Vorläufige Fassung
SCHLUSSANTRÄGE DER GENERALANWÄLTIN
JULIANE KOKOTT
vom 25. Januar 2024(1 )
Verbundene Rechtssachen C ‑160/22 P und C ‑161/22 P und Rechtssache C ‑597/22 P
Europäische Kommission
gegen
HB
„Rechtsmittel – Öffentliche Dienstleistungsaufträge – Unregelmäßigkeiten im Vergabeverfahren – Beschlüsse über die Rückforderung bereits gezahlter Beträge, die nach Vertragsunterzeichnung ergangen sind – Nichtigkeitsklage – Zulässigkeit – Zuständigkeit der Unionsgerichte – Titulierungsbeschlüsse zur Einziehung der geforderten Beträge – Zuständigkeit der Europäischen Kommission für den Erlass solcher Titulierungsbeschlüsse“
Inhaltsverzeichnis
I. Einleitung
II. Rechtlicher Rahmen
A. Vertrag über die Arbeitsweise der Europäischen Union
B. Verordnung über den Schutz der finanziellen Interessen der Union
C. Haushaltsordnungen der Union
1. Haushaltsordnung von 2002
2. Haushaltsordnung von 2018
III. Vorgeschichte der Rechtsmittel
A. Verbundene Rechtssachen C160/22 P und C161/22 P
1. CARDS- und TACIS-Rückforderungsbeschluss
a) CARDS-Rückforderungsbeschluss
b) TACIS-Rückforderungsbeschluss
2. Urteile T795/19 und T796/19
B. Rechtssache C597/22 P
1. CARDS- und TACIS-Titulierungsbeschluss
2. Urteil T408/21
IV. Rechtsmittelverfahren und Anträge der Parteien
A. Verbundene Rechtssachen C160/22 P und C161/22 P
B. Rechtssache C597/22 P
V. Würdigung
A. Rechtssachen C160/22 P und C161/22 P
1. Zulässigkeit der Rechtsmittel
2. Gerichtliche Zuständigkeit für Klagen gegen den CARDS- und den TACIS-Rückforderungsbeschluss
a) Streitige Argumentation des Gerichts
b) Würdigung der Argumentation der Kommission
1) Der CARDS- und der TACIS-Rückforderungsbeschluss vor dem Hintergrund der Voraussetzungen für die Zulässigkeit von Nichtigkeitsklagen gegen Handlungen, die in einem vertraglichen Kontext vorgenommen worden sind
2) Der CARDS- und der TACIS-Rückforderungsbeschluss und die „zwei Hüte“ der Kommission in Vertragssachen
3. Ergebnis zu den Rechtssachen C160/22 P und C161/22 P
B. Rechtssache C597/22 P
C. Zwischenergebnis
VI. Kosten
VII. Ergebnis
I. Einleitung
1. Hat ein Vertragspartner der Europäischen Union während des Verfahrens zur Vergabe eines Vertrags eine Unregelmäßigkeit begangen, die sich erst nach Vertragsunterzeichnung herausstellt, kann die Europäische Kommission gegenüber diesem Vertragspartner einen Beschluss über die Rückforderung im Rahmen des Vertrags gezahlter Beträge erlassen. Aber fällt ein solcher Beschluss für die Zwecke der Bestimmung der gerichtlichen Zuständigkeit für Entscheidungen über ihn in den vertraglichen oder in den außervertraglichen Rahmen?
2. Fällt ein solcher Rückforderungsbeschluss mit anderen Worten in die Zuständigkeit des Vertragsrichters – je nach Fall der nationalen oder der Unionsgerichte, abhängig davon, ob der Vertrag eine Schiedsklausel im Sinne von Art. 272 AEUV enthält oder nicht – oder ist er vielmehr eine Handlung, die allein vor den Unionsgerichten mit einer Nichtigkeitsklage im Sinne von Art. 263 AEUV angefochten werden kann?
3. Das ist die Frage, die der Gerichtshof in den Rechtssachen C‑160/22 P und C‑161/22 P zu beantworten haben wird. Die Antwort wird darüber entscheiden, ob das Gericht die fraglichen Rückforderungsbeschlüsse zu Recht als Teil eines vertraglichen Rahmens eingestuft und sich zugunsten der belgischen Gerichte – des Vertragsrichters – für unzuständig erklärt hat oder ob es sich vielmehr für zuständig hätte erklären müssen, über die Klagen des Vertragspartners der Kommission gegen diese Beschlüsse zu befinden.
4. Die Antwort des Gerichtshofs auf die vorstehende Frage wird dann die Antwort auf die Frage in der Rechtssache C‑597/22 P bestimmen. In dieser Rechtssache geht es darum, ob die Kommission Titulierungsbeschlüsse im Sinne von Art. 299 AEUV erlassen durfte, um die mit den streitigen Rückforderungsbeschlüssen geforderten Beträge einzuziehen.
5. In Übereinstimmung mit seiner Einstufung der Beschlüsse als in den vertraglichen Rahmen fallend hat das Gericht diese Frage verneint. Denn nach dem Urteil ADR Center/Kommission (im Folgenden: Urteil ADR)(2 ) kann die Kommission im Rahmen von Vertragsverhältnissen, die keine Schiedsklausel zugunsten der Unionsgerichte enthalten, keinen Beschluss erlassen, der ein vollstreckbarer Titel ist.
6. Folglich hängt die Begründetheit der Nichtigerklärung der in der Rechtssache C‑597/22 P in Rede stehenden Titulierungsbeschlüsse durch das Gericht von der Richtigkeit seiner Feststellungen hinsichtlich der in den Rechtssachen C‑160/22 P und C‑161/22 P in Rede stehenden Rückforderungsbeschlüsse ab.
II. Rechtlicher Rahmen
A. Vertrag über die Arbeitsweise der Europäischen Union
7. Die Art. 272, 274 und 299 AEUV lauten:
„Artikel 272
Der Gerichtshof der Europäischen Union ist für Entscheidungen aufgrund einer Schiedsklausel zuständig, die in einem von der Union oder für ihre Rechnung abgeschlossenen öffentlich-rechtlichen oder privatrechtlichen Vertrag enthalten ist.
…
Artikel 274
Soweit keine Zuständigkeit des Gerichtshofs der Europäischen Union aufgrund der Verträge besteht, sind Streitsachen, bei denen die Union Partei ist, der Zuständigkeit der einzelstaatlichen Gerichte nicht entzogen.
…
Artikel 299
Die Rechtsakte des Rates, der Kommission oder der Europäischen Zentralbank, die eine Zahlung auferlegen, sind vollstreckbare Titel; dies gilt nicht gegenüber Staaten.
Die Zwangsvollstreckung erfolgt nach den Vorschriften des Zivilprozessrechts des Staates, in dessen Hoheitsgebiet sie stattfindet. Die Vollstreckungsklausel wird nach einer Prüfung, die sich lediglich auf die Echtheit des Titels erstrecken darf, von der staatlichen Behörde erteilt, welche die Regierung jedes Mitgliedstaats zu diesem Zweck bestimmt und der Kommission und dem Gerichtshof der Europäischen Union benennt.
Sind diese Formvorschriften auf Antrag der die Vollstreckung betreibenden Partei erfüllt, so kann diese die Zwangsvollstreckung nach innerstaatlichem Recht betreiben, indem sie die zuständige Stelle unmittelbar anruft.
Die Zwangsvollstreckung kann nur durch eine Entscheidung des Gerichtshofs der Europäischen Union ausgesetzt werden. Für die Prüfung der Ordnungsmäßigkeit der Vollstreckungsmaßnahmen sind jedoch die einzelstaatlichen Rechtsprechungsorgane zuständig.“
B. Verordnung über den Schutz der finanziellen Interessen der Union
8. Die Art. 1 und 4 der Verordnung (EG, Euratom) Nr. 2988/95 des Rates vom 18. Dezember 1995 über den Schutz der finanziellen Interessen der Europäischen Gemeinschaften(3 ) haben folgenden Wortlaut:
„Artikel 1
(1) Zum Schutz der finanziellen Interessen der Europäischen Gemeinschaften wird eine Rahmenregelung für einheitliche Kontrollen sowie für verwaltungsrechtliche Maßnahmen und Sanktionen bei Unregelmäßigkeiten in Bezug auf das Gemeinschaftsrecht getroffen.
(2) Der Tatbestand der Unregelmäßigkeit ist bei jedem Verstoß gegen eine Gemeinschaftsbestimmung als Folge einer Handlung oder Unterlassung eines Wirtschaftsteilnehmers gegeben, die einen Schaden für den Gesamthaushaltsplan der Gemeinschaften oder die Haushalte, die von den Gemeinschaften verwaltet werden, bewirkt hat bzw. haben würde, sei es durch die Verminderung oder den Ausfall von Eigenmitteleinnahmen, die direkt für Rechnung der Gemeinschaften erhoben werden, sei es durch eine ungerechtfertigte Ausgabe.
…
Artikel 4
(1) Jede Unregelmäßigkeit bewirkt in der Regel den Entzug des rechtswidrig erlangten Vorteils
– durch Verpflichtung zur Zahlung des geschuldeten oder Rückerstattung des rechtswidrig erhaltenen Geldbetrags;
– durch vollständigen oder teilweisen Verlust der Sicherheit, die für einen Antrag auf Gewährung eines Vorteils oder bei Zahlung eines Vorschusses geleistet wurde.
(2) Die Anwendung der Maßnahmen nach Absatz 1 beschränkt sich auf den Entzug des erlangten Vorteils, zuzüglich – falls dies vorgesehen ist – der Zinsen, die pauschal festgelegt werden können.
(3) Handlungen, die nachgewiesenermaßen die Erlangung eines Vorteils, der den Zielsetzungen der einschlägigen Gemeinschaftsvorschriften zuwiderläuft, zum Ziel haben, indem künstlich die Voraussetzungen für die Erlangung dieses Vorteils geschaffen werden, haben zur Folge, dass der betreffende Vorteil nicht gewährt bzw. entzogen wird.
(4) Die in diesem Artikel vorgesehenen Maßnahmen stellen keine Sanktionen dar.“
C. Haushaltsordnungen der Union
1. Haushaltsordnung von 2002
9. Art. 103 der Verordnung (EG, Euratom) Nr. 1605/2002 des Rates vom 25. Juni 2002 über die Haushaltsordnung für den Gesamthaushaltsplan der Europäischen Gemeinschaften(4 ) in der durch die Verordnung (EG, Euratom) Nr. 1995/2006 des Rates vom 13. Dezember 2006(5 ) geänderten Fassung (im Folgenden: Haushaltsordnung von 2002) bestimmte:
„Stellt sich heraus, dass das Vergabeverfahren mit gravierenden Fehlern oder Unregelmäßigkeiten behaftet ist oder Betrug vorliegt, setzen die Organe es aus und können alle erforderlichen Maßnahmen, einschließlich der Einstellung des Verfahrens, ergreifen.
Stellt sich nach der Vergabe des Auftrags heraus, dass das Vergabeverfahren oder die Ausführung des Vertrags mit gravierenden Fehlern oder Unregelmäßigkeiten behaftet sind oder dass Betrug vorliegt, so können die Organe je nach Verfahrensphase beschließen, den Vertrag nicht zu schließen, die Ausführung des Vertrags auszusetzen oder gegebenenfalls den Vertrag zu beenden.
Sind diese Fehler oder Unregelmäßigkeiten oder der Betrug dem Auftragnehmer anzulasten, können die Organe außerdem im Verhältnis zur Schwere der Fehler oder Unregelmäßigkeiten oder des Betrugs die Zahlung ablehnen, bereits gezahlte Beträge einziehen oder sämtliche mit diesem Auftragnehmer geschlossenen Verträge kündigen.“
2. Haushaltsordnung von 2018
10. Art. 98 der Verordnung (EU, Euratom) 2018/1046 (im Folgenden: Haushaltsordnung von 2018)(6 ) legt das Verfahren zur Feststellung von Forderungen der Union und zur Berechtigung fest, von einem Schuldner die Begleichung seiner Schuld zu fordern.
11. Art. 100 („Anordnung von Einziehungen“) Abs. 2 Unterabs. 1 der Haushaltsordnung von 2018 bestimmt:
„Ein Unionsorgan kann die Feststellung einer Forderung gegenüber anderen Schuldnern als Mitgliedstaaten durch einen Beschluss formalisieren, der ein vollstreckbarer Titel gemäß Artikel 299 AEUV ist.“
12. Art. 131 („Aussetzung, Kündigung und Kürzung“) dieser Haushaltsordnung sieht u. a. vor:
„(1) Stellt sich heraus, dass ein Gewährungsverfahren mit Unregelmäßigkeiten behaftet ist oder Betrug vorliegt, so setzt der zuständige Anweisungsbefugte es aus und kann jegliche erforderlichen Maßnahmen, einschließlich der Einstellung des Verfahrens, ergreifen. …
(2) Stellt sich nach der Vergabe heraus, dass das Gewährungsverfahren mit Unregelmäßigkeiten behaftet war oder Betrug vorlag, so kann der zuständige Anweisungsbefugte
a) den Eingang der rechtlichen Verpflichtung verweigern oder die Preisvergabe einstellen;
b) Zahlungen aussetzen;
c) die Umsetzung der rechtlichen Verpflichtung aussetzen;
d) gegebenenfalls die rechtliche Verpflichtung als Ganzes oder hinsichtlich eines oder mehrerer Empfänger kündigen.
(3) Der zuständige Anweisungsbefugte kann Zahlungen oder die Umsetzung der rechtlichen Verpflichtung aussetzen, wenn
a) sich herausstellt, dass die Umsetzung der rechtlichen Verpflichtung mit Unregelmäßigkeiten behaftet war oder Betrug oder eine Verletzung von Pflichten vorlag;
b) es erforderlich ist, zu überprüfen, ob mutmaßliche Unregelmäßigkeiten, Betrug oder eine Verletzung von Pflichten tatsächlich vorlagen;
c) Unregelmäßigkeiten, Betrug oder eine Verletzung von Pflichten die Zuverlässigkeit oder Wirksamkeit der internen Kontrollsysteme einer Person oder Stelle, die Unionsmittel gemäß Artikel 62 Absatz 1 Unterabsatz 1 Buchstabe c ausführt, oder die Rechtmäßigkeit und Ordnungsmäßigkeit der zugrunde liegenden Vorgänge infrage stellen.
Werden die in Unterabsatz 1 Buchstabe b genannten mutmaßlichen Unregelmäßigkeiten, der Betrug oder eine Verletzung von Pflichten nicht bestätigt, werden die Umsetzung bzw. die Zahlungen baldmöglichst wiederaufgenommen.
Der zuständige Anweisungsbefugte kann in den in Unterabsatz 1 Buchstabe a und c genannten Fällen die rechtliche Verpflichtung als Ganzes oder hinsichtlich eines oder mehrerer Empfänger kündigen.
(4) Über die in den Absätzen 2 oder 3 genannten Maßnahmen hinaus kann der zuständige Anweisungsbefugte die Finanzhilfe, das Preisgeld, den im Rahmen der Beitragsvereinbarung gewährten Beitrag oder den im Rahmen eines Vertrags vereinbarten Preis im Verhältnis zur Schwere der Unregelmäßigkeiten, des Betrugs oder der Verletzung von Pflichten kürzen, und zwar auch dann, wenn die betreffenden Tätigkeiten nicht oder schlecht, nur teilweise oder verspätet durchgeführt wurden.
…“
III. Vorgeschichte der Rechtsmittel
13. Die vorliegenden Rechtssachen betreffen zwei von der Union mit der Klägerin – HB – geschlossene Verträge, den CARDS-Vertrag und den TACIS-Vertrag. Im Zuge der Ausführung dieser Verträge wurden Unregelmäßigkeiten aufgedeckt, die von der Klägerin während der Vergabeverfahren begangen worden waren.
14. Infolge der Enthüllungen erließ die Kommission Beschlüsse über die Rückforderung der im Rahmen der Verträge gezahlten Beträge, die Gegenstand der Urteile des Gerichts vom 21. Dezember 2021, HB/Kommission (T‑795/19, im Folgenden: Urteil T‑795/19, EU:T:2021:917), und HB/Kommission (T‑796/19, im Folgenden: Urteil T‑796/19, EU:T:2021:918), waren, die wiederum mit den Rechtsmitteln in den Rechtssachen C‑160/22 P und C‑161/22 P angefochten wurden. Zudem erließ die Kommission später Titulierungsbeschlüsse zur Einziehung der geforderten Beträge, die Gegenstand des Urteils des Gerichts vom 6. Juli 2022, HB/Kommission (T‑408/21, im Folgenden: Urteil T‑408/21, EU:T:2022:418), waren, das wiederum mit dem Rechtsmittel in der Rechtssache C‑597/22 P angefochten wurde.
15. Vorsorglich kann darauf hingewiesen werden, dass beim Gerichtshof weitere Rechtssachen anhängig sind, die ebenfalls den CARDS- und den TACIS-Vertrag betreffen(7 ).
A. Verbundene Rechtssachen C ‑160/22 P und C ‑161/22 P
1. CARDS- und TACIS- Rückforderungsbeschluss
a) CARDS- Rückforderungsbeschluss
16. Die Vorgeschichte des Rechtsstreits in der Rechtssache C‑160/22 P ist u. a. in den Rn. 1 bis 29 des Urteils T‑795/19 sowie in den Erwägungsgründen des Beschlusses C(2019)7319 final der Kommission vom 15. Oktober 2019 betreffend die Herabsetzung der für den Auftrag CARDS/2008/166-429 geschuldeten Beträge und die Rückforderung der zu Unrecht gezahlten Beträge (im Folgenden: CARDS-Rückforderungsbeschluss) enthalten und lässt sich wie folgt zusammenfassen.
17. Am 24. Oktober 2007 veröffentlichte die Union, vertreten durch die Europäische Agentur für Wiederaufbau (EAR), eine Ausschreibung mit der Referenznummer EuropeAid/125037/D/SER/YU zum Abschluss eines Dienstleistungsauftrags über die Bereitstellung technischer Hilfe für den Hohen Justizrat in Serbien. Der Auftrag war Teil des gemeinschaftlichen Hilfsprogramms für Wiederaufbau, Entwicklung und Stabilisierung (CARDS), mit dem die Länder Südosteuropas bei ihrer Teilnahme am Stabilisierungs- und Assoziierungsprozess mit der Union unterstützt werden sollten.
18. Am 10. Juni 2008 wurde der Auftrag CARDS/2008/166-429 (im Folgenden: CARDS-Auftrag) an das von der Klägerin – HB – koordinierte Konsortium vergeben. Der entsprechende Vertrag Nr. 06SER01/05/004 (im Folgenden: CARDS-Vertrag) im Wert von bis zu 1 999 125 Euro wurde am 30. Juli 2008 unterzeichnet.
19. Der CARDS-Vertrag sah u. a. vor, dass das auf den Vertrag anwendbare Recht das Unionsrecht war, das erforderlichenfalls durch das belgische Recht ergänzt wurde (Art. 9.1 der Sonderbedingungen), dass für alle Streitigkeiten im Zusammenhang mit diesem Vertrag ausschließlich die Gerichte von Brüssel (Belgien) zuständig waren (Art. 11 der Sonderbedingungen), dass die Union, wenn sich ihr Vertragspartner im Verfahren zur Vergabe des Auftrags Fehler, Unregelmäßigkeiten oder Betrugshandlungen hatte zuschulden kommen lassen, die geschuldeten Zahlungen ablehnen oder bereits gezahlte Beträge im Verhältnis zur Schwere der Fehler, Unregelmäßigkeiten oder Betrugshandlungen einziehen konnte (Art. 35.1 und 35.2 der Allgemeinen Geschäftsbedingungen) und dass die Union den Vertrag in einer ganzen Reihe von Fällen kündigen konnte, u. a. dann, wenn sich der Vertragspartner schwerer beruflicher Verfehlungen schuldig gemacht hatte (Art. 36.3 Buchst. g der Allgemeinen Geschäftsbedingungen).
20. Nach Beendigung der Arbeit der EAR im Dezember 2008 wurde der CARDS-Vertrag auf die Delegation der Union in Serbien (im Folgenden: Delegation in Serbien) übertragen.
21. Am 31. März 2010 wurde die Ausführung des CARDS-Vertrags ausgesetzt, nachdem von einer Untersuchungsmission und in einem Analysebericht des Europäischen Amtes für Betrugsbekämpfung (OLAF) schwerwiegende Unregelmäßigkeiten und mögliche Fälle von Korruption während des Verfahrens zur Vergabe des Auftrags festgestellt worden waren.
22. Im Zuge des abschließenden Untersuchungsberichts und eines weiteren Analyseberichts des OLAF unterrichtete die Delegation in Serbien die Klägerin über ihre Absicht, den CARDS-Vertrag zu kündigen. Mit Schreiben vom 8. Mai 2015 teilte sie ihr insbesondere mit, dass dieser Vertrag als von Anfang an mit Unregelmäßigkeiten bei der Vergabe des entsprechenden Auftrags behaftet angesehen werden müsse und dass die Kommission alle gezahlten Beträge zurückfordern werde. Mit Schreiben vom 9. Oktober 2015 bestätigte die Delegation in Serbien ihre Entscheidung, den Vertrag zu kündigen.
23. Am 15. Oktober 2019 erließ die Kommission den CARDS-Rückforderungsbeschluss. Dieser Beschluss trug die Sichtvermerke u. a. von Art. 103 der Haushaltsordnung von 2002, der Art. 131 und 98 der Haushaltsordnung von 2018 sowie von Art. 4 der Verordnung über den Schutz der finanziellen Interessen der Union, und sein verfügender Teil lautete wie folgt:
„Artikel 1
Das Vergabeverfahren für die beschränkte Ausschreibung mit der Referenznummer EuropeAid/125037/D/SER/YU ist Gegenstand einer Unregelmäßigkeit im Sinne von Artikel 103 der [Haushaltsordnung von 2002] und Artikel 131 der [Haushaltsordnung von 2018] gewesen.
Diese Unregelmäßigkeit ist dem von [der Klägerin] geführten Konsortium zuzuschreiben, das den im Rahmen der Ausschreibung vergebenen [CARDS]-Auftrag unterzeichnet hat.
Artikel 2
Der Wert des [CARDS‑]Auftrags wird von 1 199 125,00 Euro auf 0 (null) Euro herabgesetzt.
Artikel 3
Alle Zahlungen in Höhe von 1 197 055,86 Euro, die im Rahmen des [CARDS‑]Auftrags geleistet worden sind, gelten als zu Unrecht getätigt und werden zurückgefordert.
Artikel 4
Der Generaldirektor der Generaldirektion Nachbarschaftspolitik und Erweiterungsverhandlungen stellt gegen [die Klägerin] eine Einziehungsanordnung über den in Artikel 3 genannten Betrag aus.
Dieser Beschluss und die dazugehörige Belastungsanzeige sind an [die Klägerin] gerichtet. Der Beschluss gilt ab dem Zeitpunkt seines Eingangs bei [der Klägerin].
Artikel 5
Gemäß Artikel 263 [AEUV] kann gegen diesen Beschluss binnen zwei Monaten eine Nichtigkeitsklage beim Gerichtshof der Europäischen Union erhoben werden.“
b) TACIS -Rückforderungsbeschluss
24. Die Vorgeschichte des Rechtsstreits in der Rechtssache C‑161/22 P ist u. a. in den Rn. 1 bis 24 des Urteils T‑796/19 sowie in den Erwägungsgründen des Beschlusses C(2019)7318 final der Kommission vom 15. Oktober 2019 betreffend die Herabsetzung der für den Auftrag TACIS/2006/101-510 geschuldeten Beträge und die Rückforderung der zu Unrecht gezahlten Beträge (im Folgenden: TACIS-Rückforderungsbeschluss) enthalten und lässt sich wie folgt zusammenfassen.
25. Am 25. Januar 2006 veröffentlichte die Union, vertreten durch ihre Delegation in der Ukraine (im Folgenden: Delegation in der Ukraine), eine Ausschreibung mit der Referenznummer EuropeAid/122038/C/SV/UA zum Abschluss eines Dienstleistungsauftrags über die Bereitstellung technischer Hilfe für die ukrainischen Behörden bei der Angleichung der ukrainischen Rechtsvorschriften an die Rechtsvorschriften der Union. Der Auftrag war Teil des Programms für technische Hilfe für die Gemeinschaft Unabhängiger Staaten (TACIS), mit dem der Übergang zur Marktwirtschaft gefördert sowie die Demokratie und die Rechtsstaatlichkeit in den Partnerstaaten in Osteuropa und Zentralasien gestärkt werden sollten.
26. Am 17. Juni 2006 wurde der Auftrag TACIS/2006/101-510 (im Folgenden: TACIS-Auftrag) an das von der Klägerin – HB – koordinierte Konsortium vergeben. Der entsprechende Vertrag Nr. 2006/101-510 (im Folgenden: TACIS-Vertrag) im Wert von bis zu 4 410 000 Euro wurde am 17. Juli 2006 unterzeichnet.
27. Der TACIS-Vertrag sah u. a. vor, dass nicht durch den Vertrag abgedeckte Fragen dem belgischen Recht unterlagen (Art. 9.1 der Sonderbedingungen), dass für alle Streitigkeiten im Zusammenhang mit diesem Vertrag ausschließlich die Gerichte von Brüssel zuständig waren (Art. 11 der Sonderbedingungen), dass die Union, wenn sich ihr Vertragspartner im Verfahren zur Vergabe des Auftrags Fehler, Unregelmäßigkeiten oder Betrugshandlungen hatte zuschulden kommen lassen, die geschuldeten Zahlungen ablehnen oder bereits gezahlte Beträge im Verhältnis zur Schwere der Fehler, Unregelmäßigkeiten oder Betrugshandlungen einziehen konnte (Art. 35.3 und 35.4 der Allgemeinen Geschäftsbedingungen) und dass die Union den Vertrag in einer ganzen Reihe von Fällen kündigen konnte, u. a. dann, wenn sich der Vertragspartner schwerer beruflicher Verfehlungen schuldig gemacht hatte (Art. 36.3 Buchst. g der Allgemeinen Geschäftsbedingungen).
28. Am 16. Juli 2009 wurden die Ausführung des TACIS-Vertrags und die damit verbundenen Zahlungen ausgesetzt, nachdem von einer Untersuchungsmission und in einem Analysebericht des OLAF schwerwiegende Unregelmäßigkeiten und mögliche Fälle von Korruption während des Verfahrens zur Vergabe des Auftrags festgestellt worden waren. Die Feststellungen des OLAF wurden u. a. auch an die belgischen Justizbehörden weitergeleitet.
29. In seinem abschließenden Untersuchungsbericht vom 19. April 2010 bestätigte das OLAF das Vorliegen schwerwiegender Unregelmäßigkeiten und möglicher Fälle von Korruption. Es empfahl der Delegation in der Ukraine, den TACIS-Vertrag zu kündigen und die zu Unrecht gezahlten Beträge zurückzufordern.
30. Am 20. April 2012 unterrichtete die Delegation in der Ukraine die Klägerin über ihre Absicht, die Aussetzung des TACIS-Vertrags aufzuheben, weil sich zum einen die gerichtliche Untersuchung durch die belgischen Behörden über einen längeren Zeitraum hinziehe und zum anderen der Vertrag als erfüllt angesehen werden könne.
31. Am 19. März 2013 teilte die Delegation in der Ukraine der Klägerin mit, dass der TACIS-Vertrag infolge der Genehmigung des Abschlussberichts, der Zahlung der Abschlussrechnung und der Rückzahlung der Bankgarantie als erfüllt angesehen werden könne.
32. Am 24. Mai 2018 informierte die Delegation in der Ukraine die Klägerin über ihre Absicht, alle im Rahmen des TACIS-Auftrags gezahlten Beträge in Höhe von 4 241 507 Euro zurückzufordern.
33. Am 15. Oktober 2019 erließ die Kommission den TACIS-Rückforderungsbeschluss. Dieser Beschluss trug die Sichtvermerke u. a. von Art. 103 der Haushaltsordnung von 2002, der Art. 131 und 98 der Haushaltsordnung von 2018 sowie von Art. 4 der Verordnung über den Schutz der finanziellen Interessen der Union, und sein verfügender Teil lautete wie folgt:
„Artikel 1
Das Vergabeverfahren für die beschränkte Ausschreibung mit der Referenznummer EuropeAid/122038/C/SV/UA ist Gegenstand einer Unregelmäßigkeit im Sinne von Artikel 103 der [Haushaltsordnung von 2002] und Artikel 131 der [Haushaltsordnung von 2018] gewesen.
Diese Unregelmäßigkeit ist dem von [der Klägerin] geführten Konsortium zuzuschreiben, das den im Rahmen der Ausschreibung vergebenen [TACIS]-Auftrag unterzeichnet hat.
Artikel 2
Der Wert des [TACIS‑]Auftrags wird von 4 410 000,00 Euro auf 0 (null) Euro herabgesetzt.
Artikel 3
Alle Zahlungen in Höhe von 4 241 507,00 Euro, die im Rahmen des [TACIS‑]Auftrags geleistet worden sind, gelten als zu Unrecht getätigt und werden zurückgefordert.
Artikel 4
Der Generaldirektor der Generaldirektion Nachbarschaftspolitik und Erweiterungsverhandlungen stellt gegen [die Klägerin] eine Einziehungsanordnung über den in Artikel 3 genannten Betrag aus.
Dieser Beschluss und die dazugehörige Belastungsanzeige sind an [die Klägerin] gerichtet. Der Beschluss gilt ab dem Tag seines Eingangs bei [der Klägerin].
Artikel 5
Gemäß Artikel 263 [AEUV] kann gegen diesen Beschluss binnen zwei Monaten eine Nichtigkeitsklage beim Gerichtshof der Europäischen Union erhoben werden.“
2. Urteile T ‑795/19 und T ‑796/19
34. Die Verfahren vor dem Gericht und die weiteren Entwicklungen werden in den Rn. 30 bis 51 des Urteils T‑795/19 und den Rn. 25 bis 46 des Urteils T‑796/19 beschrieben und lassen sich wie folgt zusammenfassen.
35. Mit am 19. November 2019 eingegangenen Schriftsätzen reichte die Klägerin Klagen gegen den CARDS-Rückforderungsbeschluss (Rechtssache T‑795/19) und den TACIS-Rückforderungsbeschluss (Rechtssache T‑796/19) ein. Mit diesen Klagen beantragte sie u. a. die Nichtigerklärung der Beschlüsse und die Verurteilung der Kommission zur Zahlung von Schadensersatz. Die Kommission beantragte ihrerseits u. a. die Abweisung der Nichtigkeitsklagen als unbegründet und die Zurück- bzw. Abweisung der Schadensersatzklagen als unzulässig bzw. unbegründet.
36. Am 7. Februar 2020 verklagte die Klägerin die Union, vertreten durch die Kommission, vor dem Tribunal de première instance francophone de Bruxelles (französischsprachiges Gericht Erster Instanz von Brüssel, Belgien), bei dem sie in Bezug auf den TACIS-Auftrag im Wesentlichen beantragte, zu entscheiden, dass die Union nicht berechtigt war, die Herabsetzung des Auftragswerts auf Null anzuordnen, und in Bezug auf den CARDS-Auftrag, dass die Union nicht berechtigt war, diesen Auftrag zu kündigen. Hilfsweise begehrte sie die Verurteilung der Union zur Zahlung eines vertraglichen Schadensersatzes in Höhe des Gesamtwerts des TACIS- und des CARDS-Auftrags.
37. Am 19. Februar 2021 erließ das Tribunal de première instance francophone de Bruxelles (französischsprachiges Gericht Erster Instanz von Brüssel) ein Urteil, mit dem es feststellte, dass es über die erforderliche Rechtsprechungsbefugnis verfüge, um über die von der Klägerin gegen die Union erhobene Klage sowohl in Bezug auf den TACIS- als auch den CARDS-Auftrag zu entscheiden, gleichzeitig aber beschloss, das Verfahren in Erwartung der Entscheidung(en) zur Beendigung des Verfahrens in den Rechtssachen T‑795/19 und T‑796/19 in der Sache auszusetzen.
38. Mit den Urteilen T‑795/19 und T‑796/19 wies das Gericht zum einen die beiden bei ihm erhobenen Klagen als unzulässig zurück, soweit sie auf die Nichtigerklärung des CARDS- und des TACIS- Rückforderungsbeschlusses gerichtet waren, und als unbegründet ab, soweit sie auf die außervertragliche Haftung der Union gerichtet waren. Zum anderen verurteilte es die Kommission gemäß Art. 135 Abs. 2 seiner Verfahrensordnung zur Zahlung der Kosten. Nach dieser Bestimmung kann das Gericht auch eine obsiegende Partei zur Tragung eines Teils der Kosten oder sämtlicher Kosten verurteilen, wenn dies wegen ihres Verhaltens, auch vor Klageerhebung, gerechtfertigt erscheint; dies gilt insbesondere für Kosten, die sie der Gegenpartei nach Ansicht des Gerichts ohne angemessenen Grund oder böswillig verursacht hat. Nach Auffassung des Gerichts hatte die Kommission im vorliegenden Fall die Entstehung des Rechtsstreits durch die Formulierung der Art. 5 des CARDS- und des TACIS-Beschlusses begünstigt.
B. Rechtssache C ‑597/22 P
1. CARDS- und TACIS- Titulierungsbeschluss
39. Am 5. Mai 2021 erließ die Kommission den Beschluss C(2021)3340 final über die Beitreibung einer Forderung in Höhe von 1 197 055,86 Euro im Rahmen des CARDS-Auftrags zulasten der Klägerin (im Folgenden: CARDS-Titulierungsbeschluss) und den Beschluss C(2021)3339 final über die Beitreibung einer Forderung in Höhe von 4 241 507 Euro im Rahmen des TACIS-Auftrags zulasten der Klägerin (im Folgenden: TACIS-Titulierungsbeschluss). Nach dem Wortlaut ihrer Art. 5 sind beide Beschlüsse vollstreckbare Titel gemäß Art. 299 AEUV.
2. Urteil T ‑408/21
40. Am 9. Juli 2021 erhob die Klägerin beim Gericht Klage u. a. auf Nichtigerklärung des CARDS- und des TACIS-Titulierungsbeschlusses, die unter dem Aktenzeichen T‑408/21 in das Register eingetragen wurde.
41. Mit dem Urteil T‑408/21 erklärte das Gericht diese Beschlüsse im Wesentlichen mit der Begründung für nichtig, dass die Kommission mangels einer Schiedsklausel im CARDS- und im TACIS-Vertrag nicht über die Befugnis verfügte, Beschlüsse zu erlassen, die ein vollstreckbarer Titel gemäß Art. 299 AEUV sind.
IV. Rechtsmittelverfahren und Anträge der Parteien
A. Verbundene Rechtssachen C ‑160/22 P und C ‑161/22 P
42. Mit am 7. März 2022 eingereichten Schriftsätzen hat die Kommission gegen die Urteile T‑795/19 und T‑796/19 Rechtsmittel eingelegt, die unter den Aktenzeichen C‑160/22 P und C‑161/22 P in das Register eingetragen worden sind.
43. Mit Beschluss des Präsidenten des Gerichtshofs vom 11. Mai 2022 sind die Rechtssachen C‑160/22 P und C‑161/22 P zu gemeinsamem schriftlichen und mündlichen Verfahren und zu gemeinsamer Entscheidung verbunden worden.
44. Die Kommission beantragt,
– die Urteile T‑795/19 und T‑796/19 aufzuheben, soweit damit die Nichtigkeitsklagen gegen den CARDS- und den TACIS-Rückforderungsbeschluss als unzulässig zurückgewiesen werden (Nr. 1 der verfügenden Teile) und der Kommission die Kosten einschließlich der Kosten des Verfahrens des vorläufigen Rechtsschutzes auferlegt werden (Nr. 3 der verfügenden Teile),
– die Rechtssachen an das Gericht zurückzuverweisen, damit es in der Sache über die Nichtigkeitsklagen und über die Kosten entscheidet, sowie
– der Klägerin die Kosten aufzuerlegen.
45. Die Rechtsmittelgegnerin beantragt,
– die Rechtsmittel der Kommission zurückzuweisen und
– der Kommission die Kosten aufzuerlegen.
B. Rechtssache C ‑597/22 P
46. Mit am 16. September 2022 eingereichtem Schriftsatz hat die Kommission gegen das Urteil T‑408/21 ein Rechtsmittel eingelegt, das unter dem Aktenzeichen C‑597/22 P in das Register eingetragen worden ist.
47. Die Kommission beantragt,
– das Urteil T‑408/21 aufzuheben, soweit damit der CARDS- und der TACIS-Titulierungsbeschluss für nichtig erklärt werden,
– die Rechtssache an das Gericht zurückzuverweisen, damit es in der Sache über die Nichtigkeitsklage entscheidet, und
– der Klägerin die Kosten aufzuerlegen.
48. Die Rechtsmittelgegnerin beantragt,
– das Rechtsmittel der Kommission zurückzuweisen und
– der Kommission die Kosten aufzuerlegen.
49. Die Parteien haben in einer für die drei Rechtsmittel gemeinsam anberaumten Sitzung vom 27. September 2023 mündlich verhandelt und Fragen des Gerichtshofs beantwortet.
V. Würdigung
50. Wie in der Einleitung erwähnt, hängt die Lösung in der Rechtssache C‑597/22 P (B) von der Lösung in den Rechtssachen C‑160/22 P und C‑161/22 P ab, weshalb diese zuerst untersucht werden müssen (A).
A. Rechtssachen C ‑160/22 P und C ‑161/22 P
51. Bevor auf den Inhalt der Rechtssachen eingegangen wird, der die Frage betrifft, ob der CARDS- und der TACIS-Rückforderungsbeschluss tatsächlich in den vertraglichen Rahmen und damit in die Zuständigkeit des Vertragsrichters fallen (2), muss die von der Klägerin bezweifelte Zulässigkeit der Rechtsmittel der Kommission geprüft werden (1).
1. Zulässigkeit der Rechtsmittel
52. Gemäß Art. 56 Abs. 2 der Satzung des Gerichtshofs der Europäischen Union kann ein Rechtsmittel von einer Partei eingelegt werden, die mit ihren Anträgen ganz oder teilweise unterlegen ist.
53. Im vorliegenden Fall sei die Kommission, so die Klägerin, in Bezug auf die von ihr beim Gericht erhobenen Nichtigkeitsklagen gegen den CARDS- und den TACIS-Rückforderungsbeschluss aber nicht mit ihren Anträgen unterlegen, da das Gericht diese Klagen abgewiesen habe. Die Tatsache, dass sie als unzulässig zurück- und nicht, wie von der Kommission beantragt, als unbegründet abgewiesen worden seien, könne nicht bedeuten, dass die Kommission mit ihren Anträgen unterlegen sei.
54. Im Übrigen fehle der Kommission, so die Klägerin weiter, das Rechtsschutzinteresse, soweit sie ihr Rechtsmittel auf die Notwendigkeit stütze, die finanziellen Interessen der Union zu schützen. Diese Argumentation verkenne nämlich die im AEU-Vertrag festgelegte Aufteilung der gerichtlichen Zuständigkeiten und die Tatsache, dass die nationalen Gerichte als Gerichte eines von der Union abgeschlossenen Vertrags ebenso gut wie die Unionsgerichte in der Lage seien, die finanziellen Interessen der Union zu schützen.
55. Diese Unzulässigkeitseinrede ist zurückzuweisen, ohne dass die Frage geklärt zu werden braucht, ob die Kommission als privilegierte Rechtsmittelführerin ein Rechtsschutzinteresse nachweisen muss, wenn sie in Rechtsstreitigkeiten wie den vorliegenden ein Rechtsmittel einlegt. Ebenso wenig ist es erforderlich, das von der Klägerin angeführte Vorbringen, mit dem sie das Rechtsschutzinteresse der Kommission bestreitet, zu prüfen; dieses Vorbringen gehört nach meinem Dafürhalten zur Prüfung der Begründetheit der Rechtsmittel, d. h. zur Frage der Zuständigkeit der Unionsgerichte für die Prüfung von Klagen im ersten Rechtszug, und nicht zur Frage der Zulässigkeit der Rechtsmittel.
56. Es genügt nämlich die Feststellung, dass die Kommission entgegen der Auffassung der Klägerin jedenfalls in Bezug auf die Klagen auf Nichtigerklärung des CARDS- und des TACIS- Rückforderungsbeschlusses durchaus mit ihren Anträgen im ersten Rechtszug unterlegen ist, was ihr ein Rechtsschutzinteresse an einem Rechtsmittel verleiht, um die Nichtigerklärung der Urteile T‑795/19 und T‑796/19 zu erwirken.
57. Insoweit ist daran zu erinnern, dass das Gericht die Nichtigkeitsklagen abgewiesen hat, weil die Rechtsstreitigkeiten seiner Ansicht nach vertraglicher Natur waren und daher in die Zuständigkeit der belgischen Gerichte fielen, bei denen es sich nach den Vorschriften des CARDS- und des TACIS-Vertrags um den Vertragsrichter handelt(8 ). Darüber hinaus hat die Klägerin auch diese belgischen Gerichte mit Klagen befasst, die hinsichtlich ihrer Wirkungen mit den beim Gericht erhobenen Klagen identisch sind, und die belgischen Gerichte haben sich für zuständig erklärt, darüber zu befinden, gleichzeitig aber das Verfahren in Erwartung der Entscheidungen zur Beendigung des Verfahrens in den vorliegenden Rechtssachen ausgesetzt(9 ).
58. Daher ist die Kommission, wie sie zu Recht feststellt, dadurch beschwert, dass das Gericht die von der Klägerin erhobenen Klagen auf Nichtigerklärung des CARDS- und des TACIS-Rückforderungsbeschlusses als unzulässig zurück- und nicht als unbegründet abgewiesen hat, so dass das Rechtsmittel ihr im Ergebnis einen Vorteil verschaffen kann(10 ). Hätte das Gericht diese Klagen inhaltlich geprüft und als unbegründet abgewiesen, wären die Rechtsstreitigkeiten nämlich beendet und die Begründetheit der Ansprüche der Kommission festgestellt worden (vorbehaltlich einer Bestätigung in einem etwaigen Rechtsmittelverfahren).
59. Da die Kommission mithin in Bezug auf die Klagen auf Nichtigerklärung des CARDS- und des TACIS-Rückforderungsbeschlusses mit ihren Anträgen vor dem Gericht unterlegen ist, sind die Rechtsmittel in den Rechtssachen C‑160/22 P und C‑161/22 P sehr wohl zulässig.
2. G erichtliche Zuständigkeit für Klagen gegen den CARDS – und den TACIS -Rückforderungsbeschluss
60. Nach Auffassung der Kommission hat das Gericht Rechtsfehler begangen, als es entschieden hat, dass der CARDS- und der TACIS-Rückforderungsbeschluss für die Zwecke der Bestimmung der gerichtlichen Zuständigkeit für Entscheidungen über sie in den vertraglichen Rahmen fielen, so dass der Vertragsrichter und nicht der Nichtigkeitsrichter zuständig war. Die Kommission ist demgegenüber der Ansicht, dass es sich bei diesen Beschlüssen um anfechtbare Handlungen im Sinne von Art. 263 AEUV handle.
61. Zur Stützung der vorstehenden Argumentation bringt die Kommission drei Rechtsmittelgründe vor, die nach eigenen Angaben eng miteinander verknüpft sind und somit zusammen geprüft werden können. Mit diesen Rechtsmittelgründen macht sie im Wesentlichen geltend, das Gericht habe ihre hoheitlichen Befugnisse, die ihr durch Verordnungen zum Schutz der finanziellen Interessen der Union übertragen würden und darin bestünden, einseitig Unregelmäßigkeiten festzustellen, die Preise für Aufträge zu senken und rechtsgrundlos gezahlte Beträge zurückzufordern, fälschlicherweise als vertraglich eingestuft.
a) Streitige Argumentation des Gerichts
62. Was die streitige Argumentation des Gerichts angeht, so hat dieses zunächst auf die seit dem Urteil Lito Maieftiko Gynaikologiko kai Cheirourgiko Kentro/Kommission (im Folgenden: Urteil Lito)(11 ) ständige Rechtsprechung des Gerichtshofs hingewiesen, wonach die Unionsgerichte ihre Zuständigkeit nicht über die Grenzen hinaus ausdehnen dürfen, die in Art. 274 AEUV gezogen worden sind, der den nationalen Gerichten die allgemeine Zuständigkeit für die Entscheidung von Streitsachen überträgt, in denen die Union Partei ist. Folglich kann eine Klage nach Art. 263 AEUV bei Vorliegen eines Vertrags, der eine klagende Partei an ein Unionsorgan bindet, nur dann bei den Unionsgerichten anhängig gemacht werden, wenn die angefochtene Handlung verbindliche Rechtswirkungen erzeugen soll, die außerhalb der vertraglichen Beziehung, die die Parteien bindet, angesiedelt sind und die Ausübung hoheitlicher Befugnisse voraussetzen, die dem vertragschließenden Organ als Verwaltungsbehörde übertragen worden sind(12 ).
63. In Anbetracht dieser doppelten Voraussetzung hat das Gericht das Argument der Kommission zurückgewiesen, wonach der CARDS- und der TACIS-Rückforderungsbeschluss allein deshalb in den „Verwaltungsbereich“ (im Gegensatz zum „Vertragsbereich“) fielen, weil sie aufgrund von Bestimmungen des abgeleiteten Rechts erlassen worden seien, die der Kommission hoheitliche Befugnisse übertrügen(13 ).
64. Dem Gericht zufolge ergibt sich – wenn unterstellt wird, dass die Haushaltsordnungen von 2002 und 2018(14 ) sowie die Verordnung über den Schutz der finanziellen Interessen der Union die Kommission unter bestimmten Bedingungen zur Durchführung hoheitlicher Maßnahmen ermächtigen – aus den im Urteil Lito aufgestellten Voraussetzungen, dass das nicht ausreichen kann, um diese Maßnahmen von vornherein vom vertraglichen Rahmen auszuschließen, da die Durchführung der genannten Verordnungen auf Verstöße zurückzuführen ist, die einer mit der Union in einer Vertragsbeziehung stehenden Partei angelastet werden(15 ).
65. Nach Ansicht des Gerichts ist ein öffentlicher Auftraggeber, auch wenn die Ausschreibungsverfahren noch nicht in den vertraglichen Rahmen fallen, nach Vertragsunterzeichnung dem ausgewählten Bieter gegenüber vertraglich verpflichtet. Folglich fällt die Ausübung von Befugnissen, die ihm durch Bestimmungen des abgeleiteten Rechts übertragen worden sind, um während des Vergabeverfahrens begangene Unregelmäßigkeiten zu ahnden, ab Vertragsunterzeichnung in den Rahmen vertraglicher Beziehungen. Im vorliegenden Fall käme es somit entscheidend darauf an, dass diese Befugnisse ausgeübt worden sind, obwohl die Parteien einander bereits aus dem CARDS- und dem TACIS-Vertrag verpflichtet waren, dass sie bereits einen wesentlichen Teil oder sogar all ihre jeweiligen Verpflichtungen erfüllt hatten und dass die streitigen Maßnahmen dazu geführt haben, dass die Verpflichtungen der Kommission aus den Verträgen, nämlich die Zahlungen an die Klägerin, aufgehoben worden sind(16 ).
66. Folglich war die zweite von der Rechtsprechung aufgestellte Voraussetzung für die Einstufung einer in einem vertraglichen Rahmen vorgenommenen Handlung als anfechtbare Handlung im Sinne von Art. 263 AEUV nach Auffassung des Gerichts nicht erfüllt, da der CARDS- und der TACIS-Rückforderungsbeschluss lediglich Wirkungen entfalten konnten, die in den vertraglichen Rahmen fielen(17 ).
b) Würdigung der Argumentation der Kommission
67. Die Kommission macht – u. a. im Rahmen ihres ersten Rechtsmittelgrundes – geltend, die Ausführungen des Gerichts schüfen eine neue Rechtsprechung, die darin bestehe, ihre hoheitlichen Befugnisse „vertraglich zu regeln“. Damit wälzten sie das Rechtssystem der Union um, machten die Bestimmungen der von der Kommission erlassenen Beschlüsse unwirksam, beraubten sie ihrer hoheitlichen Befugnisse und entzögen ihr ein wesentliches Instrument zur Verteidigung der finanziellen Interessen der Union.
68. Diese Argumentation kann jedoch keinen Erfolg haben.
69. Denn die Grundsätze, die u. a. durch die Urteile Lito und ADR fest verankert worden sind, werden entgegen dem Vorbringen der Kommission in den streitigen Ausführungen des Gerichts richtig angewandt (1). Auch berührt dessen Lösung nicht die Zuständigkeit der Kommission für die Wahrnehmung ihrer hoheitlichen Befugnisse, sondern betrifft lediglich die gerichtliche Zuständigkeit für Entscheidungen über Maßnahmen, die in diesem Rahmen angenommen worden sind (2).
1) Der CARDS- und der TACIS-Rückforderungsbeschluss vor dem Hintergrund der Voraussetzungen für die Zulässigkeit von Nichtigkeitsklagen gegen Handlungen, die in einem vertraglichen Kontext vorgenommen worden sind
70. Wie das Gericht festgestellt hat, muss eine Handlung, um mit einer auf Art. 263 AEUV gestützten Nichtigkeitsklage angefochten werden zu können, nach dem Urteil Lito bei Vorliegen eines Vertrags, der eine klagende Partei an ein Unionsorgan bindet, eine doppelte Voraussetzung erfüllen: Sie darf nicht nur das Ergebnis der Ausübung hoheitlicher Befugnisse sein, die dem vertragschließenden Organ in seiner Eigenschaft als Verwaltungsbehörde übertragen worden sind, sondern muss auch darauf abzielen, verbindliche Rechtswirkungen zu erzeugen, die außerhalb der vertraglichen Beziehung zwischen den Parteien angesiedelt sind.
71. Daraus folgt, dass, wie das Gericht entgegen dem von der Kommission im Rahmen ihres ersten Rechtsmittelgrundes angeführten Vorbringen zu Recht entschieden hat, der außervertragliche Ursprung der von der Kommission beim Erlass des CARDS- und des TACIS-Rückforderungsbeschlusses wahrgenommenen Befugnisse – sein Vorliegen unterstellt – allein nicht ausreichte, um diese Beschlüsse als nach Art. 263 AEUV anfechtbare Handlungen einzustufen, da die Beschlüsse keine Wirkungen außerhalb der vertraglichen Beziehungen zwischen den Parteien entfaltet haben.
72. Die vorstehende Schlussfolgerung wird nicht durch die von der Kommission – u. a. im Rahmen ihres ersten Rechtsmittelgrundes und in der mündlichen Verhandlung – hervorgehobene Tatsache in Frage gestellt, dass ihr diese Befugnisse als Verwaltungsbehörde übertragen worden sind, um Unregelmäßigkeiten im Sinne von Art. 4 der Verordnung zum Schutz der finanziellen Interessen der Union und Art. 103 der Haushaltsordnung von 2002 zu ahnden sowie den Unionshaushalt zu schützen. Auch die Tatsache, dass die Kommission über eine Ermessensbefugnis verfügt, wenn es darum geht, bereits gezahlte Beträge im Verhältnis zur Schwere der begangenen Unregelmäßigkeiten zurückzufordern, reicht nicht aus, um zu dem Schluss zu gelangen, dass in diesem Rahmen angenommene Maßnahmen für die Zwecke ihrer streitigen Behandlung nicht als in den vertraglichen Rahmen fallend eingestuft werden können.
73. Solche Befugnisse ähneln zwar Maßnahmen „administrativer“ Art, die sich von der Durchsetzung klassischer vertraglicher Rechte und Pflichten unterscheiden, wie beispielsweise der Geltendmachung von Schadensersatzansprüchen wegen mangelhafter Vertragserfüllung(18 ). Dies bedeutet in Bezug auf Verträge der Unionsorgane aber dennoch nicht, dass die vom vertragschließenden Organ vorgenommenen Handlungen zur Wahrnehmung derartiger Befugnisse als anfechtbare Handlungen im Sinne von Art. 263 AEUV eingestuft werden müssen, wenn sie sich in den vertraglichen Rahmen einfügen und keine verbindlichen Rechtswirkungen erzeugen, die außerhalb dieses Rahmens angesiedelt sind(19 ). Es wäre nicht mit dem durch das Primärrecht eingeführten Rechtsbehelfssystem vereinbar, wenn die Befugnisausübung automatisch die Zuständigkeit der Unionsgerichte nach dieser Bestimmung begründen würde.
74. Wie aus den in Nr. 62 der vorliegenden Schlussanträge wiedergegebenen Erwägungen des Urteils Lito folgt, ergibt sich die doppelte Voraussetzung, die erfüllt sein muss, damit eine von der Union einem Vertragspartner gegenüber vorgenommene Handlung mit einer Nichtigkeitsklage angefochten werden kann, in der Tat aus dem durch den AEU-Vertrag eingeführten Rechtsbehelfssystem. Nach den Art. 272 und 274 dieses Vertrags sind Streitsachen, bei denen die Union Partei ist, der Zuständigkeit der einzelstaatlichen Gerichte nicht entzogen, und die Unionsgerichte für Entscheidungen über Streitsachen, die sich aus einem von der Union abgeschlossenen Vertrag ergeben, nur dann zuständig, wenn dieser eine Schiedsklausel zugunsten der Unionsgerichte enthält.
75. Wenn sich folglich die Unionsgerichte auf der Grundlage von Art. 263 AEUV für Klagen für zuständig erklärten, mit denen über die Rechtmäßigkeit von Handlungen entschieden wird, die in einem vertraglichen Rahmen stehen, liefen sie, wie der Gerichtshof in Rn. 19 des Urteils Lito und Rn. 64 des Urteils ADR festgestellt hat, Gefahr, Art. 272 AEUV überflüssig zu machen. Zudem liefen sie, falls der Vertrag keine Schiedsklausel zugunsten der Unionsgerichte enthält, Gefahr, ihre Zuständigkeit über die Grenzen hinaus auszudehnen, die in Art. 274 AEUV gezogen worden sind.
76. Aufgrund dieser Aufteilung der gerichtlichen Zuständigkeiten ist die Definition der anfechtbaren Akte im Sinne von Art. 263 AEUV im vertraglichen Kontext enger gefasst als sonst. Betrifft eine Handlung einen Vertragspartner der Union, reicht es für ihre Anfechtbarkeit nach Art. 263 AEUV daher nicht aus, dass sie gegenüber ihrem Adressaten verbindliche Rechtswirkungen erzeugt; diese verbindlichen Rechtswirkungen müssen auch außerhalb der Vertragsbeziehung zwischen den Parteien angesiedelt sein(20 ). Eine solche Beschränkung des Zugangs von Vertragspartnern der Union zum Nichtigkeitsrichter beeinträchtigt nicht deren Anspruch auf einen Rechtsbehelf, wenn sie vor dem Vertragsrichter über einen wirksamen Rechtsbehelf verfügen(21 ).
77. Außervertragliche Wirkungen eines im vertraglichen Kontext ergangenen Beschlusses liegen beispielsweise beim temporären Ausschluss eines Vertragspartners, der eine Vertragsverletzung begangen hat, von weiteren Aufträgen und Finanzhilfen der Union oder beim „blacklisting“ eines solchen Vertragspartners in einer zentralen Datenbank der Unionsorgane vor(22 ).
78. Im vorliegenden Fall ist die Kommission jedoch den Nachweis schuldig geblieben, welche Wirkungen der CARDS- und der TACIS-Rückforderungsbeschluss außerhalb der vertraglichen Beziehungen zwischen den Parteien haben sollen.
79. Wie das Gericht im Wesentlichen zutreffend festgestellt hat, verpflichten diese Beschlüsse, auch wenn mit ihnen eine vor Abschluss der streitigen Verträge begangene Unregelmäßigkeit geahndet wird, die Klägerin zur Rückerstattung der Zahlungen, die von der Union nach diesen Verträgen an sie geleistet worden sind. Sie betreffen somit die Rechte und Pflichten der Parteien im Rahmen der Verträge. Die Zahlungen standen der Klägerin ursprünglich nur aufgrund der Vertragsbestimmungen zu und wären von der Union nicht geleistet worden, wenn die Verträge noch nicht unterzeichnet gewesen wären. Die der Klägerin auferlegte Verpflichtung zur Rückerstattung der fraglichen Beträge berührt somit ihre Stellung als Vertragspartnerin der Union, erlegt ihr aber keine Verpflichtungen auf, die über diese vertragliche Beziehung hinausgehen oder ihre Wirkungen außerhalb des Vertragsverhältnisses entfalten.
80. Auch wenn sich die von der Kommission ergriffenen Maßnahmen nicht auf die Vertragserfüllung durch die Klägerin beziehen, sanktionieren sie diese somit sehr wohl in ihrer Eigenschaft als Vertragspartnerin der Union. Wie die Kommission im Übrigen selbst – u. a. in der mündlichen Verhandlung in den vorliegenden Rechtssachen – betont hat, war die Tatsache, dass die im vorliegenden Fall geahndeten Unregelmäßigkeiten vor Vertragsschluss begangen worden waren, nicht entscheidend. Für die Einstufung der streitigen Rückforderungsbeschlüsse als anfechtbare Handlungen im Sinne von Art. 263 AEUV komme es entscheidend darauf an, ob das sanktionierte Verhalten eine „Unregelmäßigkeit“ im Sinne der Verordnung über den Schutz der finanziellen Interessen der Union und der Haushaltsordnung von 2002 darstelle.
81. Die Klägerin hat aber zu Recht darauf hingewiesen, dass eine solche Position mit der durch den Vertrag eingeführten Aufteilung der gerichtlichen Zuständigkeiten völlig unvereinbar ist. Denn in Anbetracht der weit gefassten Definition des Begriffs „Unregelmäßigkeit“ in Art. 1 der Verordnung über den Schutz der finanziellen Interessen der Union wäre es unmöglich, zwischen Unregelmäßigkeiten, deren Sanktionierung die Zuständigkeit des Nichtigkeitsrichters begründen würde, und Verletzungen der vertraglichen Verpflichtungen, deren Sanktionierung die Zuständigkeit des Vertragsrichters nach sich ziehen würde, zu differenzieren. Eine solche Situation würde überdies zu Rechtsunsicherheit sowohl für die Vertragspartner der Union als auch für die nationalen Gerichte führen.
82. Abschließend ist zu bemerken, dass sich der CARDS- und der TACIS-Rückforderungsbeschluss, die von der Kommission im vorliegenden Fall erlassen worden sind, von den in der Rechtssache ADR in Rede stehenden Titulierungsbeschlüssen im Sinne von Art. 299 AEUV unterscheiden, die als anfechtbare Handlungen im Sinne von Art. 263 AEUV eingestuft worden sind. Wie der Gerichtshof festgestellt hat, können sich die Wirkungen und die Verbindlichkeit solcher Titulierungsbeschlüsse (die unmittelbar die Zwangsvollstreckung ermöglichen) nämlich nicht aus den vertraglichen Bestimmungen ergeben. Sie ergeben sich vielmehr aus Art. 299 AEUV in Verbindung mit der Bestimmung der Haushaltsordnung, die die Rechtsgrundlage für den Erlass eines solchen Beschlusses in einem konkreten Fall bildet(23 ).
83. Vorliegend begründen die streitigen Rückforderungsbeschlüsse zwar eine Zahlungsverpflichtung, ermöglichen aber im Gegensatz zu Titulierungsbeschlüssen im Sinne von Art. 299 AEUV nicht unmittelbar die Zwangsvollstreckung dieser Verpflichtung. Die außervertraglichen Rechtswirkungen solcher Titulierungsbeschlüsse bestehen darin, dass die Kommission durch einen einseitigen, von ihr selbst erlassenen Hoheitsakt die Vollstreckbarkeit einer vertraglichen Forderung begründet(24 ).
84. Zudem kann die Zwangsvollstreckung eines auf Art. 299 AEUV gestützten Beschlusses nur durch eine Entscheidung des Gerichtshofs der Europäischen Union ausgesetzt werden, während die einzelstaatlichen Rechtsprechungsorgane lediglich für die Prüfung der Ordnungsmäßigkeit der Vollstreckungsmaßnahmen zuständig sind. Folglich muss ein Titulierungsbeschluss im Sinne von Art. 299 AEUV in die Zuständigkeit der Unionsgerichte fallen(25 ). Dagegen ist die Kommission im vorliegenden Fall die Begründung schuldig geblieben, weshalb die streitigen Rückforderungsbeschlüsse ihrer Ansicht nach unbedingt in die Zuständigkeit der Unionsgerichte fallen sollten.
85. Aus den vorstehenden Erwägungen ergibt sich, dass der zweite und der dritte Rechtsmittelgrund ins Leere gehen. Mit diesen Rechtsmittelgründen macht die Kommission im Wesentlichen geltend, das Gericht habe Fehler begangen, als es die von der Kommission mittels des CARDS- und des TACIS-Rückforderungsbeschlusses angenommenen Maßnahmen mit vertraglichen Maßnahmen gleichgesetzt habe, z. B. als Sanktion für einen den Vertragsschluss beeinträchtigenden Mangel oder „Vorsatz“ im Sinne des belgischen Rechts oder auch als rückwirkende Aufhebung der verbindlichen Wirkungen des Vertrags.
86. Selbst wenn sich das Gericht geirrt hätte, als es diese Maßnahmen durch das Prisma des Vertragsrechts analysiert hat, hätte es die von der Rechtsprechung aufgestellten Voraussetzungen für die Prüfung der Anfechtbarkeit oder Nichtanfechtbarkeit von Handlungen der Kommission gegenüber ihren Vertragspartnern im Sinne von Art. 263 AEUV aber gleichwohl korrekt angewandt. Folglich sind der zweite und der dritte Rechtsmittelgrund zurückzuweisen, ohne dass es einer Prüfung der von der Kommission im Rahmen dieser Rechtsmittelgründe vorgebrachten spezifischen Argumente bedarf.
2) Der CARDS- und der TACIS-Rückforderungsbeschluss und die „zwei Hüte“ der Kommission in Vertragssachen
87. Entgegen dem Vorbringen der Kommission nimmt die Lösung des Gerichts ihr nicht die Möglichkeit, die Befugnisse zur Ahndung von Unregelmäßigkeiten auszuüben, die ihr durch die Verordnung über den Schutz der finanziellen Interessen der Union sowie die Haushaltsordnungen von 2002 und 2018 übertragen werden. Das Gericht hat sich nämlich nicht, wie die Kommission offenbar unterstellt, zu deren Zuständigkeit für den Erlass des CARDS- und des TACIS- Rückforderungsbeschlusses geäußert, sondern lediglich zur gerichtlichen Zuständigkeit für Entscheidungen über Klagen gegen diese Beschlüsse.
88. So hat das Gericht nicht einmal die Frage problematisiert, ob die Kommission berechtigt war, den CARDS- und den TACIS-Rückforderungsbeschluss allein auf der Grundlage von Art. 4 der Verordnung über den Schutz der finanziellen Interessen der Union und Art. 103 der Haushaltsordnung von 2002 zu erlassen, oder ob es notwendig war, die einschlägigen Bestimmungen dieser Verordnungen – wie hier geschehen – auch in die vertraglichen Bestimmungen aufzunehmen(26 ). Nach Ansicht des Gerichts gelten die genannten Verordnungen nämlich unmittelbar für die streitigen Verträge; gleichwohl hat es festgestellt, dass die betreffenden Verordnungsbestimmungen jedenfalls im vorliegenden Fall auch in die Vertragsbestimmungen aufgenommen wurden(27 ). Daher braucht im Rahmen der vorliegenden Rechtssachen nicht entschieden zu werden, ob die Kommission die ihr durch die Verordnung über den Schutz der finanziellen Interessen der Union sowie die Haushaltsordnungen von 2002 und 2018 verliehenen Befugnisse gleichwohl ausüben könnte, falls in den vertraglichen Bestimmungen keinerlei Möglichkeit eines Rückgriffs auf diese Befugnisse vorgesehen wäre.
89. Wie die Kommission in der mündlichen Verhandlung selbst erläutert hat, trägt sie beim Abschluss von Verträgen sozusagen „zwei Hüte“: Obwohl sie vertraglich gebunden ist, verfolgt sie kein Eigeninteresse wie eine private Vertragspartei, sondern übt ihre Befugnisse zur Erfüllung ihrer Aufgaben aus, zu denen die Durchführung der Politiken und der Schutz der finanziellen Interessen der Union gehören. Folglich entledigt sie sich selbst als Vertragspartei nicht der spezifischen Rechte und Pflichten, die sie als Behörde innehat, so dass für ihre Verträge andere Regeln gelten als für Verträge zwischen privaten Vertragsparteien. Dies ist umso mehr der Fall, als der Unionsgesetzgeber ihr durch Bestimmungen des abgeleiteten Rechts Handlungsbefugnisse gegenüber ihren Vertragspartnern wie beispielsweise diejenigen übertragen hat, die im vorliegenden Fall wahrgenommen worden sind(28 ).
90. Das bedeutet jedoch nicht, dass im Rahmen dieser Befugnisse ergriffene Maßnahmen in die Zuständigkeit des Nichtigkeitsrichters fallen, wenn ihre Wirkungen innerhalb der vertraglichen Beziehung zwischen den Parteien angesiedelt sind. Andernfalls liefe das der im AEU-Vertrag festgelegten Aufteilung der gerichtlichen Zuständigkeiten für von der Union abgeschlossene Verträge zuwider, wie oben in den Nrn. 70 bis 76 erläutert worden ist.
91. Im Übrigen nimmt die Lösung des Gerichts – anders als die Kommission behauptet – den Rechtsakten, die sie zur Ahndung von Unregelmäßigkeiten ihrer Vertragspartner erlässt, nicht ihre Wirksamkeit oder zwingt die Kommission, sich für die Wahrnehmung ihrer Befugnisse an ein Gericht zu wenden, wodurch sie daran gehindert wird, die finanziellen Interessen der Union zu schützen. So hat das Gericht keineswegs in Frage gestellt, dass einseitige Beschlüsse über die Kündigung von Verträgen und die Rückforderung gezahlter Beträge (in dem Sinne, dass sie eine Zahlungsverpflichtung begründen) mit ihrem Erlass und unabhängig von einem Tätigwerden des Vertragsrichters ihre Wirkungen entfalten. Das einzige, wofür die Kommission den Vertragsrichter bemühen muss, ist nach der ADR-Rechtsprechung die Erlangung eines Vollstreckungstitels für die Einziehung dieser Beträge, wenn der Vertrag keine Schiedsklausel zugunsten der Unionsgerichte enthält. Dies ergibt sich aber aus der im Primärrecht festgelegten Aufteilung der gerichtlichen Zuständigkeiten in Vertragssachen, wie soeben dargelegt worden ist.
92. Schließlich ist in der mündlichen Verhandlung in den vorliegenden Rechtssachen das französische Verwaltungsrecht angesprochen worden, das u. a. im Bereich behördlicher Verträge gewisse Ähnlichkeiten mit dem Verwaltungsrecht der Unionsorgane aufweist. Eine Lösung, die darin besteht, der vertragsschließenden Verwaltung Befugnisse zuzuerkennen, gleichzeitig aber die in Ausübung dieser Befugnisse getroffenen Maßnahmen in die Zuständigkeit des Vertragsrichters und nicht des Nichtigkeitsrichters fallen zu lassen, entspricht jedoch auch der im französischen Verwaltungsrecht gewählten Lösung(29 ).
3. Ergebnis zu den Rechtssachen C ‑160 /22 P und C ‑161 /22 P
93. Aus den vorstehenden Erwägungen ergibt sich, dass das Vorbringen, das von der Kommission angeführt worden ist, um Fehler des Gerichts in den Urteilen T‑795/19 und T‑796/19 aufzuzeigen, keinen Erfolg haben kann. Die Rechtsmittel in den Rechtssachen C‑160/22 P und C‑161/22 P sind somit zurückzuweisen.
B. Rechtssache C ‑597/22 P
94. Wie vorstehend dargelegt(30 ), hat die Rechtssache C‑597/22 P Titulierungsbeschlüsse im Sinne von Art. 299 AEUV zum Gegenstand, die von der Kommission gegen die Klägerin erlassen worden sind, um die mit dem CARDS- und dem TACIS-Rückforderungsbeschluss geforderten Beträge einzuziehen.
95. Mit dem Urteil T‑408/21 hat das Gericht die Titulierungsbeschlüsse in Anwendung der Grundsätze aus dem Urteil ADR für nichtig erklärt. Wie im erstgenannten Urteil festgestellt worden ist(31 ), hat der Gerichtshof entschieden, dass die Kommission keinen Titulierungsbeschluss im Rahmen vertraglicher Beziehungen erlassen kann, wenn diese keine Schiedsklausel zugunsten der Unionsgerichte enthalten und damit in die Zuständigkeit der Gerichte eines Mitgliedstaats fallen.
96. Folglich ergab sich aus der vom Gericht in den Urteilen T‑795/19 und T‑796/19 gewählten Lösung, wonach der CARDS- und der TACIS- Rückforderungsbeschluss vertraglicher Natur waren, dass die Kommission nicht befugt war, Titulierungsbeschlüsse zu deren Durchführung zu erlassen, da weder der CARDS- noch der TACIS-Vertrag eine Schiedsklausel zugunsten der Unionsgerichte enthielt.
97. Mit ihrem Rechtsmittel in der Rechtssache C‑597/22 P macht die Kommission geltend, diese vom Gericht im Urteil T‑408/21 gezogene Schlussfolgerung sei falsch, da seine Schlussfolgerung zur vertraglichen Natur des CARDS- und des TACIS-Rückforderungsbeschlusses in den Urteilen T‑795/19 und T‑796/19 selbst falsch sei.
98. Wie die Kommission selbst einräumt, folgt daraus, dass, wenn der Gerichtshof die vertragliche Natur des CARDS- und des TACIS-Rückforderungsbeschlusses bestätigt, dies ihr die Befugnis zum Erlass des CARDS- und des TACIS-Titulierungsbeschlusses und ihrem Rechtsmittel in der Rechtssache C‑597/22 P die Grundlage entzieht.
99. In Übereinstimmung mit meinem Vorschlag in den Rechtssachen C‑160/22 P und C‑161/22 P, der darin besteht, die vom Gericht in den Urteilen T‑795/19 und T‑796/19 gewählte Lösung zu bestätigen, schlage ich dem Gerichtshof somit vor, die vom Gericht im Urteil T‑408/21 gewählte Lösung ebenfalls zu bestätigen und daher das Rechtsmittel in der Rechtssache C‑597/22 P zurückzuweisen.
C. Zwischenergebnis
100. Aus den vorstehenden Erwägungen ergibt sich, dass sowohl die Rechtsmittel in den verbundenen Rechtssachen C‑160/22 P und C‑161/22 P als auch das Rechtsmittel in der Rechtssache C‑597/22 P zurückzuweisen sind.
VI. Kosten
101. Gemäß Art. 184 Abs. 2 seiner Verfahrensordnung entscheidet der Gerichtshof über die Kosten, wenn das Rechtsmittel unbegründet ist.
102. Nach Art. 138 Abs. 1 dieser Verfahrensordnung, der gemäß ihrem Art. 184 Abs. 1 auf das Rechtsmittelverfahren Anwendung findet, ist die unterliegende Partei auf Antrag zur Tragung der Kosten zu verurteilen.
103. Da die Kommission unterlegen ist, sind ihr gemäß dem Antrag der Klägerin die Kosten aufzuerlegen.
VII. Ergebnis
104. Nach alledem schlage ich dem Gerichtshof vor, in den verbundenen Rechtssachen C‑160/22 P und C‑161/22 P sowie in der Rechtssache C‑597/22 P wie folgt zu entscheiden:
1. Die Rechtsmittel werden zurückgewiesen.
2. Die Europäische Kommission trägt die Kosten.