C-18/19 – Stadt Frankfurt am Main

C-18/19 – Stadt Frankfurt am Main

Language of document : ECLI:EU:C:2020:511

URTEIL DES GERICHTSHOFS (Erste Kammer)

2. Juli 2020 (*)

„Vorlage zur Vorabentscheidung – Raum der Freiheit, der Sicherheit und des Rechts – Richtlinie 2008/115/EG – Gemeinsame Normen und Verfahren in den Mitgliedstaaten zur Rückführung illegal aufhältiger Drittstaatsangehöriger – Haftbedingungen – Art. 16 Abs. 1 – Inhaftierung in einer gewöhnlichen Haftanstalt zur Sicherung der Abschiebung – Drittstaatsangehöriger, von dem eine erhebliche Gefahr für die öffentliche Ordnung oder die öffentliche Sicherheit ausgeht“

In der Rechtssache C‑18/19

betreffend ein Vorabentscheidungsersuchen nach Art. 267 AEUV, eingereicht vom Bundesgerichtshof (Deutschland) mit Entscheidung vom 22. November 2018, beim Gerichtshof eingegangen am 11. Januar 2019, in dem Verfahren

WM

gegen

Stadt Frankfurt am Main

erlässt

DER GERICHTSHOF (Erste Kammer)

unter Mitwirkung des Kammerpräsidenten J.‑C. Bonichot, der Vizepräsidentin des Gerichtshofs R. Silva de Lapuerta (Berichterstatterin), der Richter M. Safjan und L. Bay Larsen sowie der Richterin C. Toader,

Generalanwalt: P. Pikamäe,

Kanzler: A. Calot Escobar,

aufgrund des schriftlichen Verfahrens,

unter Berücksichtigung der Erklärungen

–        von WM, vertreten durch Rechtsanwältin S. Basay‑Yildiz,

–        der deutschen Regierung, vertreten durch J. Möller und R. Kanitz als Bevollmächtigte,

–        der schwedischen Regierung, zunächst vertreten durch A. Falk, C. Meyer-Seitz, H. Shev, J. Lundberg und H. Eklinder, dann durch O. Simonsson, C. Meyer-Seitz, H. Shev und H. Eklinder als Bevollmächtigte,

–        der Europäischen Kommission, vertreten durch C. Cattabriga und M. Wasmeier als Bevollmächtigte,

nach Anhörung der Schlussanträge des Generalanwalts in der Sitzung vom 27. Februar 2020

folgendes

Urteil

1        Das Vorabentscheidungsersuchen betrifft die Auslegung von Art. 16 Abs. 1 der Richtlinie 2008/115/EG des Europäischen Parlaments und des Rates vom 16. Dezember 2008 über gemeinsame Normen und Verfahren in den Mitgliedstaaten zur Rückführung illegal aufhältiger Drittstaatsangehöriger (ABl. 2008, L 348, S. 98).

2        Es ergeht im Rahmen eines Rechtsstreits zwischen dem tunesischen Staatsangehörigen WM und der Stadt Frankfurt am Main betreffend die Rechtmäßigkeit der gegen WM ergangenen Entscheidung über seine Inhaftierung in einer gewöhnlichen Haftanstalt zur Sicherung seiner Abschiebung.

 Rechtlicher Rahmen

 Unionsrecht

3        Die Erwägungsgründe 2 und 4 der Richtlinie 2008/115 lauten:

„(2)      Auf seiner Tagung am 4. und 5. November 2004 in Brüssel forderte der Europäische Rat zur Festlegung einer wirksamen Rückkehr- und Rückübernahmepolitik auf, die auf gemeinsamen Normen beruht, die gewährleisten, dass die betreffenden Personen unter vollständiger Achtung der Grundrechte auf menschenwürdige Weise zurückgeführt werden.

(4)      Eine wirksame Rückkehrpolitik als notwendiger Bestandteil einer gut geregelten Migrationspolitik muss mit klaren, transparenten und fairen Vorschriften unterlegt werden.“

4        In Art. 1 der Richtlinie heißt es:

„Diese Richtlinie enthält gemeinsame Normen und Verfahren, die in den Mitgliedstaaten bei der Rückführung illegal aufhältiger Drittstaatsangehöriger im Einklang mit den Grundrechten als allgemeinen Grundsätzen des Gemeinschafts- und des Völkerrechts, einschließlich der Verpflichtung zum Schutz von Flüchtlingen und zur Achtung der Menschenrechte, anzuwenden sind.“

5        Art. 2 der Richtlinie bestimmt:

„(1)      Diese Richtlinie findet Anwendung auf illegal im Hoheitsgebiet eines Mitgliedstaats aufhältige Drittstaatsangehörige.

(2)      Die Mitgliedstaaten können beschließen, diese Richtlinie nicht auf Drittstaatsangehörige anzuwenden:

a)      die einem Einreiseverbot nach Artikel 13 [der Verordnung (EG) Nr. 562/2006 des Europäischen Parlaments und des Rates vom 15. März 2006 über einen Gemeinschaftskodex für das Überschreiten der Grenzen durch Personen (Schengener Grenzkodex) (ABl. 2006, L 105, S. 1)] unterliegen oder die von den zuständigen Behörden in Verbindung mit dem illegalen Überschreiten der Außengrenze eines Mitgliedstaats auf dem Land-, See- oder Luftwege aufgegriffen bzw. abgefangen werden und die nicht anschließend die Genehmigung oder das Recht erhalten haben, sich in diesem Mitgliedstaat aufzuhalten;

b)      die nach einzelstaatlichem Recht aufgrund einer strafrechtlichen Sanktion oder infolge einer strafrechtlichen Sanktion rückkehrpflichtig sind oder gegen die ein Auslieferungsverfahren anhängig ist.

…“

6        Art. 7 Abs. 4 der Richtlinie lautet:

„Besteht Fluchtgefahr oder ist der Antrag auf einen Aufenthaltstitel als offensichtlich unbegründet oder missbräuchlich abgelehnt worden oder stellt die betreffende Person eine Gefahr für die öffentliche Ordnung, die öffentliche Sicherheit oder die nationale Sicherheit dar, so können die Mitgliedstaaten davon absehen, eine Frist für die freiwillige Ausreise zu gewähren, oder sie können eine Ausreisefrist von weniger als sieben Tagen einräumen.“

7        Art. 8 der Richtlinie 2008/115 sieht vor:

„(1)      Die Mitgliedstaaten ergreifen alle erforderlichen Maßnahmen zur Vollstreckung der Rückkehrentscheidung, wenn nach Artikel 7 Absatz 4 keine Frist für die freiwillige Ausreise eingeräumt wurde oder wenn die betreffende Person ihrer Rückkehrverpflichtung nicht innerhalb der nach Artikel 7 eingeräumten Frist für die freiwillige Ausreise nachgekommen ist.

(4)      Machen die Mitgliedstaaten – als letztes Mittel – von Zwangsmaßnahmen zur Durchführung der Abschiebung von Widerstand leistenden Drittstaatsangehörigen Gebrauch, so müssen diese Maßnahmen verhältnismäßig sein und dürfen nicht über die Grenzen des Vertretbaren hinausgehen. Sie müssen nach dem einzelstaatlichen Recht im Einklang mit den Grundrechten und unter gebührender Berücksichtigung der Menschenwürde und körperlichen Unversehrtheit des betreffenden Drittstaatsangehörigen angewandt werden.

…“

8        Art. 15 („Inhaftnahme“) Abs. 1 der Richtlinie 2008/115 bestimmt:

„Sofern in dem konkreten Fall keine anderen ausreichenden, jedoch weniger intensiven Zwangsmaßnahmen wirksam angewandt werden können, dürfen die Mitgliedstaaten Drittstaatsangehörige, gegen die ein Rückkehrverfahren anhängig ist, nur in Haft nehmen, um deren Rückkehr vorzubereiten und/oder die Abschiebung durchzuführen, und zwar insbesondere dann, wenn

a)      Fluchtgefahr besteht oder

b)      die betreffenden Drittstaatsangehörigen die Vorbereitung der Rückkehr oder das Abschiebungsverfahren umgehen oder behindern.

Die Haftdauer hat so kurz wie möglich zu sein und sich nur auf die Dauer der laufenden Abschiebungsvorkehrungen [zu] erstrecken, solange diese mit der gebotenen Sorgfalt durchgeführt werden.“

9        Art. 16 („Haftbedingungen“) dieser Richtlinie sieht vor:

„(1)      Die Inhaftierung erfolgt grundsätzlich in speziellen Hafteinrichtungen. Sind in einem Mitgliedstaat solche speziellen Hafteinrichtungen nicht vorhanden und muss die Unterbringung in gewöhnlichen Haftanstalten erfolgen, so werden in Haft genommene Drittstaatsangehörige gesondert von den gewöhnlichen Strafgefangenen untergebracht.

(2)      In Haft genommenen Drittstaatsangehörigen wird auf Wunsch gestattet, zu gegebener Zeit mit Rechtsvertretern, Familienangehörigen und den zuständigen Konsularbehörden Kontakt aufzunehmen.

(3)      Besondere Aufmerksamkeit gilt der Situation schutzbedürftiger Personen. Medizinische Notfallversorgung und die unbedingt erforderliche Behandlung von Krankheiten wird gewährt.

(4)      Einschlägig tätigen zuständigen nationalen und internationalen Organisationen sowie nicht-staatlichen Organisationen wird ermöglicht, in Absatz 1 genannte Hafteinrichtungen zu besuchen, soweit diese Einrichtungen für die Inhaftnahme von Drittstaatsangehörigen gemäß diesem Kapitel genutzt werden. Solche Besuche können von einer Genehmigung abhängig gemacht werden.

(5)      In Haft genommene Drittstaatsangehörige müssen systematisch Informationen erhalten, in denen die in der Einrichtung geltenden Regeln erläutert und ihre Rechte und Pflichten dargelegt werden. Diese Information schließt eine Unterrichtung über ihren nach nationalem Recht geltenden Anspruch auf Kontaktaufnahme mit den in Absatz 4 genannten Organisationen und Stellen ein.“

10      Art. 17 Abs. 2 der Richtlinie lautet:

„Bis zur Abschiebung in Haft genommene Familien müssen eine gesonderte Unterbringung erhalten, die ein angemessenes Maß an Privatsphäre gewährleistet.“

11      Art. 18 Abs. 1 dieser Richtlinie bestimmt:

„Führt eine außergewöhnlich große Zahl von Drittstaatsangehörigen, deren Rückkehr sicherzustellen ist, zu einer unvorhersehbaren Überlastung der Kapazitäten der Hafteinrichtungen eines Mitgliedstaats oder seines Verwaltungs- oder Justizpersonals, so kann der betreffende Mitgliedstaat, solange diese außergewöhnliche Situation anhält, die für die gerichtliche Überprüfung festgelegten Fristen über die in Artikel 15 Absatz 2 Unterabsatz 3 genannten Fristen hinaus verlängern und dringliche Maßnahmen in Bezug auf die Haftbedingungen ergreifen, die von den Haftbedingungen nach den Artikeln 16 Absatz 1 und 17 Absatz 2 abweichen.“

 Deutsches Recht

12      § 58a Abs. 1 des Gesetzes über den Aufenthalt, die Erwerbstätigkeit und die Integration von Ausländern im Bundesgebiet (Aufenthaltsgesetz) vom 30. Juli 2004 (BGBl. I 2004, S. 1950) in seiner auf den Sachverhalt des Ausgangsverfahrens anwendbaren Fassung (im Folgenden: AufenthG) sieht vor:

„Die oberste Landesbehörde kann gegen einen Ausländer auf Grund einer auf Tatsachen gestützten Prognose zur Abwehr einer besonderen Gefahr für die Sicherheit der Bundesrepublik Deutschland oder einer terroristischen Gefahr ohne vorhergehende Ausweisung eine Abschiebungsanordnung erlassen. Die Abschiebungsanordnung ist sofort vollziehbar; einer Abschiebungsandrohung bedarf es nicht.“

13      § 62a Abs. 1 AufenthG bestimmt:

„Die Abschiebungshaft wird grundsätzlich in speziellen Hafteinrichtungen vollzogen. Sind spezielle Hafteinrichtungen im Bundesgebiet nicht vorhanden oder geht von dem Ausländer eine erhebliche Gefahr für Leib und Leben Dritter oder bedeutende Rechtsgüter der inneren Sicherheit aus, kann sie in sonstigen Haftanstalten vollzogen werden; die Abschiebungsgefangenen sind in diesem Fall getrennt von Strafgefangenen unterzubringen. …“

 Ausgangsrechtsstreit und Vorlagefrage

14      WM ist ein tunesischer Staatsangehöriger, der sich in Deutschland aufhielt. Mit Verfügung vom 1. August 2017 ordnete das Land Hessen die auf § 58a Abs. 1 AufenthG gestützte Abschiebung des Betroffenen nach Tunesien an, und begründete diese Entscheidung damit, dass er eine besondere Gefahr für die nationale Sicherheit darstelle, insbesondere im Hinblick auf seine Persönlichkeit, sein Verhalten, seine radikal-islamistische Gesinnung, seine Einstufung als „Schleuser und Rekrutierer für den ,Islamischen Staat‘“ durch den Verfassungsschutz sowie seine Tätigkeit für diese terroristische Vereinigung in Syrien.

15      Vor dem Bundesverwaltungsgericht erhob WM zum einen Klage gegen die Verfügung vom 1. August 2017 und stellte zum anderen einen Antrag auf Gewährung vorläufigen Rechtsschutzes und Aussetzung des Vollzugs dieser Verfügung. Mit Beschluss vom 19. September 2017 lehnte das Bundesverwaltungsgericht den Antrag auf Gewährung vorläufigen Rechtsschutzes mit der Begründung ab, es sei hinreichend wahrscheinlich, dass WM einen Terroranschlag in Deutschland verüben werde.

16      Mit Entscheidung vom 18. August 2017 ordnete das Amtsgericht Frankfurt am Main auf Antrag der zuständigen Ausländerbehörde gemäß § 62a Abs. 1 AufenthG an, WM zur Sicherung seiner Abschiebung bis zum 23. Oktober 2017 in einer sonstigen Haftanstalt zu inhaftieren.

17      WM legte gegen diese Entscheidung beim Landgericht Frankfurt am Main Beschwerde ein, die mit Beschluss vom 24. August 2017 zurückgewiesen wurde. Mit seiner gegen diesen Beschluss beim Bundesgerichtshof eingelegten Rechtsbeschwerde möchte WM für den Zeitraum vom 18. August bis zum 23. Oktober 2017 feststellen lassen, dass seine Inhaftierung rechtswidrig war.

18      Am 9. Mai 2018 wurde WM nach Tunesien abgeschoben.

19      In diesem Zusammenhang möchte das vorlegende Gericht wissen, ob nach Art. 16 Abs. 1 der Richtlinie 2008/115 ein Mitgliedstaat einen illegal aufhältigen Drittstaatsangehörigen zur Sicherung der Abschiebung in einer gewöhnlichen Haftanstalt getrennt von Strafgefangenen inhaftieren darf, wenn dies nicht aufgrund fehlender Abschiebeeinrichtungen in diesem Mitgliedstaat geschieht, sondern weil von diesem Drittstaatsangehörigen eine erhebliche Gefahr für Leib und Leben Dritter oder für die nationale Sicherheit ausgeht.

20      Nach Auffassung des vorlegenden Gerichts hängt die Entscheidung des bei ihm anhängigen Rechtsstreits davon ab, wie Art. 16 Abs. 1 der Richtlinie 2008/115 auszulegen ist.

21      Unter diesen Umständen hat der Bundesgerichtshof beschlossen, das Verfahren auszusetzen und dem Gerichtshof folgende Frage zur Vorabentscheidung vorzulegen:

Steht Art. 16 Abs. 1 der Richtlinie 2008/115 einer nationalen Regelung entgegen, nach der die Abschiebungshaft in einer gewöhnlichen Haftanstalt vollzogen werden kann, wenn von dem Ausländer eine erhebliche Gefahr für Leib und Leben Dritter oder bedeutende Rechtsgüter der inneren Sicherheit ausgeht, wobei der Abschiebungsgefangene auch in diesem Fall getrennt von Strafgefangenen unterzubringen ist?

 Zur Vorlagefrage

22      Mit seiner Frage möchte das vorlegende Gericht wissen, ob Art. 16 Abs. 1 der Richtlinie 2008/115 dahin auszulegen ist, dass er einer nationalen Regelung entgegensteht, nach der ein illegal aufhältiger Drittstaatsangehöriger zur Sicherung der Abschiebung getrennt von Strafgefangenen in einer gewöhnlichen Haftanstalt untergebracht werden darf, weil von ihm eine erhebliche Gefahr für Leib und Leben Dritter oder für die innere Sicherheit ausgeht.

 Zur sachlichen Anwendbarkeit der Richtlinie 2008/115

23      Die schwedische Regierung bestreitet die Anwendbarkeit von Art. 16 der Richtlinie 2008/115 auf das Ausgangsverfahren. Sie betont, dass gemäß Art. 72 AEUV die gemeinsame Einwanderungspolitik der Europäischen Union, zu der die Richtlinie 2008/115 gehöre, die Wahrnehmung der den Mitgliedstaaten obliegenden Zuständigkeiten für die Aufrechterhaltung der öffentlichen Ordnung und den Schutz der inneren Sicherheit nicht berühre, so dass die Mitgliedstaaten ihre Zuständigkeit für wirksame Maßnahmen der Gefahrenabwehr auch im Zusammenhang mit der Inhaftnahme eines illegal aufhältigen Drittstaatsangehörigen zur Sicherung der Abschiebung behielten. § 62a Abs. 1 AufenthG stelle eine für die Aufrechterhaltung der öffentlichen Ordnung und den Schutz der inneren Sicherheit Deutschlands notwendige Maßnahme dar.

24      Insoweit ist darauf hinzuweisen, dass, wie der Generalanwalt in Nr. 29 seiner Schlussanträge ausgeführt hat, der Umfang des Anwendungsbereichs der Richtlinie 2008/115 anhand deren allgemeiner Systematik zu beurteilen ist, die insbesondere auf der Grundlage von Art. 63 Abs. 1 Nr. 3 Buchst. b EG erlassen wurde. Diese Bestimmung wurde in Art. 79 Abs. 2 Buchst. c AEUV übernommen, der im dritten Teil Titel V („Der Raum der Freiheit, der Sicherheit und des Rechts“) des AEU‑Vertrags zu finden ist.

25      Die Richtlinie 2008/115 findet nach ihrem Art. 2 Abs. 1 Anwendung auf illegal im Hoheitsgebiet eines Mitgliedstaats aufhältige Drittstaatsangehörige. In Art. 2 Abs. 2 der Richtlinie sind die Situationen aufgeführt, in denen die Mitgliedstaaten die Möglichkeit haben, diese Richtlinie nicht anzuwenden. Die dem Gerichtshof übermittelte Akte enthält allerdings keinen Anhaltspunkt dafür, dass die Situation des Rechtsbeschwerdeführers des Ausgangsverfahrens unter eine der in Art. 2 Abs. 2 der Richtlinie genannten Ausnahmen fällt.

26      Ersichtlich fällt die Situation, in der sich der Rechtsbeschwerdeführer des Ausgangsverfahrens befindet, gegen den eine Entscheidung über seine Inhaftierung in einer gewöhnlichen Haftanstalt erging, die auf der Grundlage von § 62a Abs. 1 AufenthG erlassen wurde, durch den Art. 16 Abs. 1 der Richtlinie 2008/115 in die deutsche Rechtsordnung umgesetzt werden soll, sehr wohl in den Anwendungsbereich dieser Richtlinie und insbesondere in den ihres Art. 16 Abs. 1.

27      Die bloße Berufung auf Art. 72 AEUV reicht im vorliegenden Fall nicht aus, um die Anwendung der Richtlinie 2008/115 auszuschließen, auch wenn die nationale Regelung, um die es im Ausgangsverfahren geht, für die Unterbringung eines Abschiebungshäftlings in einer gewöhnlichen Haftanstalt auf das Vorliegen einer besonderen Gefahr für Leib und Leben Dritter oder für bedeutende Rechtsgüter der inneren Sicherheit abstellt.

28      Nach ständiger Rechtsprechung ist es zwar Sache der Mitgliedstaaten, die geeigneten Maßnahmen zu ergreifen, um die öffentliche Ordnung in ihrem Hoheitsgebiet sowie ihre innere und äußere Sicherheit zu gewährleisten, doch bedeutet dies nicht, dass solche Maßnahmen der Anwendung des Unionsrechts völlig entzogen wären (Urteil vom 2. April 2020, Kommission/Polen u. a. [Vorübergehender Umsiedlungsmechanismus für internationalen Schutz beantragende Personen], C‑715/17, C‑718/17 und C‑719/17, EU:C:2020:257, Rn. 143).

29      Art. 72 AEUV, der vorsieht, dass Titel V des AEU-Vertrags die Wahrnehmung der Zuständigkeiten der Mitgliedstaaten für die Aufrechterhaltung der öffentlichen Ordnung und den Schutz der inneren Sicherheit unberührt lässt, kann nicht als eine Ermächtigung der Mitgliedstaaten dazu ausgelegt werden, durch bloße Berufung auf diese Zuständigkeiten von einer Bestimmung des Unionsrechts, hier von Art. 16 der Richtlinie 2008/115, abzuweichen (vgl. in diesem Sinne Urteil vom 2. April 2020, Kommission/Polen u. a. [Vorübergehender Umsiedlungsmechanismus für internationalen Schutz beantragende Personen], C‑715/17, C‑718/17 und C‑719/17, EU:C:2020:257, Rn. 145 und 152).

30      Unter diesen Umständen ist festzustellen, dass das Ausgangsverfahren in den Anwendungsbereich der Richtlinie 2008/115 fällt und die Vorlagefrage zu beantworten ist.

 Zur Beantwortung der Frage

31      Nach der Rechtsprechung des Gerichtshofs stellt Art. 16 Abs. 1 Satz 1 der Richtlinie 2008/115 den Grundsatz auf, dass die Inhaftierung illegal aufhältiger Drittstaatsangehöriger zur Sicherung der Abschiebung in speziellen Hafteinrichtungen erfolgt. Art. 16 Abs. 1 Satz 2 dieser Richtlinie sieht eine Ausnahme von diesem Grundsatz vor, die als solche eng auszulegen ist (Urteil vom 17. Juli 2014, Bero und Bouzalmate, C‑473/13 und C‑514/13, EU:C:2014:2095, Rn. 25).

32      Darüber hinaus hat der Gerichtshof festgestellt, dass Art. 16 Abs. 1 Satz 2 der Richtlinie 2008/115 nicht in allen Sprachfassungen gleich formuliert ist. In der deutschen Fassung lautet diese Bestimmung: „Sind in einem Mitgliedstaat solche speziellen Hafteinrichtungen nicht vorhanden und muss die Unterbringung in gewöhnlichen Haftanstalten erfolgen, so werden in Haft genommene Drittstaatsangehörige gesondert von den gewöhnlichen Strafgefangenen untergebracht.“ In den anderen Sprachfassungen nimmt diese Bestimmung nicht Bezug darauf, dass keine speziellen Hafteinrichtungen vorhanden sind, sondern darauf, dass ein Mitgliedstaat die Drittstaatsangehörigen „nicht“ in solchen Hafteinrichtungen unterbringen „kann“ (Urteil vom 17. Juli 2014, Bero und Bouzalmate, C‑473/13 und C‑514/13, EU:C:2014:2095, Rn. 26).

33      Weichen die verschiedenen Sprachfassungen eines Rechtstexts der Union voneinander ab, muss die fragliche Vorschrift nach ständiger Rechtsprechung anhand der allgemeinen Systematik und des Zwecks der Regelung ausgelegt werden, zu der sie gehört (Urteil vom 14. Mai 2019, M u. a. [Aberkennung der Flüchtlingseigenschaft], C‑391/16, C‑77/17 und C‑78/17, EU:C:2019:403, Rn. 88 und die dort angeführte Rechtsprechung).

34      Was als Erstes die allgemeine Systematik der Richtlinie 2008/115 angeht, verlangt deren Art. 16 Abs. 1 Satz 1, dass die Inhaftierung der betreffenden Drittstaatsangehörigen „grundsätzlich“ in speziellen Hafteinrichtungen erfolgt. Die Verwendung dieses Ausdrucks zeigt, dass die Richtlinie 2008/115 Ausnahmen von diesem Grundsatz zulässt.

35      Nach Art. 18 („Notlagen“) Abs. 1 der Richtlinie 2008/115 kann ein Mitgliedstaat, wenn eine außergewöhnlich große Zahl von Drittstaatsangehörigen, deren Rückkehr sicherzustellen ist, zu einer unvorhersehbaren Überlastung der Kapazitäten der Hafteinrichtungen dieses Mitgliedstaats oder seines Verwaltungs- oder Justizpersonals führt, solange diese außergewöhnliche Situation anhält, dringliche Maßnahmen in Bezug auf die Haftbedingungen ergreifen, die von den Haftbedingungen nach den Art. 16 Abs. 1 und Art. 17 Abs. 2 der Richtlinie 2008/115 abweichen.

36      Obwohl diese dringlichen Maßnahmen nur in den in Art. 18 Abs. 1 der Richtlinie 2008/115 genannten Ausnahmesituationen Anwendung finden, ist festzustellen, dass – wie der Generalanwalt in den Nrn. 64 und 69 seiner Schlussanträge ausgeführt hat – weder aus dem Wortlaut noch aus der Systematik dieser Richtlinie hervorgeht, dass es sich bei diesen Situationen um die einzigen Gründe handelt, auf die sich die Mitgliedstaaten für eine Ausnahme vom Grundsatz der Unterbringung Drittstaatsangehöriger zur Sicherung der Abschiebung in einer speziellen Hafteinrichtung im Sinne von Art. 16 Abs. 1 Satz 1 dieser Richtlinie stützen können.

37      Was als Zweites den Zweck der Richtlinie 2008/115 angeht, zielt diese – wie aus ihren Erwägungsgründen 2 und 4 hervorgeht – auf die Einführung einer wirksamen Rückkehr- und Rückübernahmepolitik unter vollständiger Achtung der Grundrechte und der Würde der Betroffenen ab (Urteil vom 19. Juni 2018, Gnandi, C‑181/16, EU:C:2018:465, Rn. 48 und die dort angeführte Rechtsprechung).

38      Außerdem ist jede angeordnete Inhaftnahme, die unter die Richtlinie 2008/115 fällt, in den Bestimmungen ihres Kapitels IV streng geregelt, damit zum einen die Wahrung des Grundsatzes der Verhältnismäßigkeit im Hinblick auf die eingesetzten Mittel und die angestrebten Ziele und zum anderen die Wahrung der Grundrechte der betreffenden Drittstaatsangehörigen gewährleistet ist (Urteil vom 5. Juni 2014, Mahdi, C‑146/14 PPU, EU:C:2014:1320, Rn. 55). Nach dem sechsten Erwägungsgrund der Richtlinie 2008/115 sollten die Entscheidungen gemäß dieser Richtlinie auf der Grundlage des Einzelfalls und anhand objektiver Kriterien getroffen werden (Urteil vom 5. Juni 2014, Mahdi, C-146/14 PPU, EU:C:2014:1320, Rn. 70).

39      Demnach dürfen die Mitgliedstaaten nach Art. 16 Abs. 1 Satz 2 der Richtlinie 2008/115 ausnahmsweise und über die in deren Art. 18 Abs. 1 ausdrücklich genannten Fälle hinaus, illegal aufhältige Drittstaatsangehörige zur Sicherung der Abschiebung in einer gewöhnlichen Haftanstalt unterbringen, wenn diese Mitgliedstaaten die Inhaftierung in speziellen Hafteinrichtungen aufgrund besonderer Umstände des Einzelfalls nicht sicherstellen und dadurch die mit der Richtlinie verfolgten Ziele nicht einhalten können.

40      Im vorliegenden Fall sieht § 62a Abs. 1 AufenthG vor, dass die Abschiebungshaft grundsätzlich in speziellen Hafteinrichtungen und nur ausnahmsweise, wenn von dem Ausländer eine erhebliche Gefahr für Leib und Leben Dritter oder für bedeutende Rechtsgüter der inneren Sicherheit ausgeht, in einer sonstigen Haftanstalt vollzogen wird. In diesem Fall werden die in Abschiebungshaft genommenen Ausländer getrennt von Strafgefangenen untergebracht.

41      Bei den in dieser Rechtsvorschrift zur Rechtfertigung des Vollzugs der Abschiebungshaft in einer gewöhnlichen Haftanstalt genannten Gründen handelt es sich daher um solche der öffentlichen Ordnung und der öffentlichen Sicherheit. Eine solche Gefahr vermag zu rechtfertigen, dass die Abschiebungshaft eines Drittstaatsangehörigen ausnahmsweise in einer gewöhnlichen Haftanstalt, und zwar gemäß Art. 16 Abs. 1 Satz 2 der Richtlinie 2008/115 getrennt von Strafgefangenen, vollzogen wird, um im Einklang mit den mit dieser Richtlinie verfolgten Zielen den ordnungsgemäßen Ablauf des Abschiebungsverfahrens sicherzustellen.

42      In diesem Zusammenhang ist darauf hinzuweisen, dass es den Mitgliedstaaten zwar im Wesentlichen weiterhin freisteht, nach ihren nationalen Bedürfnissen, die je nach Mitgliedstaat und Zeitpunkt unterschiedlich sein können, zu bestimmen, was die öffentliche Ordnung erfordert, dass jedoch diese Anforderungen im Kontext der Union, insbesondere wenn sie als Rechtfertigung einer Ausnahme von einer Verpflichtung geschaffen wurden, um die Achtung der Grundrechte von Drittstaatsangehörigen bei ihrer Ausweisung aus der Union sicherzustellen, eng zu verstehen sind, so dass ihre Tragweite nicht von jedem Mitgliedstaat einseitig ohne Kontrolle durch die Organe der Union bestimmt werden kann (vgl. in diesem Sinne Urteil vom 11. Juni 2015, Zh. und O., C‑554/13, EU:C:2015:377, Rn. 48).

43      Der Begriff „Gefahr für die öffentliche Ordnung“ im Sinne von Art. 7 Abs. 4 der Richtlinie 2008/115 setzt in seiner Auslegung durch den Gerichtshof jedenfalls voraus, dass außer der Störung der sozialen Ordnung, die jeder Gesetzesverstoß darstellt, eine tatsächliche, gegenwärtige und hinreichend erhebliche Gefahr vorliegt, die ein Grundinteresse der Gesellschaft berührt (Urteil vom 11. Juni 2015, Zh. und O., C‑554/13, EU:C:2015:377, Rn. 60).

44      Zum Begriff „öffentliche Sicherheit“ geht aus der Rechtsprechung des Gerichtshofs hervor, dass er sowohl die innere als auch die äußere Sicherheit eines Mitgliedstaats umfasst, und dass daher die Beeinträchtigung des Funktionierens der Einrichtungen des Staates und seiner wichtigen öffentlichen Dienste sowie das Überleben der Bevölkerung ebenso wie die Gefahr einer erheblichen Störung der auswärtigen Beziehungen oder des friedlichen Zusammenlebens der Völker oder eine Beeinträchtigung der militärischen Interessen die öffentliche Sicherheit berühren können (Urteil vom 15. Februar 2016, N., C‑601/15 PPU, EU:C:2016:84, Rn. 66).

45      Wie der Generalanwalt in Nr. 77 seiner Schlussanträge ausgeführt hat, muss das Erfordernis einer ein Grundinteresse der Gesellschaft berührenden tatsächlichen, gegenwärtigen und hinreichend erheblichen Gefahr als Begründung für die Verkürzung oder Nichtgewährung einer Frist für die freiwillige Ausreise eines Drittstaatsangehörigen gemäß Art. 7 Abs. 4 der Richtlinie 2008/115 erst recht für die Rechtfertigung des Vollzugs der Abschiebungshaft in einer gewöhnlichen Haftanstalt im Sinne von Art. 16 Abs. 1 Satz 2 der Richtlinie 2008/115 gelten.

46      Eine Beeinträchtigung der öffentlichen Ordnung oder der öffentlichen Sicherheit kann daher nur dann rechtfertigen, dass ein Drittstaatsangehöriger nach Art. 16 Abs. 1 Satz 2 der Richtlinie 2008/115 in einer gewöhnlichen Haftanstalt in Abschiebungshaft genommen wird, wenn sein individuelles Verhalten eine tatsächliche, gegenwärtige und hinreichend erhebliche Gefahr darstellt, die ein Grundinteresse der Gesellschaft oder die innere oder äußere Sicherheit des betreffenden Mitgliedstaats berührt (vgl. in diesem Sinne Urteil vom 15. Februar 2016, N., C‑601/15 PPU, EU:C:2016:84, Rn. 67).

47      Die Prüfung, ob diese Voraussetzungen im Ausgangsverfahren erfüllt sind, ist Sache des vorlegenden Gerichts.

48      Nach alledem ist auf die Vorlagefrage zu antworten, dass Art. 16 Abs. 1 der Richtlinie 2008/115 dahin auszulegen ist, dass er einer nationalen Regelung, nach der ein illegal aufhältiger Drittstaatsangehöriger zur Sicherung der Abschiebung getrennt von Strafgefangenen in einer gewöhnlichen Haftanstalt untergebracht werden darf, weil von ihm eine tatsächliche, gegenwärtige und hinreichend erhebliche Gefahr für ein Grundinteresse der Gesellschaft oder für die innere oder äußere Sicherheit des betreffenden Mitgliedstaats ausgeht, nicht entgegensteht.

 Kosten

49      Für die Parteien des Ausgangsverfahrens ist das Verfahren ein Zwischenstreit in den beim vorlegenden Gericht anhängigen Rechtsstreit; die Kostenentscheidung ist daher Sache dieses Gerichts. Die Auslagen anderer Beteiligter für die Abgabe von Erklärungen vor dem Gerichtshof sind nicht erstattungsfähig.

Aus diesen Gründen hat der Gerichtshof (Erste Kammer) für Recht erkannt:

Art. 16 Abs. 1 der Richtlinie 2008/115/EG des Europäischen Parlaments und des Rates vom 16. Dezember 2008 über gemeinsame Normen und Verfahren in den Mitgliedstaaten zur Rückführung illegal aufhältiger Drittstaatsangehöriger ist dahin auszulegen, dass er einer nationalen Regelung, nach der ein illegal aufhältiger Drittstaatsangehöriger zur Sicherung der Abschiebung getrennt von Strafgefangenen in einer gewöhnlichen Haftanstalt untergebracht werden darf, weil von ihm eine tatsächliche, gegenwärtige und hinreichend erhebliche Gefahr für ein Grundinteresse der Gesellschaft oder für die innere oder äußere Sicherheit des betreffenden Mitgliedstaats ausgeht, nicht entgegensteht.

Unterschriften


Leave a Comment

Schreibe einen Kommentar