Vorläufige Fassung
URTEIL DES GERICHTSHOFS (Siebte Kammer)
22. Februar 2024(* )
„Vorlage zur Vorabentscheidung – Sozialpolitik – Schutz der Arbeitnehmer bei Zahlungsunfähigkeit des Arbeitgebers – Richtlinie 2008/94/EG – Übernahme der nicht erfüllten Ansprüche der Arbeitnehmer aus Arbeitsverträgen und Arbeitsverhältnissen durch die Garantieeinrichtungen – Ausschluss bei Kenntnisnahme der Beendigung des Arbeitsvertrags durch den Arbeitnehmer“
In der Rechtssache C‑125/23
betreffend ein Vorabentscheidungsersuchen nach Art. 267 AEUV, eingereicht von der Cour d’appel d’Aix-en-Provence (Berufungsgericht Aix-en-Provence, Frankreich) mit Entscheidung vom 24. Februar 2023, beim Gerichtshof eingegangen am 1. März 2023, in dem Verfahren
Association Unedic délégation AGS de Marseille
gegen
V,
W,
X,
Y,
Z,
Insolvenzverwalter der Gesellschaft K
erlässt
DER GERICHTSHOF (Siebte Kammer)
unter Mitwirkung des Kammerpräsidenten F. Biltgen, des Richters N. Wahl und der Richterin M. L. Arastey Sahún (Berichterstatterin),
Generalanwalt: P. Pikamäe,
Kanzler: A. Calot Escobar,
aufgrund des schriftlichen Verfahrens,
unter Berücksichtigung der Erklärungen
– der Association Unedic délégation AGS de Marseille, vertreten durch I. Piquet-Maurin, avocate,
– der französischen Regierung, vertreten durch R. Bénard und T. Lechevallier als Bevollmächtigte,
– der Europäischen Kommission, vertreten durch F. Clotuche-Duvieusart und F. van Schaik als Bevollmächtigte,
aufgrund des nach Anhörung des Generalanwalts ergangenen Beschlusses, ohne Schlussanträge über die Rechtssache zu entscheiden,
folgendes
Urteil
1 Das Vorabentscheidungsersuchen betrifft die Auslegung der Richtlinie 2008/94/EG des Europäischen Parlaments und des Rates vom 22. Oktober 2008 über den Schutz der Arbeitnehmer bei Zahlungsunfähigkeit des Arbeitgebers (ABl. 2008, L 283, S. 36).
2 Es ergeht im Rahmen eines Rechtsstreits zwischen der Association Unedic délégation AGS de Marseille (im Folgenden: AGS de Marseille) auf der einen Seite und V, W, X, Y und Z (im Folgenden: betroffene Arbeitnehmer) sowie dem Insolvenzverwalter der Gesellschaft K auf der anderen Seite wegen der Befriedigung der nicht erfüllten Ansprüche dieser Arbeitnehmer nach der gerichtlichen Liquidation dieser Gesellschaft.
Rechtlicher Rahmen
Unionsrecht
3 Die Erwägungsgründe 3 und 7 der Richtlinie 2008/94 lauten:
„(3) Es sind Bestimmungen notwendig, die die Arbeitnehmer bei Zahlungsunfähigkeit des Arbeitgebers schützen und um ihnen ein Minimum an Schutz zu sichern, insbesondere die Zahlung ihrer nicht erfüllten Ansprüche zu gewährleisten; dabei muss die Notwendigkeit einer ausgewogenen wirtschaftlichen und sozialen Entwicklung in der Gemeinschaft berücksichtigt werden. Deshalb sollten die Mitgliedstaaten eine Einrichtung schaffen, die die Befriedigung der nicht erfüllten Arbeitnehmeransprüche garantiert.
…
(7) Die Mitgliedstaaten können Grenzen für die Verpflichtungen der Garantieeinrichtungen festlegen, die mit der sozialen Zielsetzung der Richtlinie vereinbar sein müssen und die unterschiedliche Höhe von Ansprüchen berücksichtigen können.“
4 Art. 1 der Richtlinie 2008/94 sieht vor:
„(1) Diese Richtlinie gilt für Ansprüche von Arbeitnehmern aus Arbeitsverträgen oder Arbeitsverhältnissen gegen Arbeitgeber, die zahlungsunfähig im Sinne des Artikels 2 Absatz 1 sind.
(2) Die Mitgliedstaaten können die Ansprüche bestimmter Gruppen von Arbeitnehmern wegen des Bestehens anderer Garantieformen ausnahmsweise vom Anwendungsbereich dieser Richtlinie ausschließen, wenn diese den Betroffenen nachweislich einen Schutz gewährleisten, der dem sich aus dieser Richtlinie ergebenden Schutz gleichwertig ist.
…“
5 Art. 2 der Richtlinie 2008/94 bestimmt:
„(1) Im Sinne dieser Richtlinie gilt ein Arbeitgeber als zahlungsunfähig, wenn die Eröffnung eines nach den Rechts- und Verwaltungsvorschriften eines Mitgliedstaats vorgeschriebenen Gesamtverfahrens beantragt worden ist, das die Insolvenz des Arbeitgebers voraussetzt und den teilweisen oder vollständigen Vermögensbeschlag gegen diesen Arbeitgeber sowie die Bestellung eines Verwalters oder einer Person, die eine ähnliche Funktion ausübt, zur Folge hat, und wenn die aufgrund der genannten Rechts- und Verwaltungsvorschriften zuständige Behörde
a) die Eröffnung des Verfahrens beschlossen hat oder
b) festgestellt hat, dass das Unternehmen oder der Betrieb des Arbeitgebers endgültig stillgelegt worden ist und die Vermögensmasse nicht ausreicht, um die Eröffnung des Verfahrens zu rechtfertigen.
(2) Diese Richtlinie lässt das einzelstaatliche Recht bezüglich der Begriffsbestimmung der Worte ‚Arbeitnehmer‘, ‚Arbeitgeber‘, ‚Arbeitsentgelt‘, ‚erworbenes Recht‘ und ‚Anwartschaftsrecht‘ unberührt.
…“
6 Art. 3 der Richtlinie 2008/94 lautet:
„Die Mitgliedstaaten treffen die erforderlichen Maßnahmen, damit vorbehaltlich des Artikels 4 Garantieeinrichtungen die Befriedigung der nicht erfüllten Ansprüche der Arbeitnehmer aus Arbeitsverträgen und Arbeitsverhältnissen sicherstellen, einschließlich, sofern dies nach ihrem innerstaatlichen Recht vorgesehen ist, einer Abfindung bei Beendigung des Arbeitsverhältnisses.
Die Ansprüche, deren Befriedigung die Garantieeinrichtung übernimmt, sind die nicht erfüllten Ansprüche auf Arbeitsentgelt für einen Zeitraum, der vor und/oder gegebenenfalls nach einem von den Mitgliedstaaten festgelegten Zeitpunkt liegt.“
7 Art. 4 der Richtlinie 2008/94 bestimmt:
„(1) Die Mitgliedstaaten können die in Artikel 3 vorgesehene Zahlungspflicht der Garantieeinrichtungen begrenzen.
(2) Machen die Mitgliedstaaten von der in Absatz 1 genannten Möglichkeit Gebrauch, so legen sie die Dauer des Zeitraums fest, für den die Garantieeinrichtung die nicht erfüllten Ansprüche zu befriedigen hat. Diese Dauer darf jedoch einen Zeitraum, der die letzten drei Monate des Arbeitsverhältnisses und die damit verbundenen Ansprüche auf Arbeitsentgelt umfasst und der vor und/oder nach dem Zeitpunkt gemäß Artikel 3 Absatz 2 liegt, nicht unterschreiten.
Die Mitgliedstaaten können festlegen, dass dieser Mindestzeitraum von drei Monaten innerhalb eines Bezugszeitraums von mindestens sechs Monaten liegen muss.
Die Mitgliedstaaten, die einen Bezugszeitraum von mindestens 18 Monaten vorsehen, können den Zeitraum, für den die Garantieeinrichtung die nicht erfüllten Ansprüche zu befriedigen hat, auf acht Wochen beschränken. In diesem Fall werden für die Berechnung des Mindestzeitraums die für die Arbeitnehmer vorteilhaftesten Zeiträume zugrunde gelegt.
(3) Die Mitgliedstaaten können Höchstgrenzen für die von der Garantieeinrichtung zu leistenden Zahlungen festsetzen. Diese Höchstgrenzen dürfen eine mit der sozialen Zielsetzung dieser Richtlinie zu vereinbarende soziale Schwelle nicht unterschreiten.
Machen die Mitgliedstaaten von dieser Befugnis Gebrauch, so teilen sie der [Europäischen] Kommission mit, nach welcher Methode sie die Höchstgrenze festsetzen.“
8 Art. 11 der Richtlinie 2008/94 sieht vor:
„Diese Richtlinie schränkt nicht die Möglichkeit der Mitgliedstaaten ein, für die Arbeitnehmer günstigere Rechts- oder Verwaltungsvorschriften anzuwenden oder zu erlassen.
Die Durchführung dieser Richtlinie darf unter keinen Umständen als Begründung für einen Rückschritt gegenüber der bestehenden Situation in jedem einzelnen Mitgliedstaat und gegenüber dem allgemeinen Niveau des Arbeitnehmerschutzes in dem von ihr abgedeckten Bereich herangezogen werden.“
9 Art. 12 der Richtlinie 2008/94 bestimmt:
„Diese Richtlinie steht nicht der Möglichkeit der Mitgliedstaaten entgegen,
a) die zur Vermeidung von Missbräuchen notwendigen Maßnahmen zu treffen;
…“
Französisches Recht
10 Art. L. 3253-6 des Code du travail (Arbeitsgesetzbuch) in seiner auf den Ausgangsrechtsstreit anwendbaren Fassung (im Folgenden: Arbeitsgesetzbuch) bestimmt:
„Jeder privatrechtliche Arbeitgeber versichert seine Arbeitnehmer, einschließlich der ins Ausland entsandten oder im Ausland lebenden Arbeitnehmer im Sinne von Art. L. 5422-13, gegen das Risiko der Nichtzahlung der ihnen aufgrund des Arbeitsvertrags geschuldeten Beträge für den Fall eines Sanierungs‑, Insolvenz- oder gerichtlichen Liquidationsverfahrens.“
11 Art. L. 3253-8 des Arbeitsgesetzbuchs sieht vor:
„Die in Art. L. 3253-6 genannte Versicherung deckt
1. die den Arbeitnehmern zum Zeitpunkt des Erlasses des Urteils über die Eröffnung eines Insolvenz- oder gerichtlichen Liquidationsverfahrens geschuldeten Beträge sowie die Beiträge, die der Arbeitgeber im Rahmen des Vertrags über die berufliche Sicherheit schuldet;
2. die Forderungen, die sich aus der Beendigung der Arbeitsverträge in folgenden Fällen ergeben:
a) während des Beobachtungszeitraums;
b) innerhalb eines Monats nach dem Urteil, mit dem der Sanierungs‑, Insolvenz- oder Veräußerungsplan aufgestellt wird;
c) innerhalb von 15 Tagen, oder von 21 Tagen, wenn ein Plan zur Erhaltung der Arbeitsplätze ausgearbeitet wird, nach der Entscheidung über die Eröffnung des Liquidationsverfahrens;
d) während der durch die Entscheidung über die Eröffnung des gerichtlichen Liquidationsverfahrens genehmigten vorläufigen Aufrechterhaltung der Geschäftstätigkeit und innerhalb von 15 Tagen, oder von 21 Tagen, wenn ein Plan zur Erhaltung der Arbeitsplätze ausgearbeitet wird, nach dem Ende der Aufrechterhaltung der Geschäftstätigkeit.
…“
12 In Art. L. 3253-14 des Arbeitsgesetzbuchs heißt es:
„Die in Art. L. 3253-6 vorgesehene Versicherung wird durch eine Einrichtung umgesetzt, die von den repräsentativen nationalen Arbeitgeberverbänden gegründet und von der Verwaltungsbehörde zugelassen wird.
Diese Einrichtung schließt mit dem Träger der Arbeitslosenversicherung und der Zentralstelle der Träger der Sozialversicherung ein Verwaltungsabkommen über die Einziehung der in Art. L. 3253-18 genannten Beiträge.
…
Diese Einrichtung und der genannte Träger bilden die Garantieeinrichtungen in Bezug auf das Risiko der Nichtzahlung.“
Ausgangsrechtsstreit und Vorlagefragen
13 Im September und Oktober 2017 wurden die betroffenen Arbeitnehmer von der Gesellschaft K mittels befristeter Teilzeitverträge eingestellt.
14 Am 26. Juni 2018 wurde ein Insolvenzverfahren über das Vermögen dieser Gesellschaft eröffnet.
15 Am 9. Juli 2018 erklärten die betroffenen Arbeitnehmer die Kenntnisnahme der Beendigung ihrer Arbeitsverträge.
16 Mit Urteil vom 24. Juli 2018 verkündete das Tribunal de commerce (Handelsgericht, Frankreich) die gerichtliche Liquidation der Gesellschaft K.
17 Am 31. Juli 2018 meldeten die betroffenen Arbeitnehmer beim Conseil de prud’hommes de Draguignan (Arbeitsgericht Draguignan, Frankreich) ihre Forderungen als Verbindlichkeiten im Rahmen der gerichtlichen Liquidation der Gesellschaft K wegen von ihnen als hinreichend schwerwiegend angesehener Vertragsverletzungen dieser Gesellschaft an.
18 Mit Urteilen vom 2. Juli 2020 entschied dieses Gericht erstens, dass die Kenntnisnahme der Beendigung ihrer Arbeitsverträge durch die betroffenen Arbeitnehmer die Wirkungen einer Entlassung ohne tatsächlichen und schwerwiegenden Grund habe, zweitens ihre Forderungen betreffend u. a. rückständiges Arbeitsentgelt, bezahlten Urlaub, Ausgleichsbeträge wegen Verzichts auf die Geltendmachung der Kündigungsfrist und Entschädigung für ungerechtfertigte Entlassung ohne tatsächlichen und schwerwiegenden Grund als Verbindlichkeiten im Rahmen der gerichtlichen Liquidation der Gesellschaft K aufzunehmen, und drittens das Urteil und seine Wirkungen auf die AGS de Marseille zu erstrecken, die für die Beträge der genannten Forderungen hafte.
19 Am 28. Juli 2020 reichte die AGS de Marseille beim Conseil de prud’hommes de Draguignan (Arbeitsgericht Draguignan) eine Klage wegen unterlassener Entscheidung ein.
20 Mit Urteilen vom 23. September 2021 stellte dieses Gericht fest, dass die Urteile vom 2. Juli 2020 nicht zu berichtigen seien.
21 Unter diesen Umständen hat die AGS de Marseille gegen die Urteile vom 23. September 2021 bei der Cour d’appel d’Aix-en-Provence (Berufungsgericht Aix-en-Provence, Frankreich), dem vorlegenden Gericht, Berufung eingelegt.
22 Wie aus der Vorlageentscheidung hervorgeht, stellt die Kenntnisnahme der Beendigung des Arbeitsvertrags nach französischem Recht eine dem Arbeitnehmer vorbehaltene Form der einseitigen Beendigung dieses Vertrags dar, bei der der Arbeitnehmer beschließe, seinen Arbeitsvertrag aufzulösen, da der Arbeitgeber Vertragsverletzungen von solcher Schwere begangen habe, dass sie der Fortführung des Arbeitsvertrags entgegenstünden. In dem Moment, in dem der Arbeitnehmer Kenntnis von der Beendigung seines Arbeitsvertrags nehme, verliere dieser sofort seine Wirkung.
23 Komme ein von einer der Parteien des Arbeitsvertrags angerufenes Gericht zu dem Ergebnis, dass die vom Arbeitnehmer angeführten Tatsachen diese Kenntnisnahme rechtfertigten, habe die Beendigung des Arbeitsvertrags die Wirkungen einer Entlassung ohne tatsächlichen und schwerwiegenden Grund. Infolgedessen sei der Arbeitgeber zur Zahlung der mit einer solchen Entlassung verbundenen Beträge verpflichtet, d. h. zur Zahlung eines Ausgleichsbetrags wegen des Verzichts auf die Geltendmachung der Kündigungsfrist und bezahlter Urlaubstage, einer gesetzlichen oder vertraglichen Entlassungsentschädigung sowie einer Entschädigung wegen Entlassung ohne tatsächlichen und schwerwiegenden Grund.
24 In Frankreich sei jeder privatrechtliche Arbeitgeber verpflichtet, seine Arbeitnehmer bei der Association pour la gestion du régime de garantie des créances des salariés (Vereinigung für die Verwaltung des Systems der Garantie der Arbeitnehmerforderungen, im Folgenden: AGS) gegen das Risiko der Nichtzahlung der ihnen aufgrund des Arbeitsvertrags geschuldeten Beträge für den Fall eines Sanierungs‑, Insolvenz- oder gerichtlichen Liquidationsverfahrens zu versichern.
25 Nach ständiger Rechtsprechung der Cour de cassation (Kassationsgerichtshof, Frankreich) fielen jedoch, wenn es sich um eine Beendigung des Arbeitsvertrags handele, die während der in Art. L. 3253-8 Nr. 2 des Arbeitsgesetzbuchs genannten Zeiträume erfolge, unter die AGS-Garantie nur Forderungen, die aus der Beendigung von Arbeitsverträgen auf Initiative des Insolvenzverwalters, des Liquidators oder des betreffenden Arbeitgebers resultieren. Daher sei diese Garantie im Fall der Kenntnisnahme der Beendigung des Arbeitsvertrags durch einen Arbeitnehmer, seines Eintritts in den Ruhestand oder der gerichtlichen Auflösung des Arbeitsvertrags ausgeschlossen.
26 Nach den Angaben in der Vorlageentscheidung hat die Cour de cassation (Kassationsgerichtshof) mit Urteil vom 10. Juli 2019 entschieden, dem Conseil constitutionnel (Verfassungsrat, Frankreich) keine vorrangige Frage der Verfassungsmäßigkeit zur tatsächlichen Tragweite der Auslegung von Art. L. 3253-8 Nr. 2 des Arbeitsgesetzbuchs durch die Cour de cassation (Kassationsgerichtshof) vorzulegen, weil der Gegenstand der in dieser Bestimmung vorgesehenen Garantie die Abschlagszahlung der AGS auf Forderungen wegen der Beendigung von Arbeitsverträgen für Zwecke der Fortführung der Unternehmenstätigkeit, des Erhalts von Arbeitsplätzen und der Begleichung von Verbindlichkeiten sei und weil die in Rede stehende nationale Regelung nach ihrer ständigen Auslegung durch die Cour de cassation (Kassationsgerichtshof), die eine AGS-Garantie für Vertragsbeendigungen ausschließe, die nicht auf die Initiative des Insolvenzverwalters, des Liquidators oder des betroffenen Arbeitgebers zurückgingen, zu einer Ungleichbehandlung führe, die auf einem tatsächlichen, in unmittelbarem Zusammenhang mit dem Zweck dieser Regelung stehenden Unterschied beruhe.
27 Das vorlegende Gericht weist jedoch darauf hin, dass im Fall einer Beendigung des Arbeitsvertrags während der Zahlungsunfähigkeit des Arbeitgebers die Richtlinie 2008/94 das Tätigwerden der Garantieeinrichtung im Fall von Abfindungen bei Beendigung des Arbeitsverhältnisses nicht vom Urheber dieser Beendigung abhängig zu machen scheine.
28 Diese Auslegung werde durch das Urteil vom 17. Januar 2008, Velasco Navarro (C‑246/06, EU:C:2008:19, Rn. 35 und 36), bestätigt, wonach die nationale Regelung zur Durchführung des Unionsrechts unter Beachtung des Gleichheitsgrundsatzes auszulegen sei.
29 Unter diesen Umständen hat die Cour d’appel d’Aix-en-Provence (Berufungsgericht Aix-en-Provence) beschlossen, das Verfahren auszusetzen und dem Gerichtshof folgende Fragen zur Vorabentscheidung vorzulegen:
1. Kann die Richtlinie 2008/94 dahin ausgelegt werden, dass sie es gestattet, die Gewährung von Abfindungen durch die Garantieeinrichtung bei Beendigung des Arbeitsverhältnisses auszuschließen, wenn ein Arbeitnehmer nach der Eröffnung eines Insolvenzverfahrens die Kenntnisnahme von der Beendigung seines Arbeitsvertrags erklärt?
2. Steht eine solche Auslegung im Einklang mit dem Wortlaut und dem Zweck dieser Richtlinie, und ermöglicht sie es, die mit der Richtlinie angestrebten Ziele zu erreichen?
3. Führt eine solche Auslegung, die auf den Urheber der Beendigung des Arbeitsvertrags während des Insolvenzzeitraums abstellt, zu einer Ungleichbehandlung der Arbeitnehmer?
4. Ist eine solche Ungleichbehandlung, falls sie existiert, objektiv gerechtfertigt?
Zur Zuständigkeit des Gerichtshofs
30 Die AGS de Marseille macht in ihren schriftlichen Erklärungen geltend, dass der Gerichtshof, da er nicht für die Auslegung des nationalen Rechts und im vorliegenden Fall von Art. L. 3253-8 des Arbeitsgesetzbuchs zuständig sei, nicht für die Beantwortung der Vorlagefragen zuständig sein könne.
31 Insoweit ist darauf hinzuweisen, dass der Gerichtshof im Rahmen des durch Art. 267 AEUV geschaffenen Verfahrens weder zur Auslegung innerstaatlicher Rechts- oder Verwaltungsvorschriften noch zu Äußerungen über deren Vereinbarkeit mit dem Unionsrecht befugt ist. Nach ständiger Rechtsprechung kann der Gerichtshof nämlich im Rahmen eines Vorabentscheidungsersuchens nach Art. 267 AEUV nur das Unionsrecht in den Grenzen der der Europäischen Union übertragenen Zuständigkeiten auslegen (Urteil vom 14. Dezember 2023, Getin Noble Bank [Verjährungsfrist für Rückgewährsansprüche], C‑28/22, EU:C:2023:992, Rn. 53 und die dort angeführte Rechtsprechung).
32 Im vorliegenden Fall geht aus der Vorlageentscheidung hervor, dass die Vorlagefragen ausdrücklich die Auslegung der Richtlinie 2008/94 betreffen.
33 Daher kann nicht davon ausgegangen werden, dass die Fragen die Auslegung des französischen Rechts betreffen, so dass das Vorbringen der AGS de Marseille in Bezug auf die Unzuständigkeit des Gerichtshofs zurückzuweisen ist.
Zu den Vorlagefragen
Zur Zulässigkeit
34 Ohne förmlich eine Einrede der Unzulässigkeit der Vorlagefragen zu erheben, macht die französische Regierung in ihren schriftlichen Erklärungen geltend, zwar sei, wie aus dem Vorabentscheidungsersuchen hervorgehe, in Art. L. 3253-8 Nr. 2 des Arbeitsgesetzbuchs in seiner Auslegung durch die Cour de cassation (Kassationsgerichtshof) der in der ersten Frage angesprochene Garantieausschluss für Arbeitnehmerforderungen vorgesehen. Im Fall einer Kenntnisnahme des Arbeitnehmers von der Beendigung seines Arbeitsvertrags nach dem Zeitpunkt der Eröffnung des Insolvenzverfahrens werde die Garantieeinrichtung jedoch durch Art. L. 3253-8 Nr. 1 des Arbeitsgesetzbuchs verpflichtet, jedenfalls die dem betreffenden Arbeitnehmer zu diesem Zeitpunkt geschuldeten Ansprüche auf Arbeitsentgelt zu gewährleisten.
35 Insoweit ist darauf hinzuweisen, dass es allein Sache des mit dem Ausgangsrechtsstreit befassten nationalen Gerichts ist, die Erforderlichkeit einer Vorabentscheidung und die Erheblichkeit der dem Gerichtshof von ihm vorgelegten Fragen zu beurteilen, für die eine Vermutung der Entscheidungserheblichkeit gilt. Der Gerichtshof ist folglich grundsätzlich gehalten, über die ihm vorgelegte Frage zu befinden, wenn sie die Auslegung oder die Gültigkeit einer Vorschrift des Unionsrechts betrifft, es sei denn, dass die erbetene Auslegung offensichtlich in keinem Zusammenhang mit den Gegebenheiten oder dem Gegenstand des Ausgangsrechtsstreits steht, dass das Problem hypothetischer Natur ist oder dass der Gerichtshof nicht über die tatsächlichen und rechtlichen Angaben verfügt, die für eine zweckdienliche Beantwortung der Frage erforderlich sind (Urteil vom 15. Juni 2023, Getin Noble Bank [Aussetzung der Durchführung eines Darlehensvertrags], C‑287/22, EU:C:2023:491, Rn. 26 und die dort angeführte Rechtsprechung).
36 Im vorliegenden Fall betrifft der Ausgangsrechtsstreit die Folgen, die sich für die Befriedigung der Forderungen von Arbeitnehmern durch eine Garantieeinrichtung aus einer Form der Beendigung des Arbeitsvertrags auf Initiative des Arbeitnehmers ergeben, sofern der Arbeitgeber zahlungsunfähig ist. Daher steht fest, dass eine solche Situation in den Anwendungsbereich der Richtlinie 2008/94 fällt. Zudem gibt das vorlegende Gericht an, dass es mit einer Schwierigkeit bei der Auslegung dieser Richtlinie konfrontiert sei, da sie das Tätigwerden der Garantieeinrichtung im Fall von Abfindungen bei Beendigung des Arbeitsverhältnisses nicht von deren Urheber abhängig zu machen scheine.
37 Folglich sind die Vorlagefragen zulässig.
Zur Beantwortung der Vorlagefragen
38 Mit seinen vier Fragen, die zusammen zu prüfen sind, möchte das vorlegende Gericht im Wesentlichen wissen, ob die Richtlinie 2008/94 dahin auszulegen ist, dass sie einer nationalen Regelung entgegensteht, die die Deckung der nicht erfüllten Ansprüche von Arbeitnehmern aus Arbeitsverträgen oder Arbeitsverhältnissen durch ein System vorsieht, mit dem die Befriedigung der Ansprüche von Arbeitnehmern durch eine gemäß Art. 3 dieser Richtlinie errichtete Garantieeinrichtung sichergestellt wird, wenn die Beendigung des Arbeitsvertrags auf Initiative des Insolvenzverwalters, des Liquidators oder des betreffenden Arbeitgebers erfolgt, während die Deckung solcher Ansprüche durch die Garantieeinrichtung ausgeschlossen ist, wenn der betreffende Arbeitnehmer die Beendigung seines Arbeitsvertrags wegen hinreichend schwerwiegender Vertragsverletzungen seines Arbeitgebers, die der Fortführung des Arbeitsvertrags entgegenstehen, zur Kenntnis genommen hat und ein nationales Gericht diese Kenntnisnahme als gerechtfertigt angesehen hat.
39 Zur Beantwortung dieser Fragen ist erstens darauf hinzuweisen, dass die Richtlinie 2008/94 nach ihrem Art. 1 Abs. 1 für Ansprüche von Arbeitnehmern aus Arbeitsverträgen oder Arbeitsverhältnissen gegen Arbeitgeber gilt, die zahlungsunfähig im Sinne von Art. 2 Abs. 1 dieser Richtlinie sind.
40 Nach Art. 3 Abs. 1 der Richtlinie 2008/94 treffen die Mitgliedstaaten die erforderlichen Maßnahmen, damit vorbehaltlich ihres Art. 4 Garantieeinrichtungen die Befriedigung der nicht erfüllten Ansprüche der Arbeitnehmer aus Arbeitsverträgen und Arbeitsverhältnissen sicherstellen, einschließlich, sofern dies nach ihrem innerstaatlichen Recht vorgesehen ist, einer Abfindung bei Beendigung des Arbeitsverhältnisses.
41 Nach Art. 4 der Richtlinie 2008/94 legen die Mitgliedstaaten, wenn sie die Zahlungspflicht der Garantieeinrichtungen begrenzen, die Dauer des Zeitraums fest, für den die Garantieeinrichtungen die nicht erfüllten Ansprüche zu befriedigen haben. Sie können auch Höchstgrenzen für die von den Garantieeinrichtungen zu leistenden Zahlungen festsetzen.
42 Zweitens verpflichtet Art. L. 3253-6 des Arbeitsgesetzbuchs, wie aus der Vorlageentscheidung hervorgeht, die privatrechtlichen Arbeitgeber, ihre Arbeitnehmer gegen das Risiko der Nichtzahlung „der ihnen aufgrund des Arbeitsvertrags geschuldeten Beträge“ zu versichern.
43 Insoweit ist, wie die Kommission in ihren schriftlichen Erklärungen ausgeführt hat, davon auszugehen, dass Ansprüche, die aufgrund der Beendigung eines Arbeitsvertrags wie der im Ausgangsverfahren in Rede stehenden entstehen, Ansprüche auf eine Abfindung bei Beendigung des Arbeitsverhältnisses im Sinne von Art. 3 der Richtlinie 2008/94 sind.
44 Drittens ist festzustellen, dass der Wortlaut der Richtlinie keinen Anhaltspunkt dafür enthält, dass ein Mitgliedstaat die Garantie von Ansprüchen der Arbeitnehmer durch eine Garantieeinrichtung ausschließen kann, wenn der Arbeitsvertrag auf Initiative des Arbeitnehmers wegen einer Vertragsverletzung des Arbeitgebers beendet wird. Die Richtlinie 2008/94 unterscheidet nämlich in Bezug auf die Deckung dieser Ansprüche durch die Garantieeinrichtung nicht danach, ob Urheber der Beendigung des Arbeitsvertrags der Arbeitnehmer ist oder nicht.
45 Zwar ist es Sache jedes Mitgliedstaats, im Rahmen des nationalen Rechts festzulegen, welche Entschädigungen in den Anwendungsbereich von Art. 3 Abs. 1 der Richtlinie 2008/94 fallen (Urteil vom 28. Juni 2018, Checa Honrado, C‑57/17, EU:C:2018:512, Rn. 30 und die dort angeführte Rechtsprechung).
46 Die den Mitgliedstaaten durch die Richtlinie 2008/94 zuerkannte Befugnis, festzulegen, welche Leistungen zulasten der Garantieeinrichtung gehen, unterliegt jedoch den Erfordernissen, die sich aus dem allgemeinen Gleichheitssatz und dem Diskriminierungsverbot ergeben. Das Diskriminierungsverbot verlangt, dass vergleichbare Sachverhalte nicht unterschiedlich behandelt werden, es sei denn, eine Differenzierung ist objektiv gerechtfertigt (Urteil vom 28. Juni 2018, Checa Honrado, C‑57/17, EU:C:2018:512, Rn. 31 und 32 sowie die dort angeführte Rechtsprechung).
47 Hierzu ist festzustellen, dass bei einer von einem nationalen Gericht als gerechtfertigt angesehenen Beendigung des Arbeitsvertrags im Anschluss an die Kenntnisnahme seiner Beendigung durch den Arbeitnehmer wegen hinreichend schwerwiegender Vertragsverletzungen des Arbeitgebers, die der Fortführung des Arbeitsvertrags entgegenstehen, nicht davon ausgegangen werden kann, dass sie auf den Willen des Arbeitnehmers zurückgeht, da sie in Wirklichkeit die Folge dieser Vertragsverletzungen des Arbeitgebers ist.
48 Daher ist in einer Situation wie der des Ausgangsverfahrens davon auszugehen, dass sich Arbeitnehmer, die von der Beendigung ihres Arbeitsvertrags Kenntnis nehmen, in einer vergleichbaren Lage befinden wie Arbeitnehmer, deren Verträge auf Initiative des Insolvenzverwalters, des Liquidators oder des betreffenden Arbeitgebers beendet wurden (vgl. entsprechend Urteil vom 28. Juni 2018, Checa Honrado, C‑57/17, EU:C:2018:512, Rn. 39).
49 Die französische Regierung macht in ihren schriftlichen Erklärungen geltend, die unterschiedliche Behandlung, die sich – je nachdem, ob Urheber der Beendigung des Arbeitsvertrags der Arbeitnehmer sei oder nicht – aus Art. L. 3253-8 Nr. 2 des Arbeitsgesetzbuchs in seiner Auslegung durch die Cour de cassation (Kassationsgerichtshof) ergebe, sei durch die Erfordernisse der Fortführung der Tätigkeit des Unternehmens, des Erhalts von Arbeitsplätzen und der Begleichung von Verbindlichkeiten gerechtfertigt. Beendigungen des Arbeitsvertrags auf Initiative des Arbeitnehmers, etwa eine Kenntnisnahme seiner Beendigung, in der Zeit nach der Eröffnung des Insolvenzverfahrens entsprächen diesen Erfordernissen nicht.
50 Hierzu ist – abgesehen davon, dass bei einer Beendigung des Arbeitsvertrags durch Kenntnisnahme seitens eines Arbeitnehmers nicht davon ausgegangen werden kann, dass sie auf den Willen des Arbeitnehmers zurückgeht, während sie in Wirklichkeit die Folge von Vertragsverletzungen des Arbeitgebers ist (siehe oben, Rn. 47) – festzustellen, dass die genannten Erfordernisse die soziale Zweckbestimmung der Richtlinie 2008/94 nicht ausblenden können.
51 Diese soziale Zweckbestimmung besteht nach Art. 1 Abs. 1 der Richtlinie 2008/94 in Verbindung mit ihrem dritten Erwägungsgrund darin, allen Arbeitnehmern auf Unionsebene bei Zahlungsunfähigkeit des Arbeitgebers durch die Befriedigung nicht erfüllter Ansprüche aus Arbeitsverträgen oder Arbeitsverhältnissen ein Minimum an Schutz zu garantieren (Urteil vom 28. Juni 2018, Checa Honrado, C‑57/17, EU:C:2018:512, Rn. 46).
52 Nach alledem ist auf die Vorlagefragen zu antworten, dass die Richtlinie 2008/94 dahin auszulegen ist, dass sie einer nationalen Regelung entgegensteht, die die Deckung der nicht erfüllten Ansprüche von Arbeitnehmern aus Arbeitsverträgen oder Arbeitsverhältnissen durch ein nationales System vorsieht, mit dem die Befriedigung der Ansprüche von Arbeitnehmern durch eine gemäß Art. 3 dieser Richtlinie errichtete Garantieeinrichtung sichergestellt wird, wenn die Beendigung des Arbeitsvertrags auf Initiative des Insolvenzverwalters, des Liquidators oder des betreffenden Arbeitgebers erfolgt, während die Deckung solcher Ansprüche durch die Garantieeinrichtung ausgeschlossen ist, wenn der betreffende Arbeitnehmer die Beendigung seines Arbeitsvertrags wegen hinreichend schwerwiegender Vertragsverletzungen seines Arbeitgebers, die der Fortführung des Arbeitsvertrags entgegenstehen, zur Kenntnis genommen hat und ein nationales Gericht diese Kenntnisnahme als gerechtfertigt angesehen hat.
Kosten
53 Für die Beteiligten des Ausgangsverfahrens ist das Verfahren Teil des beim vorlegenden Gericht anhängigen Verfahrens; die Kostenentscheidung ist daher Sache dieses Gerichts. Die Auslagen anderer Beteiligter für die Abgabe von Erklärungen vor dem Gerichtshof sind nicht erstattungsfähig.
Aus diesen Gründen hat der Gerichtshof (Siebte Kammer) für Recht erkannt:
Die Richtlinie 2008/94/EG des Europäischen Parlaments und des Rates vom 22. Oktober 2008 über den Schutz der Arbeitnehmer bei Zahlungsunfähigkeit des Arbeitgebers
ist dahin auszulegen, dass
sie einer nationalen Regelung entgegensteht, die die Deckung der nicht erfüllten Ansprüche von Arbeitnehmern aus Arbeitsverträgen oder Arbeitsverhältnissen durch ein nationales System vorsieht, mit dem die Befriedigung der Ansprüche von Arbeitnehmern durch eine gemäß Art. 3 dieser Richtlinie errichtete Garantieeinrichtung sichergestellt wird, wenn die Beendigung des Arbeitsvertrags auf Initiative des Insolvenzverwalters, des Liquidators oder des betreffenden Arbeitgebers erfolgt, während die Deckung solcher Ansprüche durch die Garantieeinrichtung ausgeschlossen ist, wenn der betreffende Arbeitnehmer die Beendigung seines Arbeitsvertrags wegen hinreichend schwerwiegender Vertragsverletzungen seines Arbeitgebers, die der Fortführung des Arbeitsvertrags entgegenstehen, zur Kenntnis genommen hat und ein nationales Gericht diese Kenntnisnahme als gerechtfertigt angesehen hat.
Unterschriften