Vorläufige Fassung
SCHLUSSANTRÄGE DES GENERALANWALTS
MANUEL CAMPOS SÁNCHEZ-BORDONA
vom 23. März 2023(1)
Rechtssache C‑21/22
OP,
Beteiligte:
Justyna Gawlica, Notarin
(Vorabentscheidungsersuchen des Sąd Okręgowy w Opolu [Regionalgericht Opole (Oppeln), Polen])
„Vorabentscheidungsverfahren – Justizielle Zusammenarbeit in Zivilsachen – Zuständigkeit, anzuwendendes Recht, Anerkennung und Vollstreckung von Entscheidungen und Annahme und Vollstreckung öffentlicher Urkunden in Erbsachen – Verordnung (EU) Nr. 650/2012 – Anwendungsbereich – Rechtswahl – Bilaterales Abkommen zwischen einem Mitgliedstaat und einem Drittstaat“
1. In diesem Vorabentscheidungsersuchen wird der Gerichtshof zum zweiten Mal wegen desselben Sachverhalts(2) um die Auslegung der Verordnung (EU) Nr. 650/2012(3) ersucht.
2. Im Einzelnen wird der Gerichtshof im Hinblick u. a. auf die Art. 22 und 75 dieser Verordnung zu klären haben,
– ob eine Person, die keine Unionsbürgerin ist, für ihre gesamte Rechtsnachfolge von Todes wegen das Recht ihres Heimatstaats wählen kann (erste Vorlagefrage);
– ob angesichts des Bestehens eines bilateralen Abkommens zwischen Polen und der Ukraine, in dem die Möglichkeit einer Wahl des auf die Rechtsnachfolge von Todes wegen anzuwendenden Rechts nicht ausdrücklich vorgesehen ist, die Verordnung Nr. 650/2012 eine solche Möglichkeit eröffnet (zweite Vorlagefrage).
3. Auf Wunsch des Gerichtshofs werde ich meine Schlussanträge auf die zweite Frage beschränken; dies bedeutet, dass die Auswirkungen von Art. 75 der Verordnung Nr. 650/2012 auf den Rechtsstreit zu prüfen sind(4).
I. Rechtlicher Rahmen
A. Recht der Europäischen Union
1. AEUV
4. In Art. 351 Abs. 1 und 2 heißt es:
„Die Rechte und Pflichten aus Übereinkünften, die vor dem 1. Januar 1958 oder, im Falle später beigetretener Staaten, vor dem Zeitpunkt ihres Beitritts zwischen einem oder mehreren Mitgliedstaaten einerseits und einem oder mehreren dritten Ländern andererseits geschlossen wurden, werden durch die Verträge nicht berührt.
Soweit diese Übereinkünfte mit den Verträgen nicht vereinbar sind, wenden der oder die betreffenden Mitgliedstaaten alle geeigneten Mittel an, um die festgestellten Unvereinbarkeiten zu beheben. Erforderlichenfalls leisten die Mitgliedstaaten zu diesem Zweck einander Hilfe; sie nehmen gegebenenfalls eine gemeinsame Haltung ein.“
2. Verordnung Nr. 650/2012
5. Der 37. Erwägungsgrund lautet:
„Damit die Bürger die Vorteile des Binnenmarkts ohne Einbußen bei der Rechtssicherheit nutzen können, sollte die Verordnung ihnen im Voraus Klarheit über das in ihrem Fall anwendbare Erbstatut verschaffen. Es sollten harmonisierte Kollisionsnormen eingeführt werden, um einander widersprechende Ergebnisse zu vermeiden. Die allgemeine Kollisionsnorm sollte sicherstellen, dass der Erbfall einem im Voraus bestimmbaren Erbrecht unterliegt, zu dem eine enge Verbindung besteht. Aus Gründen der Rechtssicherheit und um eine Nachlassspaltung zu vermeiden, sollte der gesamte Nachlass, d. h. das gesamte zum Nachlass gehörende Vermögen diesem Recht unterliegen, unabhängig von der Art der Vermögenswerte und unabhängig davon, ob diese in einem anderen Mitgliedstaat oder in einem Drittstaat belegen sind.“
6. Der 38. Erwägungsgrund lautet:
„Diese Verordnung sollte es den Bürgern ermöglichen, durch die Wahl des auf die Rechtsnachfolge von Todes wegen anwendbaren Rechts ihren Nachlass vorab zu regeln. Diese Rechtswahl sollte auf das Recht eines Staates, dem sie angehören, beschränkt sein, damit sichergestellt wird, dass eine Verbindung zwischen dem Erblasser und dem gewählten Recht besteht, und damit vermieden wird, dass ein Recht mit der Absicht gewählt wird, die berechtigten Erwartungen der Pflichtteilsberechtigten zu vereiteln.“
7. Im 73. Erwägungsgrund heißt es:
„Um die internationalen Verpflichtungen, die die Mitgliedstaaten eingegangen sind, zu wahren, sollte sich diese Verordnung nicht auf die Anwendung internationaler Übereinkommen auswirken, denen ein oder mehrere Mitgliedstaaten zum Zeitpunkt der Annahme dieser Verordnung angehören. … Um die allgemeinen Ziele dieser Verordnung zu wahren, muss die Verordnung jedoch im Verhältnis zwischen den Mitgliedstaaten Vorrang vor ausschließlich zwischen zwei oder mehreren Mitgliedstaaten geschlossenen Übereinkommen haben, soweit diese Bereiche betreffen, die in dieser Verordnung geregelt sind.“
8. Art. 12 („Beschränkung des Verfahrens“) Abs. 1 lautet:
„Umfasst der Nachlass des Erblassers Vermögenswerte, die in einem Drittstaat belegen sind, so kann das in der Erbsache angerufene Gericht auf Antrag einer der Parteien beschließen, über einen oder mehrere dieser Vermögenswerte nicht zu befinden, wenn zu erwarten ist, dass seine Entscheidung in Bezug auf diese Vermögenswerte in dem betreffenden Drittstaat nicht anerkannt oder gegebenenfalls nicht für vollstreckbar erklärt wird.“
9. Art. 22 („Rechtswahl“) bestimmt in Abs. 1:
„Eine Person kann für die Rechtsnachfolge von Todes wegen das Recht des Staates wählen, dem sie im Zeitpunkt der Rechtswahl oder im Zeitpunkt ihres Todes angehört.“
10. In Art. 75 („Verhältnis zu bestehenden internationalen Übereinkünften“) heißt es:
„(1) Diese Verordnung lässt die Anwendung internationaler Übereinkommen unberührt, denen ein oder mehrere Mitgliedstaaten zum Zeitpunkt der Annahme dieser Verordnung angehören und die Bereiche betreffen, die in dieser Verordnung geregelt sind.
…
(2) Ungeachtet des Absatzes 1 hat diese Verordnung jedoch im Verhältnis zwischen den Mitgliedstaaten Vorrang vor ausschließlich zwischen zwei oder mehreren von ihnen geschlossenen Übereinkünften, soweit diese Bereiche betreffen, die in dieser Verordnung geregelt sind.
…“
B. Polnisches Recht
11. Das polnisch-ukrainische Abkommen vom 24. Mai 1993 über Rechtshilfe und Rechtsbeziehungen in Zivil- und Strafsachen (im Folgenden: bilaterales Abkommen) sieht in Art. 37 vor:
„Rechtsverhältnisse im Zusammenhang mit der Rechtsnachfolge von Todes wegen bei beweglichen Vermögenswerten unterliegen dem Recht der Vertragspartei, deren Staatsangehörigkeit der Erblasser zum Zeitpunkt seines Todes besaß.
Rechtsverhältnisse im Zusammenhang mit der Rechtsnachfolge von Todes wegen bei unbeweglichen Vermögenswerten unterliegen dem Recht der Vertragspartei, in deren Hoheitsgebiet diese Vermögenswerte belegen sind.
Die Einordnung eines zum Nachlass gehörenden Vermögenswerts als beweglicher oder unbeweglicher Vermögenswert unterliegt dem Recht der Vertragspartei, in deren Hoheitsgebiet sich der Vermögenswert befindet.“
II. Sachverhalt, Rechtsstreit und Vorlagefragen
12. OP, eine in Polen wohnhafte ukrainische Staatsangehörige, ist Miteigentümerin einer in Polen belegenen Wohnung. Sie ersuchte einen Notar in Polen um die Errichtung eines Testaments, in dem u. a. zur Regelung ihrer Rechtsnachfolge von Todes wegen ukrainisches Recht gewählt werden sollte.
13. Der Notar lehnte die Errichtung des Testaments ab, weil er die testamentarische Rechtswahl für rechtswidrig hielt(5). Er begründete dies wie folgt:
– Nach einem Beschluss des Sąd Okręgowy w Opolu (Regionalgericht Opole [Oppeln], Polen) vom 28. Februar 2020 zu einer vergleichbaren Situation stehe die in Art. 22 der Verordnung Nr. 650/2012 vorgesehene Rechtswahl nur Angehörigen der Mitgliedstaaten der Europäischen Union offen.
– Unabhängig von dieser Auslegung von Art. 22 der Verordnung Nr. 650/2012 würde die Rechtswahl gegen das bilaterale Abkommen verstoßen, das Vorrang vor den Vorschriften der Verordnung genieße. Es sehe die Möglichkeit einer Wahl des in Erbsachen anzuwendenden Rechts nicht vor; nach seinem Art. 37 sei bei beweglichen Vermögenswerten das Recht des Staates anzuwenden, dessen Staatsangehörigkeit der Erblasser besitze, und bei unbeweglichen Vermögenswerten das Recht des Staates, in dem sie belegen seien.
14. OP focht die Weigerung des Notars beim vorlegenden Gericht an, weil sie auf einem Fehlverständnis der Art. 22 und 75 der Verordnung Nr. 650/2012 beruhe. Dabei machte sie u. a. geltend:
– Nach Art. 22 könne „eine Person“ das auf ihre Rechtsnachfolge von Todes wegen anzuwendende Recht wählen. Die Verordnung Nr. 650/2012 habe, wie sich aus ihrem Art. 20 ergebe, universellen Charakter.
– Art. 75 Abs. 1 der Verordnung Nr. 650/2012 solle ihre Vereinbarkeit mit den Verpflichtungen gewährleisten, die sich aus internationalen Übereinkommen zwischen Mitgliedstaaten und Drittstaaten ergäben. Da das bilaterale Abkommen die Rechtswahl in Erbsachen nicht regele, stehe es der Anwendung von Art. 22 der Verordnung Nr. 650/2012 nicht entgegen.
– Sie hätte das anzuwendende Recht im Einklang mit Art. 22 der Verordnung Nr. 650/2012 wählen können, indem sie in einem anderen Mitgliedstaat, in dem die Verordnung anwendbar sei und der nicht durch ein bilaterales Abkommen mit der Ukraine gebunden sei, eine Verfügung von Todes wegen errichtet hätte.
– Die Auslegung des Notars sei mit dem Grundsatz der Einheitlichkeit der Erbfolge unvereinbar, denn sie würde zu einer Nachlassspaltung führen.
15. In seiner Antwort hob der Notar hervor, dass das bilaterale Abkommen eine eigene Regelung zur Bestimmung des auf die Rechtsnachfolge von Todes wegen anzuwendenden Rechts schaffe. Diese Regelung gehe der Verordnung Nr. 650/2012, einschließlich ihres Art. 22, vor.
16. Vor diesem Hintergrund hat das mit dem Rechtsstreit befasste Sąd Okręgowy w Opolu (Bezirksgericht Opole) dem Gerichtshof folgende Fragen zur Vorabentscheidung vorgelegt:
1. Ist Art. 22 der Verordnung Nr. 650/2012 dahin auszulegen, dass eine Person, die nicht Staatsangehörige eines Mitgliedstaats der Europäischen Union ist, für die Rechtsnachfolge von Todes wegen das Recht ihres Heimatstaats wählen kann?
2. Ist Art. 75 der Verordnung Nr. 650/2012 in Verbindung mit ihrem Art. 22 dahin auszulegen, dass im Fall eines zwischen einem Mitgliedstaat und einem Drittstaat bestehenden bilateralen Abkommens, das zwar nicht die Frage der Rechtswahl in Erbsachen regelt, aber das darauf anwendbare Recht vorgibt, ein Staatsangehöriger dieses Drittstaats, der in dem durch das bilaterale Abkommen gebundenen Mitgliedstaat wohnt, das anwendbare Recht wählen kann?
III. Verfahren vor dem Gerichtshof
17. Das Vorabentscheidungsersuchen ist am 7. Januar 2022 beim Gerichtshof eingegangen.
18. Der Notar, die spanische, die ungarische und die polnische Regierung sowie die Europäische Kommission haben Erklärungen eingereicht.
19. Von einer mündlichen Verhandlung wurde abgesehen.
IV. Analyse
20. In der Situation, die zu dem Rechtsstreit geführt hat, könnten grundsätzlich sowohl die Verordnung Nr. 650/2012 als auch das bilaterale Abkommen zwischen Polen und der Ukraine anwendbar sein(6).
21. Die Normenkonkurrenz erfordert eine Entscheidung darüber, welche von ihnen Vorrang genießt. Die Auswirkungen dieser Wahl sind bei der Wiedergabe der einschlägigen Bestimmungen dargestellt worden:
– Nach der Verordnung Nr. 650/2012 könnte OP in ihrem Testament dafür optieren, dass ihre gesamte Rechtsnachfolge dem Recht ihrer (ukrainischen) Staatsangehörigkeit unterliegt.
– Diese Option hätte OP hingegen nicht, wenn das Schweigen des bilateralen Abkommens zur Rechtswahl deren Ausschluss bedeuten würde(7).
22. In diesem Kontext ersucht das vorlegende Gericht um die Auslegung von Art. 75 der Verordnung Nr. 650/2012 in Verbindung mit deren Art. 22.
23. Im Allgemeinen konzentrieren sich die beim Gerichtshof eingereichten Erklärungen auf Art. 75 Abs. 1 (speziell auf dessen Satz 1)(8). Ich bin hingegen der Ansicht, dass auch Abs. 2 berücksichtigt werden muss, will man Abs. 1 richtig verstehen.
24. Zusammen bilden die beiden Absätze eine Vereinbarkeits- oder Koordinierungsklausel, mit der
– dafür gesorgt werden soll, dass die von den Mitgliedstaaten(9) vor der Annahme der Verordnung Nr. 650/2012 eingegangenen völkerrechtlichen Verpflichtungen gewahrt werden (Abs. 1) und
– zugleich die Ziele der Verordnung Nr. 650/2012 geschützt werden, weshalb die Verordnung schlechthin Vorrang vor Übereinkünften hat, die nur zwischen zwei oder mehreren Mitgliedstaaten geschlossen wurden (Abs. 2).
25. Falls es sich um ein bilaterales Abkommen zwischen einem Mitgliedstaat und einem Drittstaat handelt(10), das vor der Annahme der Verordnung Nr. 650/2012 geschlossen wurde, könnte sich die genaue Bedeutung ihres Art. 75 bereits aus dessen Wortlaut ergeben.
26. Auf den ersten Blick würde nämlich Art. 75 Abs. 1 in der Zusammenschau mit Abs. 2 die These stützen, dass ein Abkommen mit solchen Merkmalen im Konfliktfall der Verordnung Nr. 650/2012 automatisch vorgeht(11). Nach Art. 75 Abs. 1 lässt die Verordnung „die Anwendung internationaler Übereinkommen unberührt, denen ein oder mehrere Mitgliedstaaten zum Zeitpunkt der Annahme dieser Verordnung angehören und die Bereiche betreffen, die in dieser Verordnung geregelt sind“.
27. Diese These könnte sich allerdings als voreilig erweisen, wenn – wie in anderen beim Gerichtshof eingereichten Erklärungen argumentiert wird(12) – die Rechtsprechung zu Art. 57 des Brüsseler Übereinkommens(13) und zu Art. 71 der Verordnung Nr. 44/2001(14) analog anzuwenden sein sollte.
28. Ich werde diese verschiedenen Ansätze prüfen, bevor ich auf die eigentliche Vorlagefrage eingehe.
A. Vereinbarkeit der Verordnung Nr. 650/2012 mit zuvor geschlossenen internationalen Übereinkünften
29. Art. 75 der Verordnung Nr. 650/2012 ist in den europäischen Rechtsakten über die justizielle Zusammenarbeit in Zivil- und Handelssachen kein Einzelfall.
30. Andere Übereinkünfte und Verordnungen über die Beziehungen zwischen Privatpersonen im europäischen Raum der Freiheit, der Sicherheit und des Rechts enthalten Vorschriften gleichen Zuschnitts. Dies ist der Fall bei Art. 57 des Brüsseler Übereinkommens(15), Art. 71 der Verordnung Nr. 44/2001(16) sowie der gleichen Vorschrift in der Verordnung (EU) Nr. 1215/2012(17), Art. 69 der Verordnung (EU) Nr. 4/2009(18) oder Art. 62 der Verordnung (EU) 2016/1103(19).
31. Zu diesen Klauseln lässt sich sagen, dass sie im Wesentlichen identisch sind(20), da
– sie die Anwendung internationaler Übereinkünfte, denen ein oder mehrere Mitgliedstaaten angehören und die die gleichen Sachgebiete regeln, nicht beeinträchtigen sollen,
– wobei es jedoch im Fall der Anwendung zwischen Mitgliedstaaten Nuancen gibt.
32. Zu den Koordinierungsklauseln im Brüsseler Übereinkommen (Art. 57) und in der Verordnung Nr. 44/2001 (Art. 71) hat sich der Gerichtshof wie folgt geäußert:
– Sie beziehen sich auf Übereinkünfte, die zwischen allen Mitgliedstaaten oder nur zwischen einigen von ihnen geschlossen wurden, wobei ihr Vorrang vor dem europäischen Rechtsakt nicht davon abhängt, dass ihnen auch Drittstaaten angehören(21).
– Hält eine für ein bestimmtes Sachgebiet geltende spezielle Übereinkunft keine spezifische Lösung für ein konkretes Problem bereit, wohl aber europäische Rechtsvorschriften, wenden die Mitgliedstaaten Letztere an(22).
– Im Fall konkurrierender Vorschriften der Übereinkunft und des europäischen Rechtsakts haben die Vorschriften der Übereinkunft nicht nur im Verhältnis zu Drittstaaten, sondern auch zwischen den Mitgliedstaaten Vorrang(23).
– Allerdings darf in den durch spezielle Übereinkünfte geregelten Sachgebieten die Anwendung darin enthaltener Vorschriften durch die Mitgliedstaaten nicht die Grundsätze beeinträchtigen, auf denen die justizielle Zusammenarbeit in Zivil- und Handelssachen in der Europäischen Union beruht(24). Die Koordinierungsklausel „darf in [ihrer] Tragweite nicht mit den Grundsätzen kollidieren, die der Regelung, zu der [sie] gehört, zugrunde liegen“(25).
33. Ich habe schon vorweggenommen, dass in einigen Erklärungen von Verfahrensbeteiligten befürwortet wird, diese Rechtsprechung (genauer gesagt ihre Wirkungsweise) auf die Auslegung von Art. 75 der Verordnung Nr. 650/2012 zu übertragen.
34. Ich habe daran verschiedene Zweifel.
35. Meines Erachtens ist kein größeres Problem darin zu sehen, dass die Koordinierungsklausel des Brüsseler Übereinkommens und seiner Folgeverordnungen das Verhältnis zwischen ihnen und den für ein bestimmtes Sachgebiet geltenden speziellen Übereinkünften betrifft, während sich die in der Verordnung Nr. 650/2012 enthaltene Klausel auf alle Übereinkünfte bezieht, die auch von ihr geregelte Bereiche erfassen.
36. Ich glaube nicht, dass dieser Unterschied das Verhältnis zwischen internationalen Übereinkünften und der Verordnung Nr. 650/2012 so stark beeinflusst, dass es zu anderen Ergebnissen kommt als denjenigen, die für den Bereich des Brüsseler Übereinkommens und seiner Folgeverordnungen dargelegt worden sind.
37. Meiner Ansicht nach gilt Folgendes:
– Ein allgemeines Rechtshilfeabkommen (wie das, um das es hier geht) ist nur eine von vielen Übereinkünften, die unter Art. 75 der Verordnung Nr. 650/2012 fallen, wenn einige Bestimmungen dieses Abkommens Aspekte betreffen, die auch in der Verordnung geregelt sind.
– Allerdings erstreckt sich in solchen Fällen die aus Art. 75 der Verordnung Nr. 650/2012 resultierende Verpflichtung, das Abkommen zu respektieren, nicht auf dessen gesamten Inhalt, sondern beschränkt sich auf Vorschriften, deren Anwendungsbereich mit demjenigen von Vorschriften des europäischen Rechtsakts übereinstimmt.
– Auf erbrechtliche Fragen, die im Abkommen nicht geregelt sind, wohl aber in der Verordnung Nr. 650/2012, müssen Mitgliedstaaten, die Vertragsstaaten des Abkommens sind, Letztere anwenden(26).
38. Die Übernahme anderer Aspekte der angeführten Rechtsprechung bereitet mir größere Schwierigkeiten.
39. Erstens schließt Art. 75 Abs. 2 der Verordnung Nr. 650/2012 bei einer Kollision zwischen den Vorschriften internationaler Übereinkünfte und der Verordnung den Vorrang der Übereinkünfte vor der Verordnung Nr. 650/2012 aus, wenn ihnen nur Mitgliedstaaten angehören(27). In diesem Punkt weicht die Verordnung Nr. 650/2012 von einigen der oben genannten Feststellungen des Gerichtshofs ab(28).
40. Zweitens bin ich nicht sicher, ob und wie die Rechtsprechung des Gerichtshofs zu extrapolieren wäre, die bei der Auslegung von Art. 57 des Brüsseler Übereinkommens und Art. 71 Abs. 1 der Verordnung Nr. 44/2001 die Anwendung internationaler Übereinkünfte durch die Mitgliedstaaten davon abhängig macht, dass „die Grundsätze …, auf denen die justizielle Zusammenarbeit in Zivil- und Handelssachen in der Union beruht“, nicht beeinträchtigt werden(29).
41. Meine Zweifel sind zum Teil darauf zurückzuführen, dass die Reichweite dieser Rechtsprechung nicht besonders klar ist(30). Im Urteil TNT Express Nederland beschränkt der Gerichtshof sie auf „Beziehungen zwischen den Mitgliedstaaten“(31); im selben Urteil nimmt er ebenso wie im Urteil Nipponkoa Insurance Bezug auf die Anwendung von Übereinkünften „im Rahmen der Union“(32), was noch unpräziser ist als die frühere Formulierung. Das Urteil Nickel & Goeldner Spedition schließlich enthält keine ähnliche Formulierung(33).
42. Ich füge hinzu, dass diese Urteile keine Vorgaben für den Fall enthalten, dass der Mitgliedstaat, der eine internationale Übereinkunft unterzeichnet hat, die sich aus ihr ergebenden Verpflichtungen ignorieren müsste, um die Grundsätze, die der justiziellen Zusammenarbeit in Zivil- und Handelssachen in der Europäischen Union zugrunde liegen, nicht zu beeinträchtigen.
43. Es ist für mich allerdings schwer nachvollziehbar, dass unter solchen Umständen das Unionsrecht automatisch bis zu dem Punkt Vorrang haben soll, an dem die Funktionsweise der internationalen Übereinkunft im Verhältnis zu Drittstaaten in Frage gestellt wird. Vielmehr bin ich der Ansicht, dass der Gerichtshof schlicht noch keine Gelegenheit hatte, sich hierzu für den Bereich der justiziellen Zusammenarbeit in Zivil- und Handelssachen zu äußern(34).
44. Er hat dies jedoch in anderen Zusammenhängen getan, in denen er
– ausdrücklich ausführt, dass „die Mitgliedstaaten bei der Durchführung der Vereinbarungen, die sie aufgrund von internationalen Abkommen eingegangen sind, unabhängig davon, ob es sich um ein Abkommen zwischen Mitgliedstaaten oder zwischen einem Mitgliedstaat und einem oder mehreren Drittstaaten handelt, vorbehaltlich des Art. 307 EG ihre Verpflichtungen aus dem Gemeinschaftsrecht beachten müssen“(35);
– ferner darauf hinweist, dass es von einer solchen Regel Abweichungen aufgrund des Erfordernisses geben kann, das Gleichgewicht und die Gegenseitigkeit zu wahren, die Abkommen zwischen einem Mitgliedstaat und einem Drittstaat zugrunde liegen, solange Letzterer diese Eigenschaft behält(36).
45. Ich denke, dass diese Erwägungen auf den Bereich der grenzüberschreitenden justiziellen Zusammenarbeit in Zivil- und Handelssachen übertragbar sind.
46. Der Abschluss einer Übereinkunft in diesem Bereich ist das Ergebnis von Verhandlungen, in deren Rahmen die Rechte und Pflichten der Vertragsstaaten anhand des Grundsatzes der Gegenseitigkeit festgelegt werden.
47. Dies erscheint mir besonders klar bei Übereinkünften mit einem breiten Regelungsspektrum wie dem bilateralen Abkommen von 1993 zwischen Polen und der Ukraine, das in einer ganz spezifischen historischen Konstellation darauf abzielt, eine Struktur für die gegenseitige Rechtshilfe in Zivil- und Strafsachen zu schaffen, abgesehen davon, dass den Angehörigen beider Staaten im Wege der Gegenseitigkeit Vorrechte eingeräumt werden.
48. Selbst wenn die Anwendung des bilateralen Abkommens in Polen aufgrund der aktuellen Umstände so zu verstehen sein sollte, dass sie „im Rahmen der Union“ erfolgt, bin ich der Ansicht, dass vor einer vorrangigen Anwendung der europäischen Vorschriften zu klären wäre, ob dieser Mitgliedstaat, wenn er sich an sie hält, nicht das Gleichgewicht zwischen den Pflichten und Rechten beider Parteien aus dem Abkommen in Gefahr bringt(37).
49. Besteht ein Widerspruch zwischen den Grundsätzen oder Vorschriften(38) eines europäischen Rechtsakts (der Verordnung Nr. 650/2012), der in einem Mitgliedstaat (Polen) gilt, und denjenigen eines bilateralen Abkommens, an das dieser Staat schon vor seinem Beitritt zur Union(39) gebunden war, mit einem Drittstaat (Ukraine), könnte die unbedingte Unterwerfung des Mitgliedstaats unter die Grundsätze und Normen des Unionsrechts womöglich nicht in jedem Fall die korrekte Antwort darstellen(40).
50. Meiner Ansicht nach besteht jedoch kein echter Widerspruch zwischen der Verordnung Nr. 650/2012 und dem bilateralen Abkommen, um das es hier geht. Ich werde im Folgenden erläutern, warum.
B. Fehlen eines Widerspruchs
1. Die Lösung im bilateralen Abkommen
51. Wie bereits ausgeführt, wurde das bilaterale Abkommen geschlossen, bevor Polen der Union beitrat und bevor die Union eine ausschließliche Zuständigkeit in diesem Bereich für sich beanspruchte(41).
52. In Bezug auf die Rechtsnachfolge von Todes wegen kommt im Abkommen ein dualistisches Modell bzw. ein Modell der Aufteilung zur Anwendung: Für bewegliche Vermögenswerte gilt das Recht der Staatsangehörigkeit des Erblassers zum Zeitpunkt seines Todes und für unbewegliche Vermögenswerte das Recht am Ort der Belegenheit der Sache.
53. Diese Kollisionsnormen werden von Vorschriften über die ausschließliche Zuständigkeit flankiert, so dass die Behörde jedes Staates ihr eigenes Recht auf den von ihr abzuwickelnden Teil des Nachlasses anwendet(42).
54. In der nachfolgenden Argumentation gehe ich von der Prämisse (oder eher Arbeitshypothese) aus, dass das Schweigen des bilateralen Abkommens zur Rechtswahl in Erbsachen bedeutet, dass diese Rechtswahl bei einer unter das Abkommen fallenden Rechtsnachfolge von Todes wegen ausgeschlossen ist(43).
2. Die Lösung in der Verordnung Nr. 650/2012
55. Die Verordnung Nr. 650/2012 wurde angenommen, um Personen die Durchsetzung ihrer Rechte im Zusammenhang mit einem Erbfall mit grenzüberschreitendem Bezug zu erleichtern.
56. Der europäische Gesetzgeber hat nämlich Vorschriften über die Zuständigkeit und das anzuwendende Recht in Erbsachen mit grenzüberschreitendem Bezug sowie über die Anerkennung (oder Annahme) und Vollstreckung in einem anderen Mitgliedstaat ergangener Entscheidungen und dort ausgestellter öffentlicher Urkunden vorgesehen.
57. Die Verordnung Nr. 650/2012 spiegelt bestimmte gesetzgeberische Optionen wider, von denen sich einige als „Grundsätze“ des Systems einstufen lassen(44). In dieser Rechtssache wird gefragt, ob das auf die Grundsätze der Parteiautonomie und der Einheitlichkeit der Erbfolge zutrifft.
a) Rechtswahlfreiheit
58. Das vorlegende Gericht ersucht den Gerichtshof um Klärung, „ob die freie Wahl des anwendbaren Rechts zu den Grundsätzen gehört, die sich auf die Funktionsweise der Verordnung Nr. 650/2012 beziehen“. Sollte dies der Fall sein, möchte es wissen, ob eine Übereinkunft, die eine solche Freiheit ausschließt, „den Grundsätzen widerspricht, auf denen die justizielle Zusammenarbeit in Zivil- und Handelssachen in der Union beruht“.
59. Meines Erachtens ist dies zu verneinen.
60. Bei der Rechtsnachfolge von Todes wegen mit grenzüberschreitendem Bezug spielt die Parteiautonomie (als Konzept) im Unionsrecht nur eine beschränkte Rolle.
61. Zur Bestimmung des anwendbaren Rechts wird in der Verordnung Nr. 650/2012 ein objektiver Anknüpfungspunkt herangezogen: der Ort des gewöhnlichen Aufenthalts des Erblassers im Zeitpunkt seines Todes. Die Möglichkeit, nach Art. 22 ein anderes Recht zu wählen, ist bezüglich des Gegenstands dieser Wahl eingeschränkt (der Erblasser kann sich nur für das Recht seiner Staatsangehörigkeit entscheiden) und hängt außerdem von den formalen Voraussetzungen ab, die für eine Verfügung von Todes wegen gelten.
62. Unter diesen Umständen glaube ich nicht, dass man in kollisionsrechtlicher Hinsicht der Parteiautonomie den Rang eines Leitprinzips der Verordnung Nr. 650/2012 beimessen kann.
63. Ich gehe deshalb davon aus, dass es keinen Grundsatz des Unionsrechts gibt, der verhindert, dass dem Erblasser durch ein bilaterales Abkommen die Freiheit zur Wahl des Rechts, das auf seine Erbsache angewandt werden soll, genommen wird. Erst recht stellt das Unionsrecht keine unbedingte Pflicht auf, das Schweigen des bilateralen Abkommens zur Rechtswahl dahin auszulegen, dass es sie in Wahrheit gestattet.
b) Einheitlichkeit der Erbfolge
1) Als struktureller Grundsatz
64. Die Einheitlichkeit der Erbfolge (genauer gesagt, die Einheitlichkeit der Regelung, die in der Erbsache angewandt wird) gehört hingegen, anders als der vorgenannte Grundsatz, zu den Grundsätzen, auf denen die Verordnung Nr. 650/2012 beruht. Unter ihren zahlreichen Ausprägungen ist hervorzuheben, dass
– ein und derselbe Umstand als Kriterium für die gerichtliche Zuständigkeit und als Anknüpfungspunkt der Kollisionsnorm dient(45);
– die gesamte Rechtsnachfolge von Todes wegen unter ein und dieselbe Zuständigkeit fällt(46);
– der Nachlass als Gesamtheit von Vermögenswerten und Rechten nur einem anwendbaren Recht unterliegt(47);
– die Rechtsnachfolge von Todes wegen als Übergangs- und Erwerbsvorgang von Vermögenswerten und Rechten nur einem anwendbaren Recht unterliegt(48).
65. In der Europäischen Union, die über kein materielles Erbrecht verfügt, ist die Wahl des unitarischen oder monistischen Modells nicht das Ergebnis einer Erstreckung der für diesen Bereich geltenden Konzepte auf den internationalen Kontext. Beim gegenwärtigen Stand ist die Einheitlichkeit der Erbfolge in den genannten Formen die technische Lösung, die den Integrationszielen der Union am besten entspricht:
– Soweit sie die Anwendung nur eines Rechts auf das gesamte zu übertragende Vermögen voraussetzt, ermöglicht sie den Bürgern(49), ihren Nachlass im Voraus zu regeln(50).
– Der Behörde, die die Rechtsnachfolge von Todes wegen abwickelt, erleichtert die Anwendung nur eines Rechts, vorzugsweise ihres eigenen, die Abwicklung von Nachlässen mit grenzüberschreitenden Elementen(51).
– Derselbe Gesichtspunkt erleichtert in Verbindung mit der Konzentration der Zuständigkeit bei den Gerichten eines Staates im Rahmen der Union den freien Verkehr von Entscheidungen, da er das Risiko miteinander unvereinbarer Entscheidungen oder Judikate bei derselben Rechtsnachfolge von Todes wegen minimiert.
66. Die einheitliche Behandlung der Rechtsnachfolge von Todes wegen war nicht die einzige Lösung, die es in den Mitgliedstaaten gab, als die Verordnung Nr. 650/2012 ausgehandelt wurde. Der europäische Gesetzgeber war sich dessen voll und ganz bewusst(52).
67. Die relative Neuartigkeit dieser Lösung mindert jedoch nicht ihre Schlüsselrolle im System. In den bisher zur Verordnung Nr. 650/2012 ergangenen Urteilen hat der Gerichtshof ihre Eigenschaft als „Grundsatz“ bestätigt(53).
68. Aus dieser Anerkennung ergibt sich, dass
– sich der als Kriterium für die internationale gerichtliche Zuständigkeit oder als Anknüpfungspunkt der Kollisionsnorm dienende gewöhnliche Aufenthalt des Erblassers nur an einem Ort befinden kann(54);
– der sachliche Anwendungsbereich der Verordnung Nr. 650/2012(55) (und damit der lex successionis) weit auszulegen ist.
2) Kein absoluter Grundsatz
69. Klarzustellen ist jedoch, dass die Einheitlichkeit der Erbfolge in keinem der Bereiche, in denen sie wirkt, einen starren Grundsatz darstellt. Nach Auffassung des Gerichtshofs soll die Verordnung Nr. 650/2012 die Vermeidung einer Nachlassspaltung fördern(56), dies stellt aber kein absolutes Gebot dar(57).
70. Die Fälle, in denen die einheitliche Abwicklung der Rechtsnachfolge von Todes wegen auseinanderfällt, sind in der Verordnung Nr. 650/2012 zahlreich. Ohne Anspruch auf Vollständigkeit wird dies dadurch bestätigt, dass
– Entscheidungen, die sich auf bestimmte Vermögenswerte eines Nachlasses bzw. auf spezielle Aspekte des erbrechtlichen Verfahrens beziehen, von einem anderen als dem nach der Verordnung Nr. 650/2012 für die Entscheidung über den gesamten Nachlass zuständigen Gericht erlassen werden können(58);
– das nach der gemeinsamen Regel zuständige Gericht unter bestimmten Voraussetzungen entscheiden kann, über in einem Drittstaat befindliche Vermögenswerte nicht zu befinden(59);
– die Übereinstimmung von forum und ius in mehreren Fällen verloren geht, u. a. aufgrund einer Rechtswahl des Erblassers(60), wenn er Angehöriger eines Drittstaats ist(61) (Korrektive wie Rück- und Weiterverweisung nach Art. 34 der Verordnung Nr. 650/2012 ausgenommen) oder wenn die Rechtswahl an das Recht eines Mitgliedstaats anknüpft und die Mechanismen, anhand deren die in der Erbsache angerufene Behörde ihr eigenes Recht anwenden soll, nicht eingreifen(62);
– die Verordnung Nr. 650/2012 die Möglichkeit einer Nachlassspaltung vorsieht und es gestattet, dass bestimmte Aspekte des erbrechtlichen Verfahrens verschiedenen Rechten unterfallen(63) und dass unter bestimmten Voraussetzungen auf die Rechtsnachfolge bei bestimmten Vermögenswerten die lex rei sitae anzuwenden ist(64).
3) Auswirkungen von Art. 12 Abs. 1 der Verordnung Nr. 650/2012
71. Von allen Durchbrechungen des Grundsatzes der Einheitlichkeit der Erbfolge in der Verordnung Nr. 650/2012 möchte ich aufgrund ihrer Relevanz für dieses Vorabentscheidungsersuchen diejenige hervorheben, die in Art. 12 Abs. 1 enthalten ist. Die Vorschrift ist meiner Ansicht nach eine (notwendige) Konzession des europäischen Gesetzgebers an die Paradigmenpluralität bei der Behandlung von Erbsachen mit internationalen Elementen(65).
72. In der Praxis ist festzustellen, dass die Schaffung eines einheitlichen Regelungsmodells ohne Nuancierungen dann zum Scheitern verurteilt ist, wenn der Nachlass unbewegliche Vermögenswerte umfasst, die in Staaten belegen sind, die sich für das gegenteilige Modell entschieden haben (dualistisches Modell oder Modell der Aufteilung).
73. In diesen Ländern
– ist die Anwendung der lex rei sitae auf die im Inland belegenen unbeweglichen Vermögenswerte im Allgemeinen zwingend vorgeschrieben;
– ist die internationale gerichtliche Zuständigkeit für Rechtssachen im Zusammenhang mit der Rechtsnachfolge von Todes wegen in solche Vermögenswerte als ausschließliche Zuständigkeit ausgestaltet;
– ist es infolgedessen gerechtfertigt, die Anerkennung ausländischer Entscheidungen abzulehnen, die solche Vermögenswerte betreffen(66).
74. Im unionsrechtlichen Rahmen haben die an die Verordnung Nr. 650/2012 gebundenen Mitgliedstaaten das Modell der Nachlasseinheit akzeptiert und können sich nicht dagegen verwahren, dass die Rechtsnachfolge von Todes wegen in unbewegliche Vermögenswerte in ihrem Hoheitsgebiet ausländischem Recht unterliegt oder dass Behörden anderer Mitgliedstaaten in Bezug auf diese Vermögenswerte Entscheidungen treffen(67).
75. Die Verordnung Nr. 650/2012 lässt jedoch erhebliche Abweichungen hiervon zu, indem sie es mittels Art. 12 Abs. 1 ermöglicht, dass das nach ihren Vorschriften zuständige Gericht nicht über in Drittstaaten belegene Vermögenswerte befindet, weil zu befürchten ist, dass die Entscheidung nicht anerkannt oder gegebenenfalls nicht für vollstreckbar erklärt wird.
76. Art. 12 Abs. 1 der Verordnung Nr. 650/2012 wurde vor allem mit Blick auf Drittstaaten geschaffen, die eine ausschließliche Zuständigkeit für Entscheidungen, die die Rechtsnachfolge von Todes wegen in Bezug auf in ihrem Hoheitsgebiet belegene unbewegliche Vermögenswerte betreffen, für sich in Anspruch nehmen. Allerdings kann die Prognose, dass eine Entscheidung in dem Drittstaat keine Wirkungen entfaltet, auch auf jeden anderen Grund gestützt werden, der im Recht dieses Staates vorgesehen ist: beispielsweise, dass nicht das Recht des Belegenheitsstaats der Vermögenswerte angewandt wurde(68).
77. Die mögliche Folge von Art. 12 Abs. 1 der Verordnung Nr. 650/2012 ist das Scheitern der einheitlichen rechtlichen Behandlung einer Erbsache:
– Was die internationale gerichtliche Zuständigkeit angeht, ist es, wenn die nach der Verordnung Nr. 650/2012 zuständigen Gerichte bestimmte Vermögensgegenstände des Nachlasses von ihrer Entscheidung ausnehmen, weil sie befürchten, dass diese im Drittstaat, in dem die Vermögenswerte belegen sind, keine Wirksamkeit entfalten wird, vernünftig, dass die Betroffenen ihre Ansprüche vor den Gerichten dieses Drittstaats geltend machen.
– Was die lex successionis betrifft, so ist, da diese Gerichte sie anhand ihrer Kollisionsnormen bestimmen, die Aufteilung dann vorhersehbar, wenn das gewählte Recht nicht mit dem Recht übereinstimmt, das nach der Verordnung Nr. 650/2012 auf den übrigen Nachlass anzuwenden ist.
78. Das Scheitern der einheitlichen Behandlung impliziert, dass es für Erbsachen noch andere gesetzgeberische Möglichkeiten geben kann als nur das Modell der Nachlasseinheit. In Art. 12 Abs. 1 der Verordnung Nr. 650/2012 zeigt der europäische Gesetzgeber, dass ihm bekannt ist, dass sich manche Drittstaaten für das erbrechtliche Modell der Aufteilung entschieden haben, und dass er bereit ist, dies aus praktischen Gründen ungeachtet der bereits beschriebenen damit verbundenen Folgen zu respektieren.
79. Meines Erachtens muss der Respekt, den Art. 12 der Verordnung Nr. 650/2012 (einseitig) ausdrückt, nicht geringer, sondern größer sein, wenn die dualistische Lösung in einem bilateralen Abkommen zwischen einem Mitgliedstaat und einem Drittstaat enthalten ist, das wie das hier in Rede stehende vor der Annahme dieser Verordnung geschlossen wurde. Hinzu kommt, dass die Verordnung Nr. 650/2012, wie sich aus ihr selbst ergibt, die Anwendung dieser internationalen Übereinkünfte nicht beeinträchtigen will.
C. Hilfsgutachten für den Fall, dass ein Widerspruch vorliegen sollte
80. Für den Fall, dass der Gerichtshof einen Widerspruch zwischen den Grundsätzen der Verordnung Nr. 650/2012 und dem bilateralen Abkommen bejahen sollte, schlage ich vor, Art. 75 der Verordnung Nr. 650/2012 im Licht von Art. 351 AEUV auszulegen.
81. Art. 351 AEUV regelt das Verhältnis zwischen dem Unionsrecht und bestimmten Übereinkünften, denen Mitgliedstaaten und Drittstaaten angehören. Nach den Worten des Gerichtshofs ist er „eine Vorschrift …, die, wenn ihr Tatbestand erfüllt ist, Abweichungen vom Unionsrecht einschließlich des Primärrechts zulassen kann“(69).
82. Widersprüche zwischen einer vor dem Beitritt eines Mitgliedstaats geschlossenen Übereinkunft und einer Vorschrift des Unionsrechts können Gründe für eine solche Abweichung darstellen(70).
83. Bevor die Mitgliedstaaten diese Konsequenz ziehen, müssen sie jedoch nach Art. 351 Abs. 2 AEUV alle geeigneten Mittel anwenden, um Unvereinbarkeiten zwischen dem Unionsrecht und der betreffenden internationalen Übereinkunft zu beheben(71).
84. Aus dieser Prämisse ergibt sich Folgendes:
– Erstens muss der Mitgliedstaat den Widerspruch dadurch vermeiden, dass er das Abkommen im Rahmen des Möglichen unter Beachtung des Völkerrechts im Einklang mit dem Unionsrecht auslegt(72).
– Zweitens muss der Mitgliedstaat, wenn dies nicht möglich ist, die erforderlichen Maßnahmen ergreifen, um die Unvereinbarkeit der Übereinkunft mit dem Unionsrecht zu beseitigen, wenn nötig, indem er sie kündigt. Bis dies geschehen ist, ermächtigt ihn Art. 351 Abs. 1 AEUV, die Übereinkunft weiter anzuwenden(73).
85. Im Ausgangsverfahren würde das Vorstehende bedeuten, dass Polen versuchen müsste, das bilaterale Abkommen unter Beachtung des Völkerrechts so auszulegen, dass es der Verordnung Nr. 650/2012 gerecht wird(74).
86. Sollte dieser Versuch scheitern, müsste das Abkommen entweder geändert oder gekündigt werden. In der Zwischenzeit gestattet das Unionsrecht seine Anwendung, damit die eingegangene internationale Verpflichtung erfüllt wird.
V. Ergebnis
87. Nach alledem schlage ich vor, dem Sąd Okręgowy w Opolu (Bezirksgericht Opole, Polen) wie folgt zu antworten:
Art. 75 der Verordnung (EU) Nr. 650/2012 des Europäischen Parlaments und des Rates vom 4. Juli 2012 über die Zuständigkeit, das anzuwendende Recht, die Anerkennung und Vollstreckung von Entscheidungen, die Annahme und Vollstreckung öffentlicher Urkunden in Erbsachen sowie zur Einführung eines Europäischen Nachlasszeugnisses in Verbindung mit ihrem Art. 22
ist dahin auszulegen, dass
er den Bestimmungen eines vor dem Beitritt eines Mitgliedstaats zur Europäischen Union geschlossenen bilateralen Abkommens zwischen diesem Mitgliedstaat und einem Drittstaat, nach dem ein in dem Mitgliedstaat, der an das bilaterale Abkommen gebunden ist, wohnhafter Drittstaatsangehöriger nicht die Möglichkeit hat, das auf seine Erbsache anzuwendende Recht zu wählen, nicht entgegensteht.