C-131/23 – Unitatea Administrativ Teritorială Judeţul Unitatea Administrativ Teritorială Judeţul Braşov

C-131/23 – Unitatea Administrativ Teritorială Judeţul Unitatea Administrativ Teritorială Judeţul Braşov

CURIA – Documents

Language of document : ECLI:EU:C:2024:42

Vorläufige Fassung

BESCHLUSS DES GERICHTSHOFS (Neunte Kammer)

9. Januar 2024(*)

„Vorlage zur Vorabentscheidung – Art. 99 der Verfahrensordnung des Gerichtshofs – Acte éclairé – Entscheidung 2006/928/EG – Verfahren für die Zusammenarbeit und die Überprüfung der Fortschritte Rumäniens bei der Erfüllung bestimmter Vorgaben in den Bereichen Justizreform und Korruptionsbekämpfung – Natur und Rechtswirkungen – Verbindlichkeit für Rumänien – Unmittelbare Wirkung der Vorgaben – Verpflichtung zur Bekämpfung der Korruption im Allgemeinen und insbesondere der Korruption auf höchster Ebene – Pflicht, abschreckende und wirksame strafrechtliche Sanktionen vorzusehen – Verjährungsfrist für die strafrechtliche Verantwortlichkeit – Urteil eines Verfassungsgerichts, mit dem eine nationale, die Gründe für die Unterbrechung dieser Frist regelnde Bestimmung für ungültig erklärt wurde – Systemische Gefahr der Straflosigkeit – Grundsatz der Gesetzmäßigkeit im Zusammenhang mit Straftaten und Strafen – Erfordernisse der Vorhersehbarkeit und Bestimmtheit des Strafgesetzes – Grundsatz der rückwirkenden Anwendung des günstigeren Strafgesetzes (lex mitior) – Grundsatz der Rechtssicherheit – Nationaler Schutzstandard für die Grundrechte – Pflicht der Gerichte eines Mitgliedstaats, Urteile des Verfassungsgerichts und/oder des obersten Gerichts dieses Mitgliedstaats im Fall der Unvereinbarkeit mit dem Unionsrecht unangewendet zu lassen“

In der Rechtssache C‑131/23

betreffend ein Vorabentscheidungsersuchen nach Art. 267 AEUV, eingereicht von der Curtea de Apel Braşov (Berufungsgericht Braşov, Rumänien) mit Entscheidung vom 2. März 2023, beim Gerichtshof eingegangen am 3. März 2023, in dem Strafverfahren gegen

C.A.A,

C.V,

Beteiligte:

Parchetul de pe lângă Înalta Curte de Casaţie şi Justiţie – Direcţia Naţională Anticorupţie – Serviciul Teritorial Braşov,

Unitatea Administrativ Teritorială Judeţul Braşov,

erlässt

DER GERICHTSHOF (Neunte Kammer),

unter Mitwirkung der Kammerpräsidentin O. Spineanu-Matei, des Präsidenten der Vierten Kammer C. Lycourgos (Berichterstatter) in Wahrnehmung der Aufgaben eines Richters der Neunten Kammer und der Richterin L. S. Rossi,

Generalanwalt: M. Campos Sánchez-Bordona,

Kanzler: A. Calot Escobar,

aufgrund der nach Anhörung des Generalanwalts ergangenen Entscheidung, gemäß Art. 99 der Verfahrensordnung des Gerichtshofs durch mit Gründen versehenen Beschluss zu entscheiden,

folgenden

Beschluss

1        Das Vorabentscheidungsersuchen betrifft die Auslegung von Art. 19 Abs. 1 Unterabs. 2 EUV, Art. 325 Abs. 1 AEUV und Art. 2 Abs. 1 des Übereinkommens aufgrund von Art. K.3 des Vertrags über die Europäische Union über den Schutz der finanziellen Interessen der Europäischen Gemeinschaften, unterzeichnet in Brüssel am 26. Juli 1995 (ABl. 1995, C 316, S. 49, im Folgenden: SFI-Übereinkommen), der Entscheidung 2006/928/EG der Kommission vom 13. Dezember 2006 zur Einrichtung eines Verfahrens für die Zusammenarbeit und die Überprüfung der Fortschritte Rumäniens bei der Erfüllung bestimmter Vorgaben in den Bereichen Justizreform und Korruptionsbekämpfung (ABl. 2006, L 354, S. 56), von Art. 49 Abs. 1 letzter Satz und Art. 53 der Charta der Grundrechte der Europäischen Union (im Folgenden: Charta) sowie des Grundsatzes des Vorrangs des Unionsrechts.

2        Dieses Ersuchen ergeht im Rahmen außerordentlicher Rechtsbehelfe von C.A.A. und C.V., die auf die Aufhebung ihrer rechtskräftigen Verurteilung wegen Straftaten der unerlaubten Einflussnahme, der Bestechlichkeit und des Amtsmissbrauchs im Fall von C.A.A. und des Amtsmissbrauchs im Fall von C.V. gerichtet sind.

 Rechtlicher Rahmen

 Unionsrecht

3        Die Entscheidung 2006/928 wurde im Zusammenhang mit dem für den 1. Januar 2007 geplanten Beitritt Rumäniens zur Europäischen Union insbesondere auf der Grundlage der Art. 37 und 38 der Akte über die Bedingungen des Beitritts der Bulgarischen Republik und Rumäniens und die Anpassungen der Verträge, auf denen die Europäische Union beruht (ABl. 2005, L 157, S. 203), die am 1. Januar 2007 in Kraft getreten ist, erlassen.

4        Die Erwägungsgründe 1 bis 6 und 9 dieser Entscheidung lauten wie folgt:

„(1)      Die Europäische Union gründet auf dem Rechtsstaatsprinzip, das allen Mitgliedstaaten gemeinsam ist.

(2)      Der Raum der Freiheit, der Sicherheit und des Rechts und der Binnenmarkt, die mit dem Vertrag über die Europäische Union bzw. dem Vertrag zur Gründung der Europäischen Gemeinschaft geschaffen wurden, beruhen auf dem gegenseitigen Vertrauen, dass die Verwaltungs- und Gerichtsentscheidungen und die Verwaltungs- und Gerichtspraxis aller Mitgliedstaaten in jeder Hinsicht mit dem Rechtsstaatsprinzip im Einklang stehen.

(3)      Dies bedeutet, dass alle Mitgliedstaaten über ein unparteiisches, unabhängiges und effizientes Justiz- und Verwaltungssystem verfügen müssen, das ausreichend dafür ausgestattet ist, unter anderem Korruption zu bekämpfen.

(4)      Am 1. Januar 2007 tritt Rumänien der Europäischen Union bei. Die [Europäische] Kommission nimmt zur Kenntnis, dass Rumänien erhebliche Anstrengungen unternimmt, um die Vorbereitungen auf die Mitgliedschaft zum Abschluss zu bringen, hat jedoch in ihrem Bericht vom 26. September 2006 noch unerledigte Fragen insbesondere im Zusammenhang mit Rechenschaftspflicht und Effizienz der Justiz und der Vollzugsbehörden ermittelt, bei denen es weiterer Fortschritte bedarf, um zu gewährleisten, dass sie die Maßnahmen zur Verwirklichung des Binnenmarkts und des Raumes der Freiheit, der Sicherheit und des Rechts umsetzen und anwenden können.

(5)      Nach Artikel 37 der Beitrittsakte kann die Kommission geeignete Maßnahmen erlassen, wenn die unmittelbare Gefahr besteht, dass Rumänien die eingegangenen Verpflichtungen nicht erfüllt und dadurch eine Beeinträchtigung des Funktionierens des Binnenmarkts hervorruft. Nach Artikel 38 der Beitrittsakte kann die Kommission geeignete Maßnahmen erlassen, wenn die unmittelbare Gefahr besteht, dass in Rumänien ernste Mängel bei der Umsetzung, der Durchführung oder der Anwendung von Rechtsakten auftreten, die auf der Grundlage des Titels VI des EU-Vertrags oder des Titels IV des EG-Vertrags erlassen wurden.

(6)      Die noch unerledigten Fragen im Zusammenhang mit Rechenschaftspflicht und Effizienz der Justiz und der Vollzugsbehörden erfordern die Einrichtung eines Verfahrens für die Zusammenarbeit und die Überprüfung der Fortschritte Rumäniens bei der Erfüllung bestimmter Vorgaben in den Bereichen Justizreform und Bekämpfung der Korruption.

(9)      Diese Entscheidung ist zu ändern, wenn die Bewertung durch die Kommission ergibt, dass die Vorgaben angepasst werden müssen. Diese Entscheidung ist aufzuheben, wenn alle Vorgaben zufriedenstellend erfüllt sind.“

5        Art. 1 der Entscheidung 2006/928 sieht vor:

„Bis zum 31. März jedes Jahres und zum ersten Mal bis zum 31. März 2007 erstattet Rumänien der Kommission Bericht über die Fortschritte bei der Erfüllung der im Anhang aufgeführten Vorgaben.

Die Kommission kann jederzeit mit verschiedenen Maßnahmen technische Hilfe leisten oder Informationen zu den Vorgaben sammeln und austauschen. Ferner kann die Kommission zu diesem Zweck jederzeit Fachleute nach Rumänien entsenden. Die rumänischen Behörden leisten in diesem Zusammenhang die erforderliche Unterstützung.“

6        Der Anhang dieser Entscheidung lautet wie folgt:

„Vorgaben für Rumänien nach Artikel 1:

1.      Gewährleistung transparenterer und leistungsfähigerer Gerichtsverfahren durch Stärkung der Kapazitäten und Rechenschaftspflicht des Obersten Richterrats, Berichterstattung und Kontrolle der Auswirkungen neuer Zivil- und Strafprozessordnungen,

2.      Einrichtung einer Behörde für Integrität mit folgenden Zuständigkeiten: Überprüfung von Vermögensverhältnissen, Unvereinbarkeiten und möglichen Interessenskonflikten und Verabschiedung verbindlicher Beschlüsse als Grundlage für abschreckende Sanktionen,

3.      Konsolidierung bereits erreichter Fortschritte bei der Durchführung fachmännischer und unparteiischer Untersuchungen bei Korruptionsverdacht auf höchster Ebene,

4.      Ergreifung weiterer Maßnahmen zur Prävention und Bekämpfung von Korruption, insbesondere in den Kommunalverwaltungen.“

 Rumänisches Recht

 Rumänische Verfassung

7        Der Grundsatz der rückwirkenden Anwendung des günstigeren Strafgesetzes (lex mitior) ist in Art. 15 Abs. 2 der Constituția României (rumänische Verfassung) niedergelegt, wonach „[d]as Gesetz …, mit Ausnahme von günstigeren Straf- oder Verwaltungsrechtsvorschriften, nur für die Zukunft [gilt]“.

8        Art. 147 Abs. 1 und 4 der rumänischen Verfassung lautet:

„(1)      Die Bestimmungen von geltenden Gesetzen und Anordnungen sowie die Bestimmungen von Verordnungen, deren Verfassungswidrigkeit festgestellt wurde, verlieren 45 Tage nach der Veröffentlichung der Entscheidung der Curtea Constituțională [(Verfassungsgerichtshof, Rumänien)] ihre Rechtswirkung, wenn das Parlament bzw. die Regierung in dieser Zeit die verfassungswidrigen Bestimmungen nicht mit den Bestimmungen der Verfassung in Einklang bringt. Während dieses Zeitraums sind die als verfassungswidrig befundenen Bestimmungen von Rechts wegen außer Kraft gesetzt.

(4)      Die Entscheidungen der Curtea Constituțională [(Verfassungsgerichtshof)] werden im Monitorul Oficial al României veröffentlicht. Ab dem Zeitpunkt der Veröffentlichung sind diese Entscheidungen allgemein verbindlich und haben Rechtswirkung nur für die Zukunft.“

 Rumänisches Strafrecht

9        Am 1. Februar 2014 trat die Legea nr. 286/2009, privind Codul penal (Gesetz Nr. 286/2009 über das Strafgesetzbuch) vom 17. Juli 2009 (Monitorul Oficial al României, Teil I, Nr. 510 vom 24. Juli 2009, im Folgenden: Strafgesetzbuch) in Kraft.

10      Die Tragweite des in Art. 15 Abs. 2 der rumänischen Verfassung niedergelegten Grundsatzes der rückwirkenden Anwendung des günstigeren Strafgesetzes (lex mitior) wird in Art. 5 Abs. 1 des Strafgesetzbuchs wie folgt präzisiert:

„Wenn zwischen der Begehung der Straftat und dem verfahrensbeendenden Urteil eines oder mehrere Strafgesetze erlassen wurden, findet das günstigere Anwendung.“

11      Art. 154 Abs. 1 des Strafgesetzbuchs sieht vor:

„Die Verjährungsfristen für die strafrechtliche Verantwortlichkeit betragen:

a)      15 Jahre, wenn das Gesetz für die begangene Straftat eine lebenslange Freiheitsstrafe oder eine Freiheitsstrafe von mehr als 20 Jahren vorsieht;

b)      zehn Jahre, wenn das Gesetz für die begangene Straftat eine Freiheitsstrafe von mehr als zehn Jahren, aber nicht mehr als 20 Jahren vorsieht;

c)      acht Jahre, wenn das Gesetz für die begangene Straftat eine Freiheitsstrafe von mehr als fünf Jahren, aber nicht mehr als zehn Jahren vorsieht;

d)      fünf Jahre, wenn das Gesetz für die begangene Straftat eine Freiheitsstrafe von mehr als einem Jahr, aber nicht mehr als fünf Jahren vorsieht;

e)      drei Jahre, wenn das Gesetz für die begangene Straftat eine Freiheitsstrafe von nicht mehr als einem Jahr oder eine Geldstrafe vorsieht“.

12      Vor dem Inkrafttreten des Strafgesetzbuchs sah die Bestimmung über die Unterbrechung der Verjährungsfristen in Strafsachen Folgendes vor:

„Die Verjährungsfrist gemäß Art. 122 wird durch die Vornahme einer jeden Handlung unterbrochen, die dem Verdächtigen oder Beschuldigten nach dem Gesetz im Lauf des Strafverfahrens mitgeteilt werden muss.“

13      In seiner Fassung nach dem Gesetz Nr. 286/2009 lautete Art. 155 Abs. 1 des Strafgesetzbuchs:

„Die Verjährungsfrist für die strafrechtliche Verantwortlichkeit wird durch die Vornahme einer jeden Verfahrenshandlung in der betreffenden Sache unterbrochen.“

14      Art. 155 Abs. 1 wurde durch die Ordonanța de urgență a Guvernului nr. 71/2022, pentru modificarea articolului 155 alineatul (1) din Legea nr. 286/2009 privind Codul penal (Dringlichkeitsverordnung der Regierung Nr. 71/2022 zur Änderung von Art. 155 Abs. 1 des Gesetzes Nr. 286/2009 über das Strafgesetzbuch) vom 30. Mai 2022 (Monitorul Oficial al României, Teil I, Nr. 531 vom 30. Mai 2022, im Folgenden: OUG Nr. 71/2022) wie folgt geändert:

„Die Verjährungsfrist für die strafrechtliche Verantwortlichkeit wird durch die Vornahme einer jeden Verfahrenshandlung in der betreffenden Sache unterbrochen, die dem Verdächtigen oder Beschuldigten nach dem Gesetz mitgeteilt werden muss.“

15      Art. 426 („Fälle des außerordentlichen Rechtsbehelfs der Nichtigkeitsbeschwerde“) der Legea nr. 135/2010, privind Codul de procedură penală (Gesetz Nr. 135/2010 über die Strafprozessordnung) vom 1. Juli 2010 (Monitorul Oficial al României, Teil I, Nr. 486 vom 15. Juli 2010) sieht in seiner im Ausgangsverfahren anwendbaren Fassung in Buchst. b vor:

„Gegen rechtskräftige Entscheidungen in Strafverfahren kann in folgenden Fällen eine Nichtigkeitsbeschwerde erhoben werden:

b)      wenn der Angeklagte verurteilt wurde, obwohl es Beweise für das Vorliegen eines Grundes für die Einstellung des Strafverfahrens gab.

…“

 Ausgangsverfahren und Vorlagefragen

16      Mit Strafurteil des Tribunalul Brașov (Regionalgericht Brașov, Rumänien) vom 30. April 2020, das durch Strafurteil der Curtea de Apel Brașov (Berufungsgericht Brașov, Rumänien) vom 1. Februar 2022 rechtskräftig wurde, wurde C.A.A. der Bestechlichkeit, der unerlaubten Einflussnahme und des Amtsmissbrauchs und C.V. des Amtsmissbrauchs, jeweils im Zusammenhang mit öffentlichen Vergabeverfahren in Rumänien, für schuldig befunden. C.A.A. wurde zu einer Freiheitsstrafe von sieben Jahren und zehn Monaten mit der Nebenstrafe der Untersagung der Ausübung bestimmter Rechte für fünf Jahre verurteilt. C.V. wurde zu einer Haftstrafe von zwei Jahren verurteilt, die für drei Jahre zur Bewährung ausgesetzt wurde.

17      Am 1. Februar 2022 erließ das Tribunalul Brașov (Regionalgericht Brașov) auf der Grundlage der Verurteilung einen Haftbefehl zur Vollstreckung der gegen C.A.A. verhängten Haftstrafe.

18      In seinem Vorabentscheidungsersuchen verweist das vorlegende Gericht auf eine nationale Rechtsprechung zu Art. 155 Abs. 1 des Strafgesetzbuchs in der Fassung des Gesetzes Nr. 286/2009, die einen entscheidenden Einfluss auf die Situation der Beschwerdeführer des Ausgangsverfahrens haben könne.

19      Das Gericht führt erstens aus, dass die Curtea Constituțională (Verfassungsgerichtshof), mit Urteil Nr. 297 vom 26. April 2018, veröffentlicht am 25. Juni 2018 (im Folgenden: Urteil Nr. 297/2018 der Curtea Constituțională [Verfassungsgerichtshof]), einem Einwand der Verfassungswidrigkeit dieser Bestimmung stattgegeben habe, soweit sie die Unterbrechung der Verjährungsfrist für die strafrechtliche Verantwortlichkeit durch „jede Verfahrenshandlung“ vorsehe.

20      Die Curtea Constituțională (Verfassungsgerichtshof) habe insbesondere festgestellt, dass es der genannten Bestimmung an der Vorhersehbarkeit fehle und dass sie gegen den Grundsatz der Gesetzmäßigkeit im Zusammenhang mit Straftaten und Strafen verstoße, da sich die Worte „jede Verfahrenshandlung“ auch auf Handlungen erstreckten, die dem Verdächtigen oder Beschuldigten nicht mitgeteilt worden seien, so dass dieser keine Kenntnis davon erlangen könne, dass eine neue Verjährungsfrist für seine strafrechtliche Verantwortlichkeit zu laufen begonnen habe.

21      Ferner habe sie festgestellt, dass Art. 155 Abs. 1 des Strafgesetzbuchs in seiner Fassung vor Inkrafttreten des Gesetzes Nr. 286/2009 den in den einschlägigen verfassungsrechtlichen Bestimmungen aufgestellten Anforderungen an die Vorhersehbarkeit genügt habe, da er vorgesehen habe, dass nur die Vornahme einer Handlung, die dem Verdächtigen oder Beschuldigten mitzuteilen sei, die Verjährungsfrist für seine strafrechtliche Verantwortlichkeit unterbrechen könne.

22      Zweitens geht aus den Ausführungen des vorlegenden Gerichts hervor, dass der nationale Gesetzgeber im Anschluss an das Urteil Nr. 297/2018 der Curtea Constituțională (Verfassungsgerichtshof) mehrere Jahre lang nicht tätig wurde, um die für verfassungswidrig erklärte Bestimmung von Art. 155 Abs. 1 des Strafgesetzbuchs zu ersetzen.

23      Drittens führt das vorlegende Gericht aus, dass die Curtea Constituțională (Verfassungsgerichtshof) mit Urteil Nr. 358 vom 26. Mai 2022, veröffentlicht am 9. Juni 2022 (im Folgenden: Urteil Nr. 358/2022 der Curtea Constituțională [Verfassungsgerichtshof]), einem erneuten Einwand der Verfassungswidrigkeit von Art. 155 Abs. 1 des Strafgesetzbuchs stattgegeben habe. In dieser Entscheidung habe die Curtea Constituțională (Verfassungsgerichtshof) klargestellt, dass ihr Urteil Nr. 297/2018 die Rechtsnatur eines „einfachen“ Urteils zur Verfassungswidrigkeit habe. Unter Hervorhebung der Untätigkeit des Gesetzgebers seit dem Urteil Nr. 297/2018 und der Tatsache, dass dieses Urteil zusammen mit der Untätigkeit zu einer neuen Situation geführt habe, in der es an Klarheit und Vorhersehbarkeit der für die Unterbrechung der Verjährungsfrist für strafrechtliche Verantwortlichkeit geltenden Regeln gemangelt habe und zu einer uneinheitlichen gerichtlichen Praxis gekommen sei, habe die Curtea Constituțională (Verfassungsgerichtshof) klargestellt, dass zwischen der Veröffentlichung des Urteils Nr. 297/2018 und dem Inkrafttreten eines normativen Aktes zur Festlegung der anwendbaren Regel „das [rumänische] positive Recht keinen Fall [enthielt], der die Unterbrechung der Verjährungsfrist für die strafrechtliche Verantwortlichkeit zulässt“.

24      Viertens geht aus dem Vorabentscheidungsersuchen hervor, dass die rumänische Regierung als delegierter Gesetzgeber am 30. Mai 2022, d. h. nach Erlass des Urteils Nr. 358/2022 der Curtea Constituțională (Verfassungsgerichtshof), aber vor dessen Veröffentlichung, die am selben Tag in Kraft getretene OUG Nr. 71/2022 erlassen hat, mit der Art. 155 Abs. 1 des Strafgesetzbuchs dahin geändert wurde, dass die Verjährungsfrist für die strafrechtliche Verantwortlichkeit durch jede Verfahrenshandlung unterbrochen wird, die dem Verdächtigen oder Beschuldigten mitgeteilt werden muss.

25      Fünftens weist das vorlegende Gericht darauf hin, dass die Înalta Curte de Casație și Justiție (Oberster Kassations- und Gerichtshof) mit ihrem am 28. November 2022 veröffentlichten Urteil Nr. 67/2022 vom 25. Oktober 2022 klargestellt habe, dass nach rumänischem Recht die Vorschriften über die zur Unterbrechung der Verjährungsfrist für die strafrechtliche Verantwortlichkeit zum materiellen Strafrecht gehörten und dass sie daher unbeschadet des u. a. in Art. 15 Abs. 2 der rumänischen Verfassung garantierten Grundsatzes der rückwirkenden Anwendung des günstigeren Strafgesetzes (lex mitior) dem strafrechtlichen Rückwirkungsverbot unterlägen.

26      Infolgedessen habe die Înalta Curte de Casație și Justiție (Oberster Kassations- und Gerichtshof) entschieden, dass eine rechtskräftige Verurteilung grundsätzlich Gegenstand des außerordentlichen Rechtsbehelfs der Nichtigkeitsbeschwerde sein könne, gestützt auf die Wirkungen der Urteile Nr. 297/2018 und Nr. 358/2022 der Curtea Constituțională (Verfassungsgerichtshof) als günstigeres Strafgesetz (lex mitior). Diese Möglichkeit sei jedoch ausgeschlossen, wenn das Berufungsgericht die Frage der Verjährung der strafrechtlichen Verantwortlichkeit in dem Verfahren, das zur rechtskräftigen Verurteilung geführt habe, bereits geprüft habe.

27      C.A.A. und C.V. legten jeweils bei der Curtea de Apel Brașov (Berufungsgericht Brașov), die das vorlegende Gericht ist, auf der Grundlage von Art. 426 Buchst. b des Gesetzes Nr. 135/2010 über die Strafprozessordnung in der im Ausgangsverfahren anwendbaren Fassung eine Nichtigkeitsbeschwerde ein und beantragen die Aufhebung des in Rn. 16 des vorliegenden Beschlusses genannten Urteils vom 30. April 2020 mit der Begründung, dass sie verurteilt worden seien, obwohl es Beweise für das Vorliegen eines Grundes für die Beendigung des Strafverfahrens, nämlich den Ablauf der Verjährungsfrist für ihre strafrechtliche Verantwortlichkeit, gegeben habe. Zum Zeitpunkt der Einreichung seiner Nichtigkeitsbeschwerde am 21. Juni 2022 war C.A.A. inhaftiert.

28      Zur Stützung ihrer Beschwerde berufen sich die Beschwerdeführer auf der Grundlage des Grundsatzes der rückwirkenden Anwendung des günstigeren Strafgesetzes (lex mitior) auf die Verjährung ihrer strafrechtlichen Verantwortlichkeit im Anschluss an die Urteile Nr. 297/2018 und Nr. 358/2022 der Curtea Constituțională (Verfassungsgerichtshof).

29      Die Beschwerdeführer machen im Wesentlichen geltend, das rumänische Recht habe zwischen der Veröffentlichung des Urteils Nr. 297/2018 der Curtea Constituțională (Verfassungsgerichtshof) am 25. Juni 2018 und der Veröffentlichung des Urteils Nr. 358/2022 des Verfassungsgerichts am 9. Juni 2022 keinen Grund für eine Unterbrechung der Verjährungsfrist für die strafrechtliche Verantwortlichkeit vorgesehen.

30      Der Umstand, dass das positive Recht während dieser Zeit keinen Grund für eine Unterbrechung der Verjährungsfrist für die strafrechtliche Verantwortlichkeit vorgesehen habe, stelle für sich genommen ein günstigeres Strafgesetz dar, das nach dem u. a. in der rumänischen Verfassung verankerten Grundsatz der rückwirkenden Anwendung des günstigeren Strafgesetzes (lex mitior) auf sie anzuwenden sei.

31      Sollte dieser Auslegung gefolgt werden, wäre nach den Feststellungen des vorlegenden Gerichts angesichts des Zeitpunkts der Begehung der Straftaten, die zur Verurteilung der Beschwerdeführer des Ausgangsverfahrens geführt haben, die für diese Straftaten vorgesehene Verjährungsfrist abgelaufen, bevor die Verurteilung der Beschwerdeführer rechtskräftig wurde, was dazu führen würde, dass das Strafverfahren einzustellen wäre und sie nicht verurteilt werden könnten.

32      In diesem Zusammenhang möchte das vorlegende Gericht wissen, ob die von den Beschwerdeführern des Ausgangsverfahrens vertretene Auslegung mit dem Unionsrecht vereinbar ist. Das Gericht weist zunächst darauf hin, dass diese Auslegung zur Folge hätte, dass die Beschwerdeführer von ihrer strafrechtlichen Verantwortung für Korruptionsdelikte befreit würden, obwohl die Entscheidung 2006/928 Rumänien verpflichte, solche Delikte wirksam und abschreckend zu bekämpfen.

33      Es betont ferner, dass es im Ausgangsverfahren sowohl um Korruptionsdelikte im engeren Sinne, nämlich um Bestechlichkeit und unerlaubte Einflussnahme, im Zusammenhang mit Verfahren zur Vergabe öffentlicher Aufträge gehe als auch um korruptionsähnliche Delikte, nämlich um Amtsmissbrauch, der ebenfalls im Zusammenhang mit öffentlichen Aufträgen von Beamten begangen worden sei, von denen einer eine besonders wichtige Funktion in einer territorialen Verwaltungseinheit innegehabt habe.

34      Sodann führt das vorlegende Gericht aus, dass die von den Beschwerdeführern des Ausgangsverfahrens vertretene Auslegung, die dazu führe, dass sie von ihrer strafrechtlichen Verantwortlichkeit befreit würden, auch im Hinblick auf Art. 19 Abs. 1 Unterabs. 2 EUV, Art. 325 Abs. 1 AEUV und Art. 2 Abs. 1 des SFI-Übereinkommens zu prüfen sei. Diese Bestimmungen, die den Schutz der finanziellen Interessen der Union beträfen, seien auf den vorliegenden Fall anwendbar, da die im Ausgangsverfahren in Rede stehenden Straftaten im Zusammenhang mit Verfahren zur Vergabe öffentlicher Aufträge begangen worden seien, die mit öffentlichen Mitteln finanziert worden seien und die Erhebung von Mehrwertsteuer zur Folge gehabt hätten.

35      Das Gericht fügt in diesem Zusammenhang hinzu, dass der Unionshaushalt u. a. durch die von den Mitgliedstaaten gezahlten Beträge finanziert werde, die einem Prozentsatz des Bruttonationaleinkommens entsprächen. Daher wirkten sich Handlungen, die den nationalen Haushalt schädigten, auf die Höhe des Beitrags des Mitgliedstaats zum Unionshaushalt aus und berührten damit mittelbar die finanziellen Interessen der Union.

36      Schließlich macht das vorlegende Gericht geltend, dass sein Vorabentscheidungsersuchen auch im Hinblick auf Art. 49 Abs. 1 letzter Satz und Art. 53 der Charta zu prüfen sei, da das nationale Gericht je nach der Antwort des Gerichtshofs möglicherweise den Grundsatz des günstigeren Strafgesetzes anwenden und prüfen müsse, ob die nationalen Schutzstandards, die sich aus den den Urteilen der Curtea Constituțională (Verfassungsgerichtshof) beigemessenen Wirkungen ergäben, den Vorrang des Unionsrechts beachteten.

37      Das vorlegende Gericht führt aus, dass die Auswirkungen der Urteile Nr. 297/2018 und Nr. 358/2022 der Curtea Constituțională (Verfassungsgerichtshof) auf die Verjährung der strafrechtlichen Verantwortlichkeit in einer besonders hohen Zahl von Fällen zur Einstellung des Strafverfahrens geführt hätten und damit zu einem erheblichen Schaden sowie zur Wiederaufnahme von Fällen, die im Zeitraum vom 25. Juni 2018, dem Datum der Veröffentlichung des Urteils Nr. 297/2018 der Curtea Constituțională (Verfassungsgerichtshof), bis zum 30. Mai 2022, dem Datum des Inkrafttretens der OUG Nr. 71/2022, bereits rechtskräftig entschieden worden seien, was die Effizienz des gesamten Justizsystems beeinträchtige, dem damit ein wesentliches Element im Kampf gegen die Korruption fehle.

38      Darüber hinaus habe die Kommission in ihrem Bericht vom 22. November 2022 an das Europäische Parlament und den Rat über Rumäniens Fortschritte im Rahmen des Kooperations- und Kontrollverfahrens (KOM[2022] 664 final) ihre Besorgnis über die erheblichen Auswirkungen dieser Rechtsprechung auf laufende Strafverfahren, insbesondere in Korruptionsfällen, zum Ausdruck gebracht.

39      Unter diesen Umständen hat die Curtea de Apel Brașov (Berufungsgericht Brașov) beschlossen, das Verfahren auszusetzen und dem Gerichtshof folgende Fragen zur Vorabentscheidung vorzulegen:

1.      Sind Art. 19 Abs. 1 Unterabs. 2 EUV, Art. 325 Abs. 1 AEUV, Art. 2 Abs. 1 des SFI‑Übereinkommens und die Entscheidung 2006/928/EG der Kommission dahin auszulegen, dass sie der Anwendung eines Urteils der Curtea Constituțională (Verfassungsgerichtshof, Rumänien) entgegenstehen, mit dem rückwirkend festgestellt wurde, dass keine Fälle der Unterbrechung der Verjährung vorliegen, unter der Berücksichtigung, dass es eine allgemeine und gefestigte Rechtsprechung der nationalen Gerichte einschließlich der Înalta Curțe de Casație și Justiție (Oberster Kassations- und Gerichtshof, Rumänien) gibt und die Anwendung dieser Entscheidung eine systemische Gefahr der Straflosigkeit mit sich brächte, weil eine erhebliche Zahl rechtskräftig abgeschlossener Strafverfahren wieder aufgenommen und im Rahmen außerordentlicher Rechtsbehelfe aufgrund der Feststellung des Ablaufs der Verjährungsfrist eingestellt werden müsste?

2.      Stehen der Grundsatz des Vorrangs des Unionsrechts mit Bezug auf die Entscheidung 2006/928 und Art. 49 Abs. 1 Satz 3 (Grundsatz der Rückwirkung eines milderen Strafgesetzes) der Charta der Überprüfung der Verjährung der strafrechtlichen Verantwortlichkeit im Stadium der Strafvollstreckung mittels eines außerordentlichen Rechtsbehelfs entgegen, wenn die Einlegung dieses Rechtsbehelfs infolge einer Entscheidung der Curtea Constituțională (Verfassungsgerichtshof) erfolgt, die nach Eintritt der Rechtskraft der Verurteilungen ergangen ist und die allgemeine und gefestigte Rechtsprechung der nationalen Gerichte ändert und dadurch die abschreckende Wirkung und Wirksamkeit der Strafe sowie die Sicherheit und Stabilität der Rechtsverhältnisse gefährdet?

3.      Erlaubt der Grundsatz des Vorrangs des Unionsrechts mit Bezug auf Art. 53 der Charta die Anwendung nationaler Schutzstandards wie der im Ausgangsverfahren in Rede stehenden, die durch das nationale Recht des Mitgliedstaats gewährleistet sind und sich aus den Wirkungen ergeben, die den Urteilen der Curtea Constituțională (Verfassungsgerichtshof) beigemessen werden, wenn dadurch die wirksame Anwendung des Rechts der Europäischen Union im Hoheitsgebiet des Mitgliedstaats beeinträchtigt wird?

 Verfahren vor dem Gerichtshof

40      Mit Beschluss des Präsidenten des Gerichtshofs vom 30. März 2023 ist das Verfahren in der vorliegenden Rechtssache bis zur Verkündung des Urteils in der Rechtssache Lin (C‑107/23 PPU) ausgesetzt worden.

41      Nachdem der Gerichtshof am 24. Juli 2023 sein Urteil in der Rechtssache Lin (C‑107/23 PPU, EU:C:2023:606) erlassen hatte, hat der Präsident des Gerichtshofs am selben Tag die Fortsetzung des Verfahrens angeordnet.

42      Das vorlegende Gericht, dem die Kanzlei dieses Urteil übermittelt hatte, hat dem Gerichtshof mitgeteilt, dass es sein Vorabentscheidungsersuchen aufrechterhalten wolle.

43      In seinem Vorabentscheidungsersuchen hat das vorlegende Gericht den Gerichtshof ersucht, die vorliegende Rechtssache dem beschleunigten Verfahren nach Art. 105 der Verfahrensordnung des Gerichtshofs zu unterwerfen.

44      Angesichts der Entscheidung, gemäß Art. 99 der Verfahrensordnung durch mit Gründen versehenen Beschluss zu entscheiden, hat sich der Antrag erledigt.

 Zur Zulässigkeit des Vorabentscheidungsersuchens

45      Nach ständiger Rechtsprechung ist es im Rahmen der durch Art. 267 AEUV geschaffenen Zusammenarbeit zwischen dem Gerichtshof und den nationalen Gerichten allein Sache des nationalen Gerichts, das mit dem Rechtsstreit befasst ist und in dessen Verantwortungsbereich die zu erlassende Entscheidung fällt, anhand der Besonderheiten der Rechtssache sowohl die Erforderlichkeit einer Vorabentscheidung für den Erlass seines Urteils als auch die Erheblichkeit der dem Gerichtshof vorzulegenden Fragen zu beurteilen. Daher ist der Gerichtshof grundsätzlich gehalten, über ihm vorgelegte Fragen zu befinden, wenn diese die Auslegung des Unionsrechts betreffen (Urteil vom 21. März 2023, Mercedes-Benz Group [Haftung der Hersteller von Fahrzeugen mit Abschalteinrichtungen], C‑100/21, EU:C:2023:229, Rn. 52 und die dort angeführte Rechtsprechung).

46      Infolgedessen spricht eine Vermutung für die Entscheidungserheblichkeit der Fragen zum Unionsrecht. Der Gerichtshof kann die Beantwortung einer Vorlagefrage eines nationalen Gerichts nur ablehnen, wenn die erbetene Auslegung des Unionsrechts offensichtlich in keinem Zusammenhang mit den Gegebenheiten oder dem Gegenstand des Ausgangsrechtsstreits steht, wenn das Problem hypothetischer Natur ist oder wenn der Gerichtshof nicht über die tatsächlichen und rechtlichen Angaben verfügt, die für eine zweckdienliche Beantwortung der ihm vorgelegten Fragen erforderlich sind (Urteil vom 21. März 2023, Mercedes-Benz Group [Haftung der Hersteller von Fahrzeugen mit Abschalteinrichtungen], C‑100/21, EU:C:2023:229, Rn. 53 und die dort angeführte Rechtsprechung).

47      Im vorliegenden Fall betrifft die erste Frage des vorlegenden Gerichts u. a. die Auslegung von Art. 325 Abs. 1 AEUV und Art. 2 Abs. 1 des SFI-Übereinkommens, die dem Schutz der finanziellen Interessen der Union dienen.

48      Es ist festzustellen, dass der Ausgangsrechtsstreit, wie aus Rn. 16 des vorliegenden Beschlusses hervorgeht, Straftaten der Bestechlichkeit, der unerlaubten Einflussnahme und des Amtsmissbrauchs im Zusammenhang mit Verfahren zur Vergabe öffentlicher Aufträge in Rumänien betrifft.

49      Anders als bei den Korruptionsdelikten, um die es in bestimmten Rechtsstreitigkeiten in der dem Urteil vom 21. Dezember 2021, Euro Box Promotion u. a. (C‑357/19, C‑379/19, C‑547/19, C‑811/19 und C‑840/19, EU:C:2021:1034), zugrunde liegenden Rechtssache ging und die im Zusammenhang mit Verfahren zur Vergabe von teilweise aus Unionsmitteln finanzierten öffentlichen Aufträgen begangen worden waren, deutet in den dem Gerichtshof vorliegenden Verfahrensakten nichts darauf hin, dass die finanziellen Interessen der Union durch die im Ausgangsverfahren in Rede stehenden Straftaten beeinträchtigt worden wären.

50      Insbesondere kann der Umstand, dass im Rahmen der betreffenden Verfahren zur Vergabe öffentlicher Aufträge Mehrwertsteuer erhoben wurde, nicht ausreichen, um davon auszugehen, dass die finanziellen Interessen der Union beeinträchtigt wurden. Ebenso wenig kann der vom vorlegenden Gericht angeführte Umstand ausreichen, dass die begangenen Straftaten möglicherweise den Staatshaushalt geschädigt haben, was sich wiederum auf die Höhe des Beitrags von Rumänien zum Unionshaushalt auswirken könnte.

51      Nach alledem steht die erste Frage, soweit sie die Auslegung von Art. 325 Abs. 1 AEUV und Art. 2 Abs. 1 des SFI-Übereinkommens betrifft, in keinem Zusammenhang mit den Gegebenheiten oder dem Gegenstand des Ausgangsrechtsstreits. Sie ist daher in diesem Umfang offensichtlich unzulässig.

 Zu den Vorlagefragen

52      Gemäß Art. 99 seiner Verfahrensordnung kann der Gerichtshof auf Vorschlag des Berichterstatters und nach Anhörung des Generalanwalts jederzeit die Entscheidung treffen, durch mit Gründen versehenen Beschluss zu entscheiden, wenn die Antwort auf eine zur Vorabentscheidung vorgelegte Frage klar aus der Rechtsprechung abgeleitet werden kann.

53      Weiter ist darauf hinzuweisen, dass die durch Art. 267 AEUV eingeführte justizielle Zusammenarbeit auf einer klaren Aufgabentrennung zwischen dem Gerichtshof und den nationalen Gerichten beruht. Zum einen ist der Gerichtshof nicht befugt, die Normen des Unionsrechts auf einen Einzelfall anzuwenden, sondern hat nur die Befugnis, sich zur Auslegung der Verträge und der Rechtsakte der Organe, Einrichtungen und sonstigen Stellen der Union zu äußern (vgl. in diesem Sinne Urteil vom 18. Mai 2021, Asociaţia „Forumul Judecătorilor din România“ u. a., C‑83/19, C‑127/19, C‑195/19, C‑291/19, C‑355/19 und C‑397/19, EU:C:2021:393, Rn. 201 sowie die dort angeführte Rechtsprechung). Zum anderen haben nach Rn. 11 der Empfehlungen des Gerichtshofs der Europäischen Union an die nationalen Gerichte bezüglich der Vorlage von Vorabentscheidungsersuchen (ABl. 2019, C 380, S. 1) die nationalen Gerichte in den bei ihnen anhängigen Rechtsstreitigkeiten die konkreten Konsequenzen aus den Auslegungshinweisen des Gerichtshofs zu ziehen (vgl. in diesem Sinne Urteil vom 25. Oktober 2018, Roche Lietuva, C‑413/17, EU:C:2018:865, Rn. 43).

54      Im vorliegenden Fall ist der Gerichtshof trotz der vom vorlegenden Gericht geäußerten Zweifel der Ansicht, dass sich die von diesem erbetene Auslegung des Unionsrechts klar aus den Urteilen vom 21. Dezember 2021, Euro Box Promotion u. a. (C‑357/19, C‑379/19, C‑547/19, C‑811/19 und C‑840/19, EU:C:2021:1034), und vom 24. Juli 2023, Lin (C‑107/23 PPU, EU:C:2023:606), ableiten lässt. Daher ist Art. 99 der Verfahrensordnung in der vorliegenden Rechtssache anzuwenden.

55      Wie aus Rn. 53 des vorliegenden Beschlusses hervorgeht, wird das vorlegende Gericht im Ausgangsverfahren die konkreten Konsequenzen aus den sich aus dieser Rechtsprechung des Gerichtshofs ergebenden Auslegungshinweisen zu ziehen haben.

56      Die Fragen des vorlegenden Gerichts, die zusammen zu prüfen sind, betreffen, soweit sie zulässig sind, die Auslegung von Art. 19 Abs. 1 Unterabs. 2 EUV, Art. 49 Abs. 1 letzter Satz und Art. 53 der Charta sowie der Entscheidung 2006/928.

57      Aus der Begründung der Vorlageentscheidung geht jedoch hervor, dass die den Fragen zugrunde liegenden Zweifel des vorlegenden Gerichts im Wesentlichen die Auslegung der Bestimmungen des Unionsrechts, wonach die Mitgliedstaaten zur wirksamen Korruptionsbekämpfung verpflichtet sind, auf der einen Seite und der sich aus dem Grundsatz der Gesetzmäßigkeit im Zusammenhang mit Straftaten und Strafen ergebenden Garantien auf der anderen Seite betreffen.

58      Unter diesen Umständen sind die Fragen nur im Hinblick auf die Entscheidung 2006/928 sowie auf Art. 49 Abs. 1 und Art. 53 der Charta zu prüfen.

59      Demnach möchte das vorlegende Gericht mit seinen Fragen im Wesentlichen wissen, ob die in der vorstehenden Randnummer genannten Bestimmungen des Unionsrechts dahin auszulegen sind, dass die Gerichte eines Mitgliedstaats verpflichtet sind, zum einen Urteile des Verfassungsgerichts dieses Mitgliedstaats unangewendet zu lassen, mit denen die nationale Rechtsvorschrift, die die Gründe für die Unterbrechung der Verjährungsfrist in Strafsachen regelt, wegen eines Verstoßes gegen die Anforderungen an die Vorhersehbarkeit und Bestimmtheit des Strafrechts, die sich aus dem Grundsatz der Gesetzmäßigkeit im Zusammenhang mit Straftaten und Strafen ergeben, für ungültig erklärt wurde, sowie zum anderen ein Urteil des obersten Gerichts dieses Mitgliedstaats unangewendet zu lassen, aus dem hervorgeht, dass die sich aus der Verfassungsrechtsprechung ergebenden Vorschriften für diese Unterbrechungsgründe rückwirkend als günstigeres Strafgesetz (lex mitior) angewandt werden können, um rechtskräftige Verurteilungen in Frage zu stellen, wobei diese Urteile zur Folge haben, dass eine beträchtliche Zahl von Strafverfahren einschließlich solcher, in denen es um Korruptionsdelikte geht, wegen Verjährung der strafrechtlichen Verantwortlichkeit eingestellt wird.

 Zum Verstoß gegen die Verpflichtung Rumäniens zur wirksamen Korruptionsbekämpfung

60      Der Gerichtshof hat bereits entscheiden, dass die Entscheidung 2006/928, solange sie nicht aufgehoben ist, für Rumänien in allen ihren Teilen verbindlich ist und dass die in ihrem Anhang aufgeführten Vorgaben sicherstellen sollen, dass dieser Mitgliedstaat den in Art. 2 EUV genannten Wert der Rechtsstaatlichkeit beachtet, und für ihn in dem Sinne verbindlich sind, dass er verpflichtet ist, die zur Erreichung dieser Vorgaben geeigneten Maßnahmen zu ergreifen, wobei er gemäß dem in Art. 4 Abs. 3 EUV genannten Grundsatz der loyalen Zusammenarbeit die von der Kommission auf der Grundlage dieser Entscheidung erstellten Berichte, insbesondere die in den Berichten formulierten Empfehlungen, gebührend zu berücksichtigen hat (Urteil vom 21. Dezember 2021, Euro Box Promotion u. a., C‑357/19, C‑379/19, C‑547/19, C‑811/19 und C‑840/19, EU:C:2021:1034, Rn. 175).

61      Zu den im Anhang der Entscheidung 2006/928 aufgeführten Vorgaben gehören die „Konsolidierung bereits erreichter Fortschritte bei der Durchführung fachmännischer und unparteiischer Untersuchungen bei Korruptionsverdacht auf höchster Ebene“ (dritte Vorgabe) sowie die „Ergreifung weiterer Maßnahmen zur Prävention und Bekämpfung von Korruption, insbesondere in den Kommunalverwaltungen“ (vierte Vorgabe).

62      Aus diesen für Rumänien verbindlichen Vorgaben ergibt sich, dass die Entscheidung 2006/928 die Verpflichtung Rumäniens begründet, Korruption im Allgemeinen und insbesondere Korruption auf höchster Ebene, vor allem in der Kommunalverwaltung, wirksam zu bekämpfen. In diesem Zusammenhang geht aus der Vorlageentscheidung hervor, dass C.A.A. eine wichtige Führungsposition in einer kommunalen Verwaltungsbehörde in Rumänien innehatte.

63      Um den Vorgaben dieser Entscheidung nachzukommen, die die Verhütung und Bekämpfung der in der vorstehenden Randnummer genannten Korruption verlangen, ist Rumänien verpflichtet, wirksame und abschreckende Strafen vorzusehen (vgl. in diesem Sinne Urteil vom 21. Dezember 2021, Euro Box Promotion u. a., C‑357/19, C‑379/19, C‑547/19, C‑811/19 und C‑840/19, EU:C:2021:1034, Rn. 190 und 191).

64      Außerdem hat Rumänien sicherzustellen, dass seine strafrechtlichen und strafverfahrensrechtlichen Vorschriften eine wirksame Ahndung von Korruptionsdelikten ermöglichen. Somit fallen zwar die zur Bekämpfung dieser Straftaten vorgesehenen Sanktionen und eingerichteten Strafverfahren in die Zuständigkeit dieses Mitgliedstaats, doch wird diese Zuständigkeit nicht nur durch die Grundsätze der Verhältnismäßigkeit und der Äquivalenz beschränkt, sondern auch durch den Grundsatz der Effektivität, der besagt, dass diese Sanktionen wirksam und abschreckend sein müssen. Dieses Effektivitätserfordernis erstreckt sich notwendigerweise sowohl auf die Verfolgung und die Sanktionierung von Korruptionsdelikten als auch auf die Vollstreckung der verhängten Strafen, da die Sanktionen nicht wirksam und abschreckend sein können, wenn sie nicht vollstreckt werden (vgl. in diesem Sinne Urteil vom 21. Dezember 2021, Euro Box Promotion u. a., C‑357/19, C‑379/19, C‑547/19, C‑811/19 und C‑840/19, EU:C:2021:1034, Rn. 192).

65      Im vorliegenden Fall ergibt sich aus den oben in den Rn. 18 bis 26 wiedergegebenen Ausführungen des vorlegenden Gerichts, dass zum einen gemäß den Urteilen Nr. 297/2018 und Nr. 358/2022 der Curtea Constituțională (Verfassungsgerichtshof) im Zeitraum vom 25. Juni 2018, dem Datum der Veröffentlichung des Urteils Nr. 297/2018, bis zum 30. Mai 2022, dem Datum des Inkrafttretens der OUG Nr. 71/2022, das rumänische Recht keinen Fall vorsah, der eine Unterbrechung der Verjährungsfrist für die strafrechtliche Verantwortlichkeit zuließ, und dass zum anderen nach dem Urteil Nr. 67/2022 der Înalta Curte de Casație și Justiție (Oberster Kassations- und Gerichtshof) die sich aus dieser Verfassungsrechtsprechung ergebende Regel als günstigeres Strafgesetz (lex mitior) geltend gemacht werden kann, und zwar auch, um rechtskräftige Verurteilungen in Frage zu stellen.

66      Zu den konkreten Auswirkungen, die mit dieser Rechtsprechung verbunden sein könnten, führt das vorlegende Gericht aus, dass im Rahmen des Ausgangsverfahrens die Anwendung der sich aus den Urteilen Nr. 297/2018 und Nr. 358/2022 der Curtea Constituțională (Verfassungsgerichtshof) ergebenden Regel, wonach das rumänische Recht während des in der vorstehenden Randnummer genannten Zeitraums keinen Grund für die Unterbrechung der Verjährungsfrist für die strafrechtliche Verantwortlichkeit vorsah, zur Folge hätte, dass die Verjährungsfrist für die im Ausgangsverfahren in Rede stehenden Straftaten abgelaufen wäre, bevor die Verurteilung der Beschwerdeführer des Ausgangsverfahrens rechtskräftig geworden wäre, was dazu führen würde, dass das Strafverfahren einzustellen wäre und sie nicht verurteilt werden könnten.

67      Das vorlegende Gericht hat außerdem betont, dass die Urteile Nr. 297/2018 und Nr. 358/2022 der Curtea Constituțională (Verfassungsgerichtshof) eine „besonders hohe Zahl von Fällen“ betreffen könnten, einschließlich solcher, die durch die Verkündung rechtskräftiger Verurteilungen bereits abgeschlossen waren, die nun durch außerordentliche Rechtsbehelfe wie die im Ausgangsverfahren in Frage gestellt werden könnten.

68      Darüber hinaus bestätigen die Daten, die die Kommission in ihrem in Rn. 38 des vorliegenden Beschlusses erwähnten, gemäß Art. 2 der Entscheidung 2006/928 erstellten Bericht vorgelegt hat, das Bestehen einer Gefahr, dass viele Korruptionsfälle wegen der Verjährung der damit verbundenen strafrechtlichen Verantwortlichkeit nicht mehr geahndet werden können. Aus dem vom vorlegenden Gericht angeführten Bericht geht nämlich hervor, dass die Urteile Nr. 297/2018 und Nr. 358/2022 der Curtea Constituțională (Verfassungsgerichtshof) „in einer erheblichen Zahl von Fällen zur Einstellung des Strafverfahrens und zur Aufhebung der strafrechtlichen Haftung“ führen könnten und dass „die Einstellung von Strafverfahren in einer derart hohen Zahl von Korruptionsfällen erhebliche Auswirkungen auf die Anstrengungen zur Bekämpfung von Korruption auf hoher Ebene … haben [kann]“.

69      Aus den vorstehenden Gesichtspunkten lässt sich ableiten, dass die rechtliche Situation, die sich aus der Anwendung der Urteile Nr. 297/2018 und Nr. 358/2022 der Curtea Constituțională (Verfassungsgerichtshof) sowie des Urteils Nr. 67/2022 der Înalta Curte de Casație și Justiție (Oberster Kassations- und Gerichtshof) ergibt, eine systemische Gefahr der Straflosigkeit bei Korruptionsdelikten birgt, insbesondere in Fällen, deren Komplexität eine längere Untersuchung durch die Strafverfolgungsbehörden erfordert (vgl. in diesem Sinne Urteil vom 24. Juli 2023, Lin, C‑107/23 PPU, EU:C:2023:606, Rn. 91).

70      Das Vorliegen einer solchen systemischen Gefahr der Straflosigkeit ist mit den oben in den Rn. 59 bis 61 dieses Beschlusses genannten Anforderungen der Entscheidung 2006/928 unvereinbar.

71      Insoweit obliegt es in erster Linie dem nationalen Gesetzgeber, die zur Erfüllung dieser Anforderungen nötigen Maßnahmen zu ergreifen, indem er insbesondere die erforderlichen Bestimmungen erlässt und gegebenenfalls die bestehenden Bestimmungen ändert, um zu gewährleisten, dass die Regelung für die Verfolgung und Ahndung von Korruptionsdelikten, einschließlich der Vorschriften über die Verjährung der strafrechtlichen Verantwortlichkeit, mit der Entscheidung 2006/928 vereinbar ist. Diese Regelung muss so ausgestaltet sein, dass nicht aus ihr innewohnenden Gründen eine systemische Gefahr besteht, dass solche Straftaten ungeahndet bleiben, und muss zugleich den Schutz der Grundrechte der Beschuldigten gewährleisten (vgl. in diesem Sinne Urteil vom 24. Juli 2023, Lin, C‑107/23 PPU, EU:C:2023:606, Rn. 93).

72      Eine rechtliche Situation, in der die Regelung eines Mitgliedstaats für die Unterbrechung der Verjährungsfrist für die strafrechtliche Verantwortlichkeit vom Verfassungsgericht dieses Mitgliedstaats für ungültig erklärt und damit ihrer Wirkung beraubt wurde und der nationale Gesetzgeber während eines Zeitraums von fast vier Jahren nicht Abhilfe geschaffen hat, ist mit der in den Rn. 59 bis 61 des vorliegenden Beschlusses genannten Verpflichtung unvereinbar, dafür zu sorgen, dass im Inland begangene Korruptionsdelikte mit wirksamen und abschreckenden strafrechtlichen Sanktionen geahndet werden. Einer solchen Situation, die eine allgemeine, für alle Strafverfahren geltende Bestimmung betrifft, deren ersatzloser Wegfall infolge der Feststellung ihrer Verfassungswidrigkeit weder für die Strafverfolgungsbehörden noch für die Strafgerichte vorhersehbar war, wohnt nämlich die Gefahr inne, dass zahlreiche Korruptionsfälle, insbesondere in Fällen, deren Komplexität eine längere Untersuchung durch die Strafverfolgungsbehörden erfordert, aufgrund des Eintritts der Verjährung nicht geahndet werden können (vgl. in diesem Sinne Urteil vom 24. Juli 2023, Lin, C‑107/23 PPU, EU:C:2023:606, Rn. 94).

 Verpflichtungen der nationalen Gerichte

73      Nach ständiger Rechtsprechung ist ein nationales Gericht, das im Rahmen seiner Zuständigkeit die Bestimmungen des Unionsrechts anzuwenden hat und eine nationale Regelung nicht im Einklang mit den Anforderungen des Unionsrechts auslegen kann, nach dem Grundsatz des Vorrangs des Unionsrechts verpflichtet, für die volle Wirksamkeit dieser Anforderungen in dem bei ihm anhängigen Rechtsstreit Sorge zu tragen, indem es erforderlichenfalls jede – auch spätere – nationale Regelung oder Praxis, die einer Bestimmung des Unionsrechts mit unmittelbarer Wirkung entgegensteht, unangewendet lässt, ohne dass es die vorherige Beseitigung dieser nationalen Regelung oder Praxis auf gesetzgeberischem Weg oder durch irgendein anderes verfassungsrechtliches Verfahren beantragen oder abwarten müsste (Urteil vom 24. Juli 2023, Lin, C‑107/23 PPU, EU:C:2023:606, Rn. 95).

74      Im vorliegenden Fall sind die im Anhang der Entscheidung 2006/928 aufgeführten Vorgaben klar und präzise formuliert und an keine Bedingung geknüpft, so dass sie unmittelbare Wirkung haben (vgl. in diesem Sinne Urteil vom 21. Dezember 2021, Euro Box Promotion u. a., C‑357/19, C‑379/19, C‑547/19, C‑811/19 und C‑840/19, EU:C:2021:1034, Rn. 253).

75      Daher müssen die nationalen Gerichte grundsätzlich den Verpflichtungen, die sich aus dieser Entscheidung ergeben, volle Wirkung verleihen und innerstaatliche Rechtsvorschriften unangewendet lassen, wenn diese im Rahmen eines Verfahrens über Korruptionsdelikte der Verhängung effektiver und abschreckender Strafen zur Bekämpfung solcher Straftaten entgegenstehen (vgl. in diesem Sinne Urteil vom 21. Dezember 2021, Euro Box Promotion u. a., C‑357/19, C‑379/19, C‑547/19, C‑811/19 und C‑840/19, EU:C:2021:1034, Rn. 194).

76      Somit sind die nationalen Gerichte nach der Entscheidung 2006/928 grundsätzlich verpflichtet, die Urteile Nr. 297/2018 und Nr. 358/2022 der Curtea Constituțională (Verfassungsgerichtshof), aus denen sich ergibt, dass vom 25. Juni 2018, an dem das Urteil Nr. 297/2018 veröffentlicht wurde, bis zum 30. Mai 2022, an dem die OUG Nr. 71/2022 in Kraft trat, das rumänische Recht keinen Grund für eine Unterbrechung der Verjährungsfrist für die strafrechtliche Verantwortlichkeit vorsah, unangewendet zu lassen, soweit diese Urteile zur Folge haben, dass bei einer Vielzahl von Korruptionsfällen die Verjährung der strafrechtlichen Verantwortlichkeit eingetreten ist und somit, wie in Rn. 66 des vorliegenden Beschlusses festgestellt, eine systemische Gefahr der Straflosigkeit solcher Taten geschaffen wird (vgl. in diesem Sinne Urteil vom 24. Juli 2023, Lin, C‑107/23 PPU, EU:C:2023:606, Rn. 98).

77      Desgleichen sind die nationalen Gerichte nach diesen Bestimmungen grundsätzlich verpflichtet, das Urteil Nr. 67/2022 der Înalta Curte de Casație și Justiție (Oberster Kassations- und Justizgerichtshof) unangewendet zu lassen, soweit dieses Urteil es ermöglicht, die Verjährung der strafrechtlichen Verantwortlichkeit aufgrund der Wirkungen der Urteile Nr. 297/2018 und Nr. 358/2022 der Curtea Constituțională (Verfassungsgerichtshof) als günstigeres Strafgesetz (lex mitior) in Korruptionsfällen geltend zu machen, und damit die systemische Gefahr der Straflosigkeit solcher Taten erhöht (vgl. in diesem Sinne Urteil vom 24. Juli 2023, Lin, C‑107/23 PPU, EU:C:2023:606, Rn. 99).

78      Zu prüfen bleibt aber noch, ob der Verpflichtung, die genannten Urteile unangewendet zu lassen, in einer Situation wie der im Ausgangsverfahren in Rede stehenden der Schutz der Grundrechte entgegensteht (Urteil vom 24. Juli 2023, Lin, C‑107/23 PPU, EU:C:2023:606, Rn. 100).

79      In diesem Zusammenhang ist erstens festzustellen, dass Strafverfahren, die Korruptionsdelikte zum Gegenstand haben, eine Umsetzung der Verpflichtungen Rumäniens aus der Entscheidung 2006/928 und damit eine Durchführung des Unionsrechts im Sinne von Art. 51 Abs. 1 der Charta darstellen. Die Grundrechte, die den im Ausgangsverfahren betroffenen Personen durch die Charta garantiert werden, sind daher zu beachten (vgl. in diesem Sinne Urteil vom 21. Dezember 2021, Euro Box Promotion u. a., C‑357/19, C‑379/19, C‑547/19, C‑811/19 und C‑840/19, EU:C:2021:1034, Rn. 204).

80      Wie der Gerichtshof in Rn. 109 des Urteils vom 24. Juli 2023, Lin (C‑107/23 PPU, EU:C:2023:606), festgestellt hat, vermag die Verpflichtung der nationalen Gerichte, die Urteile Nr. 297/2018 und Nr. 358/2022 der Curtea Constituțională (Verfassungsgerichtshof) sowie das Urteil Nr. 67/2022 der Înalta Curte de Casație și Justiție (Oberster Kassations- und Gerichtshof) unangewendet zu lassen, weder den Grundsatz der Vorhersehbarkeit und Bestimmtheit sowie das Rückwirkungsverbot im Zusammenhang mit Straftaten und Strafen noch den Grundsatz der rückwirkenden Anwendung des günstigeren Strafgesetzes (lex mitior), die in Art. 49 Abs. 1 der Charta gewährleistet sind, zu beeinträchtigen.

81      Zweitens ist darauf hinzuweisen, dass es, wenn ein Gericht eines Mitgliedstaats wie im vorliegenden Fall zu prüfen hat, ob eine nationale Bestimmung oder Maßnahme, mit der das Unionsrecht in einer Situation, in der es das Handeln der Mitgliedstaaten nicht vollständig bestimmt, im Sinne von Art. 51 Abs. 1 der Charta durchgeführt wird, mit den Grundrechten vereinbar ist, den nationalen Behörden und Gerichten unbenommen bleibt, nationale Schutzstandards für die Grundrechte anzuwenden, sofern dadurch weder das Schutzniveau der Charta in ihrer Auslegung durch den Gerichtshof noch der Vorrang, die Einheit und die Wirksamkeit des Unionsrechts beeinträchtigt werden (Urteil vom 24. Juli 2023, Lin, C‑107/23 PPU, EU:C:2023:606, Rn. 110).

82      In Rn. 111 des Urteils vom 24. Juli 2023, Lin (C‑107/23 PPU, EU:C:2023:606), hat der Gerichtshof festgestellt, dass die Lösungen in den Urteilen Nr. 297/2018 und Nr. 358/2022 der Curtea Constituțională (Verfassungsgerichtshof) sowie im Urteil Nr. 67/2022 der Înalta Curte de Casație și Justiție (Oberster Kassations- und Justizgerichtshof) auf dem Grundsatz der Gesetzmäßigkeit im Zusammenhang mit Straftaten und Strafen sowie dem Grundsatz der rückwirkenden Anwendung des günstigeren Strafgesetzes (lex mitior) beruhen, die in der rumänischen Verfassung garantiert sind und daher als nationale Schutzstandards für die Grundrechte anzusehen sind.

83      Aus Rn. 118 des Urteils vom 24. Juli 2023, Lin (C‑107/23 PPU, EU:C:2023:606), ergibt sich im Wesentlichen, dass die rumänischen Gerichte nicht verpflichtet sind, die in der vorstehenden Randnummer angeführte nationale Rechtsprechung im Einklang mit der Entscheidung 2006/928 unangewendet zu lassen, ungeachtet des Vorliegens einer systemischen Gefahr der Straflosigkeit von Korruptionsdelikten, da diese nationale Rechtsprechung auf den die Vorhersehbarkeit und Bestimmtheit des Strafrechts, einschließlich der Verjährungsregelung für Straftaten, betreffenden Anforderungen des im nationalen Recht geschützten Grundsatzes der Gesetzmäßigkeit im Zusammenhang mit Straftaten und Strafen beruht.

84      Dagegen ist in Anbetracht der notwendigen Abwägung zwischen dem nationalen Schutzstandard in Form des Grundsatzes der rückwirkenden Anwendung des günstigeren Strafgesetzes (lex mitior) und den Bestimmungen der Entscheidung 2006/928 davon auszugehen, dass die Anwendung dieses Standards durch ein nationales Gericht, um die Unterbrechung der Verjährungsfrist für die strafrechtliche Verantwortlichkeit durch Verfahrenshandlungen aus der Zeit vor dem 25. Juni 2018, an dem das Urteil Nr. 297/2018 der Curtea Constituțională (Verfassungsgerichtshof) veröffentlicht wurde, in Frage zu stellen, geeignet ist, den Vorrang, die Einheit und die Wirksamkeit des Unionsrechts im Sinne der in Rn. 76 des vorliegenden Beschlusses angeführten Rechtsprechung zu beeinträchtigen (vgl. in diesem Sinne Urteil vom 24. Juli 2023, Lin, C‑107/23 PPU, EU:C:2023:606, Rn. 123).

85      Folglich ist davon auszugehen, dass die nationalen Gerichte im Rahmen von Gerichtsverfahren, mit denen Korruptionsdelikte strafrechtlich geahndet werden sollen, den nationalen Schutzstandard in Form des Grundsatzes der rückwirkenden Anwendung des günstigeren Strafgesetzes (lex mitior) (siehe oben, Rn. 62) nicht anwenden können, um die Unterbrechung der Verjährungsfrist für die strafrechtliche Verantwortlichkeit durch Verfahrenshandlungen aus der Zeit vor dem 25. Juni 2018, an dem das Urteil Nr. 297/2018 der Curtea Constituțională (Verfassungsgerichtshof) veröffentlicht wurde, in Frage zu stellen (vgl. in diesem Sinne Urteil vom 24. Juli 2023, Lin, C‑107/23 PPU, EU:C:2023:606, Rn. 124).

86      Unter diesen Umständen ist auf die gestellten Fragen zu antworten, dass die Entscheidung 2006/928 dahin auszulegen ist, dass die Gerichte eines Mitgliedstaats nicht verpflichtet sind, Urteile des Verfassungsgerichts dieses Mitgliedstaats unangewendet zu lassen, mit denen die nationale Rechtsvorschrift, die die Gründe für die Unterbrechung der Verjährungsfrist in Strafsachen regelt, wegen eines Verstoßes gegen die Anforderungen an die Vorhersehbarkeit und Bestimmtheit des Strafrechts, die sich aus dem Grundsatz der Gesetzmäßigkeit im Zusammenhang mit Straftaten und Strafen ergeben, für ungültig erklärt wurde, auch wenn diese Urteile zur Folge haben, dass eine beträchtliche Zahl von Strafverfahren einschließlich solcher, in denen es um Korruptionsdelikte geht, wegen Verjährung der strafrechtlichen Verantwortlichkeit eingestellt wird. Dagegen ist diese Entscheidung dahin auszulegen, dass die Gerichte dieses Mitgliedstaats verpflichtet sind, einen den Grundsatz der rückwirkenden Anwendung des günstigeren Strafgesetzes (lex mitior) betreffenden nationalen Schutzstandard unangewendet zu lassen, der es gestattet, die Unterbrechung der Verjährungsfrist für die strafrechtliche Verantwortlichkeit in solchen Rechtssachen durch Verfahrenshandlungen, die vor einer solchen Feststellung der Ungültigkeit vorgenommen wurden, auch im Rahmen von Rechtsbehelfen gegen rechtskräftige Urteile in Frage zu stellen.

 Kosten

87      Für die Beteiligten des Ausgangsverfahrens ist das Verfahren Teil des beim vorlegenden Gericht anhängigen Verfahrens; die Kostenentscheidung ist daher Sache dieses Gerichts.

Aus diesen Gründen hat der Gerichtshof (Neunte Kammer) für Recht erkannt:

Die Entscheidung 2006/928/EG der Kommission vom 13. Dezember 2006 zur Einrichtung eines Verfahrens für die Zusammenarbeit und die Überprüfung der Fortschritte Rumäniens bei der Erfüllung bestimmter Vorgaben in den Bereichen Justizreform und Korruptionsbekämpfung

ist dahin auszulegen, dass

die Gerichte eines Mitgliedstaats nicht verpflichtet sind, Urteile des Verfassungsgerichts dieses Mitgliedstaats unangewendet zu lassen, mit denen die nationale Rechtsvorschrift, die die Gründe für die Unterbrechung der Verjährungsfrist in Strafsachen regelt, wegen eines Verstoßes gegen die Anforderungen an die Vorhersehbarkeit und Bestimmtheit des Strafrechts, die sich aus dem Grundsatz der Gesetzmäßigkeit im Zusammenhang mit Straftaten und Strafen ergeben, für ungültig erklärt wurde, auch wenn diese Urteile zur Folge haben, dass eine beträchtliche Zahl von Strafverfahren einschließlich solcher, in denen es um Korruptionsdelikte geht, wegen Verjährung der strafrechtlichen Verantwortlichkeit eingestellt wird.

Dagegen ist diese Entscheidung dahin auszulegen, dass

die Gerichte dieses Mitgliedstaats verpflichtet sind, einen den Grundsatz der rückwirkenden Anwendung des günstigeren Strafgesetzes (lex mitior) betreffenden nationalen Schutzstandard unangewendet zu lassen, der es gestattet, die Unterbrechung der Verjährungsfrist für die strafrechtliche Verantwortlichkeit in solchen Rechtssachen durch Verfahrenshandlungen, die vor einer solchen Feststellung der Ungültigkeit vorgenommen wurden, auch im Rahmen von Rechtsbehelfen gegen rechtskräftige Urteile in Frage zu stellen.

Unterschriften



Leave a Comment

Schreibe einen Kommentar