt, dass Art. 3 Abs. 1 und 2, Art. 17 Abs. 1 und Art. 27 der Dublin‑III-Verordnung in Verbindung mit den Art. 4, 19 und 47 der Charta dahin auszulegen sind, dass das mit einer Klage gegen eine Überstellungsentscheidung befasste Gericht des ersuchenden Mitgliedstaats das Risiko einer Verletzung des Grundsatzes der Nichtzurückweisung durch den ersuchten Mitgliedstaat nicht prüfen darf, wenn in diesem Mitgliedstaat keine systemischen Mängel bestehen, die Zweifel an der Wirksamkeit der gerichtlichen Kontrolle der Maßnahmen rechtfertigen, die die Abschiebung der abgelehnten Asylbewerber ermöglichen. Meinungsverschiedenheiten zwischen den Behörden und Gerichten des ersuchenden und des ersuchten Mitgliedstaats hinsichtlich der Auslegung der materiellen Voraussetzungen für internationalen Schutz sind keine systemischen Mängel.

180. Angesichts dieser Feststellung erübrigt sich die Antwort auf die in Nr. 153 erwähnte Frage 4b) in der Rechtssache C‑254/21.

VI.    Ergebnis

181. Nach alledem schlage ich dem Gerichtshof vor, die Vorlagefragen wie folgt zu beantworten:

1.      Art. 4 der Dublin‑III-Verordnung ist dahin auszulegen, dass die Pflicht zur Aushändigung der dort genannten Informationen sowohl in den von Art. 20 Abs. 1 und Art. 18 Abs. 1 Buchst. a als auch in den von Art. 20 Abs. 5 und Art. 18 Abs. 1 Buchst. b bis d dieser Verordnung erfassten Situationen besteht, sobald in einem Mitgliedstaat ein Antrag auf internationalen Schutz im Sinne von Art. 20 Abs. 2 gestellt wird. Verstöße gegen Art. 4 der Dublin‑III-Verordnung können im Rahmen einer Klage gegen eine Überstellungsentscheidung im Wiederaufnahmeverfahren gerügt werden. Sie müssen jedoch nur dann zur Aufhebung der Überstellungsentscheidung führen, wenn aufgrund der fehlenden Aushändigung der in dieser Bestimmung genannten Informationen ein Element nicht vorgebracht werden konnte, das geeignet wäre, der Überstellung in den ersuchten Mitgliedstaat entgegenzustehen, und wenn dieser Fehler nicht im Verfahren der gerichtlichen Überprüfung dieser Entscheidung gemäß Art. 27 geheilt werden kann.

2.      Art. 29 in Verbindung mit Art. 9 Abs. 1 und Art. 17 Abs. 1 der Eurodac-Verordnung ist dahin auszulegen, dass die Pflicht zur Aushändigung der dort genannten Informationen sowohl in den von Art. 20 Abs. 1 und Art. 18 Abs. 1 Buchst. a als auch in den von Art. 20 Abs. 5 und Art. 18 Abs. 1 Buchst. b bis d der Dublin‑III-Verordnung erfassten Situationen besteht. Verstöße gegen Art. 29 der Eurodac-Verordnung können im Rahmen einer Klage gegen eine Überstellungsentscheidung gemäß Art. 26 der Dublin‑III-Verordnung gerügt werden. Sie müssen allerdings nur dann zur Aufhebung der Überstellungsentscheidung führen, wenn aufgrund der fehlenden Aushändigung der betreffenden Informationen ein Element nicht vorgebracht werden konnte, das geeignet wäre, der Überstellung in den ersuchten Mitgliedstaat entgegenzustehen, und wenn dieser Fehler nicht im Gerichtsverfahren geheilt werden kann.

3.      Art. 5 der Dublin‑III-Verordnung in Verbindung mit dem unionsrechtlichen Grundsatz der Achtung der Verteidigungsrechte ist dahin auszulegen, dass das dort vorgesehene persönliche Gespräch sowohl in den von Art. 20 Abs. 1 und Art. 18 Abs. 1 Buchst. a als auch in den von Art. 20 Abs. 5 und Art. 18 Abs. 1 Buchst. b bis d dieser Verordnung erfassten Situationen zu führen ist. Dies gilt unabhängig davon, ob im ersuchenden Mitgliedstaat ein Antrag auf internationalen Schutz gestellt wurde. Verstöße gegen Art. 5 können im Rahmen einer Klage gegen eine Überstellungsentscheidung gemäß Art. 26 gerügt werden. Solche Verstöße müssen zur Aufhebung der Überstellungsentscheidung führen, wenn das persönliche Gespräch nicht unter Einhaltung der notwendigen Verfahrensgarantien im Verfahren der gerichtlichen Überprüfung dieser Entscheidung gemäß Art. 27 nachgeholt werden kann und sich dabei herausstellt, dass trotz des dabei vorgetragenen Vorbringens keine andere Entscheidung in der Sache ergehen kann. Wenn kein Rechtsbehelf gegen die Überstellungsentscheidung eingelegt wird, kann sie dagegen auch in Ermangelung des persönlichen Gesprächs bestandskräftig werden, sofern die Rechtsbehelfsbelehrung effektiv war.

4.      Art. 3 Abs. 1 und 2, Art. 17 Abs. 1 und Art. 27 der Dublin‑III-Verordnung in Verbindung mit den Art. 4, 19 und 47 der Charta sind dahin auszulegen, dass das mit einer Klage gegen eine Überstellungsentscheidung befasste Gericht des ersuchenden Mitgliedstaats das Risiko einer Verletzung des Grundsatzes der Nichtzurückweisung durch den ersuchten Mitgliedstaat nicht prüfen darf, wenn in diesem Mitgliedstaat keine systemischen Mängel bestehen, die Zweifel an der Wirksamkeit der gerichtlichen Kontrolle der Maßnahmen rechtfertigen, die die Abschiebung der abgelehnten Asylbewerber ermöglichen. Meinungsverschiedenheiten zwischen den Behörden und Gerichten des ersuchenden und des ersuchten Mitgliedstaats hinsichtlich der Auslegung der materiellen Voraussetzungen für internationalen Schutz sind keine systemischen Mängel.


















































































Leave a Comment

Schreibe einen Kommentar