Vorläufige Fassung
URTEIL DES GERICHTSHOFS (Dritte Kammer)
16. März 2023(*)
„Vertragsverletzung eines Mitgliedstaats – Richtlinie 2008/50/EG – Luftqualität – Urteil des Gerichtshofs, mit dem eine Vertragsverletzung festgestellt wird – Art. 260 Abs. 2 AEUV – Verpflichtung, die Maßnahmen zu ergreifen, die sich aus einem solchen Urteil ergeben – Verstoß gegen diese Verpflichtung, auf den sich die Europäische Kommission beruft – Fehlende Klarheit des Aufforderungsschreibens hinsichtlich der Frage, ob das Urteil zum maßgebenden Zeitpunkt noch durchgeführt werden musste – Grundsatz der Rechtssicherheit – Unzulässigkeit“
In der Rechtssache C‑174/21
betreffend eine Vertragsverletzungsklage nach Art. 260 Abs. 2 AEUV, eingereicht am 21. März 2021,
Europäische Kommission, vertreten durch M. Noll-Ehlers und I. Zaloguin als Bevollmächtigte,
Klägerin,
gegen
Republik Bulgarien, zunächst vertreten durch L. Zaharieva, T. Mitova und M. Georgieva, dann durch L. Zaharieva und T. Mitova als Bevollmächtigte,
Beklagte,
unterstützt durch:
Republik Polen, vertreten durch B. Majczyna als Bevollmächtigten,
Streithelferin,
erlässt
DER GERICHTSHOF (Dritte Kammer)
unter Mitwirkung der Kammerpräsidentin K. Jürimäe sowie der Richter M. Safjan (Berichterstatter), D. Gratsias, N. Piçarra und N. Jääskinen,
Generalanwältin: J. Kokott,
Kanzler: R. Stefanova-Kamisheva, Verwaltungsrätin,
aufgrund des schriftlichen Verfahrens und auf die mündliche Verhandlung vom 21. September 2022,
nach Anhörung der Schlussanträge der Generalanwältin in der Sitzung vom 17. November 2022
folgendes
Urteil
1 Mit ihrer Klage beantragt die Europäische Kommission,
– festzustellen, dass die Republik Bulgarien dadurch gegen ihre Verpflichtungen aus Art. 260 Abs. 1 AEUV hinsichtlich der Gebiete und Ballungsräume BG0001 Sofia, BG0002 Plovdiv, BG0004 Nordbulgarien, BG0005 Südwestbulgarien und BG0006 Südostbulgarien verstoßen hat, dass sie nicht alle erforderlichen Maßnahmen ergriffen hat, die sich aus dem Urteil vom 5. April 2017, Kommission/Bulgarien (C‑488/15, EU:C:2017:267), ergeben;
– die Republik Bulgarien zu verurteilen, einen Pauschalbetrag in Höhe von 3 156 Euro für jeden Tag ab dem Tag der Verkündung des Urteils vom 5. April 2017, Kommission/Bulgarien (C‑488/15, EU:C:2017:267), bis zum Tag der Verkündung des Urteils in der vorliegenden Rechtssache oder, falls der Verstoß früher abgestellt wird, bis zum 31. Dezember des letzten Jahres des Verstoßes, jedenfalls aber nicht weniger als den Mindestpauschalbetrag von 653 000 Euro an die Kommission zu zahlen;
– die Republik Bulgarien zu verurteilen, ein Zwangsgeld von 5 677,20 Euro pro Tag für jedes einzelne Luftqualitätsgebiet, ab dem Tag der Verkündung des Urteils des Gerichtshofs in der vorliegenden Rechtssache bis zu dem Jahr der vollständigen Durchführung des Urteils vom 5. April 2017, Kommission/Bulgarien (C‑488/15, EU:C:2017:267), an die Kommission zu zahlen;
– der Republik Bulgarien die Kosten aufzuerlegen.
Rechtlicher Rahmen
2 In Art. 13 („Grenzwerte und Alarmschwellen für den Schutz der menschlichen Gesundheit“) Abs. 1 der Richtlinie 2008/50/EG des Europäischen Parlaments und des Rates vom 21. Mai 2008 über Luftqualität und saubere Luft für Europa (ABl. 2008, L 152, S. 1) heißt es:
„Die Mitgliedstaaten stellen sicher, dass überall in ihren Gebieten und Ballungsräumen die Werte für Schwefeldioxid, PM10, Blei und Kohlenmonoxid in der Luft die in Anhang XI festgelegten Grenzwerte nicht überschreiten.
…“
3 Art. 23 („Luftqualitätspläne“) Abs. 1 dieser Richtlinie sieht vor:
„Überschreiten in bestimmten Gebieten oder Ballungsräumen die Schadstoffwerte in der Luft einen Grenzwert oder Zielwert zuzüglich einer jeweils dafür geltenden Toleranzmarge, sorgen die Mitgliedstaaten dafür, dass für diese Gebiete oder Ballungsräume Luftqualitätspläne erstellt werden, um die entsprechenden in den Anhängen XI und XIV festgelegten Grenzwerte oder Zielwerte einzuhalten.
Im Falle der Überschreitung dieser Grenzwerte, für die die Frist für die Erreichung bereits verstrichen ist, enthalten die Luftqualitätspläne geeignete Maßnahmen, damit der Zeitraum der Nichteinhaltung so kurz wie möglich gehalten werden kann. Die genannten Pläne können zusätzlich gezielte Maßnahmen zum Schutz empfindlicher Bevölkerungsgruppen, einschließlich Maßnahmen zum Schutz von Kindern, vorsehen.
Diese Luftqualitätspläne müssen mindestens die in Anhang XV Abschnitt A aufgeführten Angaben umfassen und können Maßnahmen gemäß Artikel 24 umfassen. Diese Pläne sind der Kommission unverzüglich, spätestens jedoch zwei Jahre nach Ende des Jahres, in dem die erste Überschreitung festgestellt wurde, zu übermitteln.
…“
4 Art. 27 („Übermittlung von Informationen und Berichten“) dieser Richtlinie bestimmt:
„(1) Die Mitgliedstaaten stellen sicher, dass der Kommission Informationen über die Luftqualität innerhalb der Fristen übermittelt werden, die in den in Artikel 28 Absatz 2 genannten Durchführungsmaßnahmen vorgesehen sind.
(2) Auf jeden Fall müssen diese Informationen speziell zur Beurteilung der Einhaltung der Grenzwerte und der kritischen Werte sowie der Erreichung der Zielwerte – spätestens neun Monate nach Ablauf jedes Jahres – der Kommission übermittelt werden …
…“
5 Gemäß Anhang XI der Richtlinie 2008/50 („Grenzwerte zum Schutz der menschlichen Gesundheit“) beträgt der Tagesgrenzwert für PM10 50 Mikrogramm pro Kubikmeter (μg/m3), die nicht öfter als 35-mal im Kalenderjahr überschritten werden dürfen; der Jahresgrenzwert beträgt 40 μg/m3 pro Kalenderjahr. Laut diesem Anhang war der Tag, ab dem diese Grenzwerte einzuhalten waren, der 1. Januar 2005.
Urteil Kommission/Bulgarien
6 Im Urteil vom 5. April 2017, Kommission/Bulgarien (C‑488/15, EU:C:2017:267), hat der Gerichtshof festgestellt, dass die Republik Bulgarien
– in Bezug auf die systematische und von 2007 bis einschließlich 2014 andauernde Nichteinhaltung sowohl der Tages- als auch der Jahresgrenzwerte für PM10-Konzentrationen in den Gebieten und Ballungsräumen BG0001 Ballungsraum Sofia, BG0002 Ballungsraum Plovdiv, BG0004 Nordbulgarien, BG0005 Südwestbulgarien und BG0006 Südostbulgarien,
– in Bezug auf die systematische und von 2007 bis einschließlich 2014 andauernde Nichteinhaltung des Tagesgrenzwerts für PM10-Konzentrationen im Gebiet BG0003 Ballungsraum Varna und die Nichteinhaltung des Jahresgrenzwerts in den Jahren 2007, 2008 und 2010 bis einschließlich 2014 im Gebiet BG0003 Ballungsraum Varna,
gegen ihre Verpflichtungen aus Art. 13 Abs. 1 der Richtlinie 2008/50 in Verbindung mit deren Anhang XI verstoßen hat.
7 Im Übrigen hat der Gerichtshof entschieden, dass die Republik Bulgarien für den Zeitraum vom 11. Juni 2010 bis einschließlich 2014 im Hinblick darauf, dass die Überschreitungen sowohl der Tages- als auch der Jahresgrenzwerte für PM10-Konzentrationen in allen oben genannten Gebieten und Ballungsräumen fortbestanden, ihren Verpflichtungen aus Art. 23 Abs. 1 Unterabs. 2 der Richtlinie 2008/50 und insbesondere der Verpflichtung, den Zeitraum der Nichteinhaltung so kurz wie möglich zu halten, nicht nachgekommen ist.
Vorverfahren und Verfahren vor dem Gerichtshof
8 Im Anschluss an die Verkündung des Urteils vom 5. April 2017, Kommission/Bulgarien (C‑488/15, EU:C:2017:267), forderte die Kommission die Republik Bulgarien mit Schreiben vom 11. Mai 2017 auf, ihr Informationen über die zur Durchführung dieses Urteils ergriffenen Maßnahmen zu übermitteln.
9 Mit mehreren Schreiben vom 5. Juni 2017 bis zum 26. September 2018 legte die Republik Bulgarien der Kommission die verschiedenen Maßnahmen dar, die ergriffen worden seien, um dieses Urteil durchzuführen, und wies darauf hin, dass bestimmte Grenzwerte für PM10-Konzentrationen in mehreren Stadtgemeinden in den von diesem Urteil erfassten Gebieten nunmehr eingehalten würden.
10 Auf der Grundlage der Rohdaten zur Luftqualität für die Jahre 2015 und 2016 stellte die Kommission fest, dass für diese Jahre der Tagesgrenzwert für PM10-Konzentrationen in keinem der sechs von dem Urteil des Gerichtshofs erfassten Gebiete eingehalten worden sei, während der für diese Konzentrationen geltende Jahresgrenzwert in allen diesen Gebieten mit Ausnahme des Gebiets BG0003 Ballungsraum Varna überschritten worden sei.
11 Daraufhin richtete die Kommission am 9. November 2018 ein Aufforderungsschreiben gemäß Art. 260 Abs. 1 AEUV an die Republik Bulgarien. In diesem Schreiben stellte sie fest, dass die Republik Bulgarien ungefähr eineinhalb Jahre nach der Verkündung des Urteils vom 5. April 2017, Kommission/Bulgarien (C‑488/15, EU:C:2017:267), und fast elf Jahre nach Inkrafttreten der Richtlinie 2008/50 noch immer nicht die erforderlichen Maßnahmen ergriffen habe, um die in diesem Urteil festgestellten Vertragsverletzungen abzustellen. Außerdem forderte sie diesen Mitgliedstaat auf, sich binnen einer Frist von zwei Monaten, die später um einen weiteren Monat bis zum 9. Februar 2019 verlängert wurde (im Folgenden: maßgebender Zeitpunkt), zu äußern und sie über die in der Zwischenzeit möglicherweise erzielten Fortschritte zu informieren.
12 Nachdem die Republik Bulgarien am 8. Januar 2019 eine erste Reihe von Informationen übermittelt hatte, antwortete sie mit Schreiben vom 18. Januar 2019 auf das Aufforderungsschreiben, bevor sie zwischen dem 22. Juli 2019 und dem 1. September 2020 mit mehreren Schreiben zusätzliche Informationen übermittelte. In diesen Schreiben führte sie u. a. aus, dass der Jahresgrenzwert für die Jahre 2017 und 2018 im Gebiet BG0005 Südwestbulgarien eingehalten worden sei, während im Jahr 2019 keine Überschreitung des Jahresgrenzwerts in den Gebieten BG0005 Südwestbulgarien, BG0006 Südostbulgarien und BG0001 Ballungsraum Sofia festgestellt worden sei. Außerdem seien in einigen Stadtgemeinden in diesen Gebieten die Grenzwerte für die Luftqualität weiterhin eingehalten worden, während die Überschreitungen in anderen Stadtgemeinden kontinuierlich abgenommen hätten. In der Folge teilte die Republik Bulgarien mit, sie habe verschiedene Maßnahmen ergriffen, um die verbotenen Überschreitungen zu begrenzen, insbesondere im Zusammenhang mit den Hauptquellen der Umweltverschmutzung, nämlich der Heizung privater Haushalte und dem Verkehr.
13 Die Kommission schloss zwar das Gebiet BG0003 Ballungsraum Varna vorläufig vom Vorverfahren aus, vertrat aber die Auffassung, dass die Republik Bulgarien in Anbetracht der von ihr vorgelegten Informationen sowie der Berichte über die Luftqualität, die nach Art. 27 der Richtlinie 2008/50 für den Zeitraum von 2015 bis 2019 vorgelegt worden seien, nicht alle Maßnahmen ergriffen habe, die sich aus dem Urteil vom 5. April 2017, Kommission/Bulgarien (C‑488/15, EU:C:2017:267), ergäben, da die Jahres- und Tagesgrenzwerte in den anderen fünf von diesem Urteil erfassten Gebieten noch immer nicht eingehalten würden und der Zeitraum der Überschreitung in diesen fünf Gebieten nicht so kurz wie möglich gehalten worden sei.
14 Unter diesen Umständen hat die Kommission beschlossen, die vorliegende Klage zu erheben.
15 Mit Entscheidung des Präsidenten des Gerichtshofs vom 18. August 2021 ist die Republik Polen als Streithelferin zur Unterstützung der Anträge der Republik Bulgarien zugelassen worden.
Zulässigkeit der Vertragsverletzungsklage
Vorbringen der Parteien
16 In der Auffassung, dass die für das Vorverfahren nach Art. 258 AEUV geltenden allgemeinen Grundsätze mutatis mutandis für das Vorverfahren nach Art. 260 Abs. 2 AEUV zu gelten hätten, und unter Hinweis darauf, dass nach der Rechtsprechung des Gerichtshofs die Abgabe einer mit Gründen versehenen Stellungnahme gemäß Art. 258 Abs. 1 AEUV voraussetze, dass sich die Kommission davor mit Erfolg auf einen Verstoß gegen eine dem betroffenen Mitgliedstaat obliegende Verpflichtung berufen könne, trägt die Republik Bulgarien in ihrer Klagebeantwortung – unterstützt von der Republik Polen – vor, dass die Kommission – um gemäß Art. 260 Abs. 2 AEUV ein Aufforderungsschreiben verschicken zu können – geltend machen müsse, dass der betroffene Mitgliedstaat gegen seine Verpflichtung verstoßen habe, ein Urteil des Gerichtshofs durchzuführen, mit dem eine Vertragsverletzung festgestellt werde.
17 Die Republik Bulgarien weist jedoch darauf hin, dass die Kommission ihre Behauptung der angeblichen Nichtdurchführung des Urteils des Gerichtshofs vom 5. April 2017, Kommission/Bulgarien (C‑488/15, EU:C:2017:267) im Aufforderungsschreiben auf tatsächliche Umstände gestützt habe, die vor der Verkündung dieses Urteils eingetreten seien, nämlich Daten zur Luftqualität für die Jahre 2015 und 2016, so dass die Kommission zum Zeitpunkt des Aufforderungsschreibens am 9. November 2018 weder das Vorliegen einer Vertragsverletzung nach Art. 260 Abs. 1 AEUV mit Sicherheit habe feststellen noch sich somit mit Erfolg darauf habe berufen können, dass die Republik Bulgarien dieses Urteil nicht durchgeführt habe. Daher habe die Kommission unter Missachtung der Anforderungen der Rechtssicherheit die vorprozessuale Phase des Verfahrens gemäß Art. 260 Abs. 2 AEUV verfrüht eingeleitet.
18 Die Republik Bulgarien, unterstützt durch die Republik Polen, beantragt daher, die Klage als unzulässig abzuweisen.
19 Die Kommission ist zwar der Ansicht, dass der sachliche Gegenstand der vorliegenden Vertragsverletzungsklage im Hinblick auf das Urteil vom 5. April 2017, Kommission/Bulgarien (C‑488/15, EU:C:2017:267), weder erweitert noch ergänzt worden sei, verweist in ihrer Erwiderung jedoch auf die ständige Rechtsprechung des Gerichtshofs, wonach im Fall eines systematischen und andauernden Verstoßes gegen die Bestimmungen eines Unionsrechtsakts ergänzendes Vorbringen nach Abgabe der mit Gründen versehenen Stellungnahme zulässig sei, da sich der Gegenstand der Vertragsverletzungsklage auch auf Tatsachen erstrecken könne, die nach dieser Stellungnahme eingetreten seien.
20 Im Übrigen zeigten die Daten für die Jahre 2015 und 2016 unbestreitbar andauernde Überschreitungen der Grenzwerte für PM10-Konzentrationen, die die bulgarische Bevölkerung noch mehrere Jahre nach dem im Urteil des Gerichtshofs genannten Zeitpunkt habe dulden müssen. Vor diesem Zusammenhang meint die Kommission angesichts des andauernden Verstoßes, zur Einleitung eines Vorverfahrens berechtigt gewesen zu sein. Außerdem sei das Vorbringen, die Kommission sei förmlich verpflichtet, mehrere Jahre nach der Verkündung des Urteils des Gerichtshofs gemäß Art. 258 AEUV abzuwarten, bevor sie „die Durchführung dieses Urteils beantragen“ könne, grundsätzlich nicht hinnehmbar, da eine solche „Gnadenfrist“ weder in den Verträgen noch in dem Berichtssystem gemäß Art. 27 der Richtlinie 2008/50 vorgesehen sei und sich auch nicht aus dem Grundsatz der Rechtssicherheit ergebe.
21 In ihrer Gegenerwiderung führt die Republik Bulgarien aus, dass sie die Unzulässigkeit der Klage nicht im Hinblick auf deren sachlichen Aspekte, sondern im Hinblick auf die zeitlichen Umstände der vorliegenden Rechtssache geltend mache. Insbesondere ergebe sich der Mangel der Vertragsverletzungsklage nicht aus einer Erweiterung der Klage auf einen Zeitraum nach dem Aufforderungsschreiben, sondern daraus, dass es für die Einleitung des Vorverfahrens, das zur vorliegenden Klage geführt habe, ab initio keine Grundlage gegeben habe. Vor diesem Hintergrund könne der Umstand, dass der Klagegegenstand die Nichtdurchführung eines Urteils des Gerichtshofs betreffe, mit dem eine „andauernde“ Vertragsverletzung festgestellt worden sei, diesen Mangel nicht heilen, da das nach Art. 260 Abs. 2 AEUV eingeleitete Vorverfahren regelgerecht sein müsse, um die Rechte des betroffenen Mitgliedstaats zu gewährleisten.
Würdigung durch den Gerichtshof
22 Nach Art. 260 Abs. 1 und 2 AEUV hat ein Mitgliedstaat, bei dem der Gerichtshof festgestellt hat, dass er gegen eine Verpflichtung aus den Verträgen verstoßen hat, die Maßnahmen zu ergreifen, die sich aus dem Urteil des Gerichtshofs ergeben, wobei die Kommission, wenn sie der Auffassung ist, dass solche Maßnahmen nicht getroffen worden seien, den Gerichtshof anrufen kann, nachdem sie dem betroffenen Mitgliedstaat zuvor Gelegenheit zur Äußerung gegeben hat.
23 Der Gegenstand dieses Verfahrens soll also einen säumigen Mitgliedstaat veranlassen, ein Vertragsverletzungsurteil durchzuführen (Urteil vom 12. Juli 2005, Kommission/Frankreich, C‑304/02, EU:C:2005:444, Rn. 80). Eine solche Durchführung muss unmittelbar nach Verkündung des Urteils in Angriff genommen werden und innerhalb kürzest möglicher Frist abgeschlossen sein (vgl. in diesem Sinne Urteile vom 6. November 1985, Kommission/Italien, 131/84, EU:C:1985:447, Rn. 7, und vom 12. November 2019, Kommission/Irland [Windfarm Derrybrien], C‑261/18, EU:C:2019:955, Rn. 123 und die dort angeführte Rechtsprechung).
24 Im Übrigen ergibt sich aus der Rechtsprechung des Gerichtshofs, dass als maßgebenden Zeitpunkt für die Beurteilung des Vorliegens einer Vertragsverletzung im Sinne von Art. 260 Abs. 1 AEUV, d. h. eines Verstoßes gegen die Verpflichtung, die Maßnahmen zu ergreifen, die sich aus dem Urteil des Gerichtshofs ergeben, auf den Zeitpunkt des Ablaufs der Frist abzustellen ist, die in dem nach Art. 260 Abs. 2 AEUV versandten Aufforderungsschreiben gesetzt wurde (vgl. in diesem Sinne Urteil vom 11. Dezember 2012, Kommission/Spanien (C‑610/10, EU:C:2012:781, Rn. 67).
25 Entsprechend der Rechtsprechung zu Vertragsverletzungsklagen nach Art. 258 AEUV setzt die Versendung eines Aufforderungsschreibens nach Art. 260 Abs. 2 AEUV voraus, dass sich die Kommission mit Erfolg auf einen Verstoß gegen die Verpflichtung, die Maßnahmen zu ergreifen, die sich aus dem Urteil des Gerichtshof ergeben, berufen kann; anderenfalls würden die Anforderungen der Rechtssicherheit missachtet (vgl. in diesem Sinne Urteil vom 5. Dezember 2019, Kommission/Spanien [Abfallbewirtschaftungspläne], C‑642/18, EU:C:2019:1051, Rn. 17, 18 und 26 sowie die dort angeführte Rechtsprechung).
26 In Anbetracht des in Rn. 23 des vorliegenden Urteils genannten Verfahrensgegenstands bedeutet dies, dass die Kommission nicht nur während des gesamten Vorverfahrens und vor der Versendung des Aufforderungsschreibens prüfen muss, ob das fragliche Urteil in der Zwischenzeit durchgeführt worden ist oder nicht, sondern auch verpflichtet ist, in diesem Aufforderungsschreiben auf den ersten Blick klar zu belegen und sich darauf zu berufen, dass das Urteil zum maßgebenden Zeitpunkt noch immer nicht durchgeführt worden sei.
27 Einem Mitgliedstaat kann nämlich nicht mit Erfolg vorgeworfen werden, gegen die Verpflichtung verstoßen zu haben, die Maßnahmen zu ergreifen, die sich aus einem Urteil des Gerichtshofs ergeben, wenn aus dem Aufforderungsschreiben nicht klar hervorgeht, dass zum maßgebenden Zeitpunkt die Verpflichtung zur Durchführung dieses Urteils seit seiner Verkündung noch immer fortbesteht.
28 Im vorliegenden Fall hat sich die Kommission im Aufforderungsschreiben vom 9. November 2018 weder mit der erforderlichen Klarheit darauf berufen noch auf den ersten Blick belegt, dass das Urteil vom 5. April 2017, Kommission/Bulgarien (C‑488/15, EU:C:2017:267), zum maßgebenden Zeitpunkt, d. h. am 9. Februar 2019, noch durchgeführt werden musste.
29 In diesem Schreiben weist die Kommission darauf hin, dass die in diesem Urteil bis 2014 festgestellten Vertragsverletzungen für die in diesem Schreiben genannten Gebiete und Ballungsräume in den Jahren 2015 und 2016 fortgedauert hätten, ohne eingehendere Erläuterungen oder eine Tatsachenanalyse vorzulegen und anzugeben, dass sich die in diesen beiden Jahren festgestellte Situation in der Zeit zwischen der Verkündung des Urteils am 5. April 2017 und dem maßgebenden Zeitpunkt, dem 9. Februar 2019, nicht deutlich verbessert habe, weshalb die Ergreifung von Maßnahmen zur Durchführung dieses Urteils erforderlich sei.
30 Weder der Umstand, dass diese Vertragsverletzungen zwischen dem Ende des Zeitraums, auf den sich das Urteil des Gerichtshofs erstreckt, also dem Jahr 2014, und einem nachfolgenden, aber vor dem Tag der Verkündung des Urteils liegenden Zeitraum, nämlich in den Jahren 2015 und 2016, fortgedauert haben, noch der vom Gerichtshof in diesem Urteil festgestellte systematische und andauernde Charakter dieser Vertragsverletzungen bedeuten jedoch automatisch, dass das Urteil sowohl zum Zeitpunkt der Verkündung dieses Urteils als auch zum maßgebenden Zeitpunkt noch durchgeführt werden musste und somit der Republik Bulgarien vorgeworfen werden durfte, nicht alle Maßnahmen ergriffen zu haben, die sich aus diesem Urteil ergeben.
31 Daher hat sich die Kommission dadurch, dass sie sich im Aufforderungsschreiben nicht mit der erforderlichen Klarheit darauf berufen und auf den ersten Blick die Grundvoraussetzung belegt hat, dass das Urteil vom 5. April 2017, Kommission/Bulgarien (C‑488/15, EU:C:2017:267), zum maßgebenden Zeitpunkt in Bezug auf die in diesem Schreiben genannten Gebiete und Ballungsräume noch durchgeführt werden musste, nicht mit Erfolg darauf berufen, dass die Republik Bulgarien gegen die Verpflichtung verstoßen hat, die Maßnahmen zu ergreifen, die sich aus diesem Urteil ergeben.
32 Unter diesen Voraussetzungen ist die Vertragsverletzungsklage der Kommission als unzulässig abzuweisen.
Kosten
33 Nach Art. 138 Abs. 1 der Verfahrensordnung des Gerichtshofs ist die unterliegende Partei auf Antrag zur Tragung der Kosten zu verurteilen. Da die Republik Bulgarien die Verurteilung der Kommission zur Tragung der Kosten beantragt hat und die von dieser erhobene Klage für unzulässig erklärt worden ist, sind der Kommission die Kosten aufzuerlegen.
34 Gemäß Art. 140 Abs. 1 der Verfahrensordnung, wonach die Mitgliedstaaten, die dem Rechtsstreit als Streithelfer beigetreten sind, ihre eigenen Kosten tragen, trägt die Republik Polen ihre eigenen Kosten.
Aus diesen Gründen hat der Gerichtshof (Dritte Kammer) für Recht erkannt und entschieden:
1. Die Klage wird als unzulässig abgewiesen.
2. Die Europäische Kommission trägt neben ihren eigenen Kosten die der Republik Bulgarien entstandenen Kosten.
3. Die Republik Polen trägt ihre eigenen Kosten.
Unterschriften