Bundesgerichtshof zur Rückforderung angeblicher Beihilfen für Ryanair am Flughafen Lübeck

Bundesgerichtshof zur Rückforderung angeblicher Beihilfen für Ryanair am Flughafen Lübeck

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Mitteilung der Pressestelle


Nr. 18/2017

Bundesgerichtshof zur Rückforderung angeblicher

Beihilfen für Ryanair am Flughafen Lübeck

Urteil vom 9. Februar 2017 – I ZR 91/15 – Flughafen Lübeck

Der I. Zivilsenat des Bundesgerichtshofs hat heute entschieden, dass nationale Gerichte zwar die vorläufige Beurteilung in einem Eröffnungsbeschluss der Europäischen Kommission berücksichtigen müssen, eine bestimmte Maßnahme stelle eine Beihilfe dar. Eine absolute und unbedingte Verpflichtung, dieser vorläufigen Beurteilung zu folgen, besteht aber nicht.

Die Klägerin, die Fluggesellschaft Air Berlin, macht geltend, die beklagte Hansestadt Lübeck habe Ryanair günstige Bedingungen für die Nutzung des Flughafens Lübeck-Blankensee gewährt, die sie für unionsrechtswidrige Beihilfen hält. Zur Vorbereitung eines Anspruchs auf Rückforderung verlangt die Klägerin von der Beklagten Auskunft über die Ryanair gewährten Vergünstigungen.

Das Landgericht hat der Auskunftsklage stattgegeben. Nach Verkündung dieses Urteils hat die Kommission im Juli 2007 ein förmliches Prüfverfahren zu möglichen staatlichen Beihilfen zugunsten der Flughafen Lübeck GmbH und Ryanair eröffnet (ABl. EU 2007 Nr. C 295, S. 29 – nachfolgend „Eröffnungsbeschluss“). Danach stellen die Ryanair gewährten Konditionen nach vorläufiger Einschätzung der Kommission staatliche Beihilfen im Sinne von Art. 108 Abs. 3 AEUV* dar.

Das Oberlandesgericht hat die Auskunftsklage abgewiesen, weil keine rechtliche Grundlage für Ansprüche der Klägerin bestehe. Der Bundesgerichtshof hat dieses erste Berufungsurteil mit der Begründung aufgehoben, ein Verstoß gegen das beihilferechtliche Durchführungsverbot nach Art. 108 Abs. 3 Satz 3 AEUV könne einen Schadensersatzanspruch der Klägerin begründen. Er hat die Sache zur neuen Verhandlung und Entscheidung an das Oberlandesgericht zurückverwiesen (vgl. Pressemitteilung Nr. 28/2011 vom 10. Februar 2011).

Der daraufhin vom Oberlandesgericht um eine Vorabentscheidung ersuchte Gerichtshof der Europäischen Union hat ausgeführt, nach einem Eröffnungsbeschluss der Kommission sei ein mit einem Antrag auf Unterlassung der Durchführung einer Maßnahme und auf Rückforderung bereits geleisteter Zahlungen befasstes nationales Gericht verpflichtet, die erforderlichen Maßnahmen zu treffen, um die Konsequenzen aus einem möglichen Verstoß gegen das Durchführungsverbot zu ziehen; zu diesem Zweck könne es beschließen, die Rückforderung bereits gezahlter Beträge anzuordnen.

Das Oberlandesgericht hat daraufhin die Berufung der Beklagten zurückgewiesen. Es hat sich an die vorläufige Einschätzung der Kommission gebunden gesehen, die Ryanair gewährten Konditionen für die Nutzung des Flughafens Lübeck-Blankensee stellten unzulässige staatliche Beihilfen dar.

Auf die Revision von Ryanair hat der Bundesgerichtshof auch das zweite Berufungsurteil aufgehoben. Die Revision hatte bereits aus prozessualen Gründen Erfolg, weil das Landgericht im Hinblick auf einen weiterhin in erster Instanz anhängigen Unterlassungsantrag der Klägerin ein unzulässiges Teilurteil verkündet und das Oberlandesgericht diesen Mangel nicht behoben hatte. Der Bundesgerichtshof hatte die Sache deshalb an das Landgericht zurückzuverweisen.

Nach der Revisionsverhandlung hat die Europäische Kommission laut einer Pressemitteilung am 7. Februar 2017 entschieden, dass die im Jahr 2000 zwischen der Rechtsvorgängerin der Beklagten und Ryanair abgeschlossene Vereinbarung über Flughafengebühren und Marketing keine Beihilfe ist. Die Bedeutung der Entscheidung der Europäischen Kommission, zu der bislang nur die Presseerklärung vorliegt, für den vorliegenden Rechtsstreit lässt sich derzeit nicht abschließend beurteilen. Sollte sich erweisen, dass keine der von der Klägerin beanstandeten Maßnahmen eine Beihilfe darstellt, läge kein Verstoß gegen das Unionsrecht vor.

Für das neue Verfahren hat der Bundesgerichtshof darauf hingewiesen, dass die nationalen Gerichte zwar grundsätzlich nicht von der vorläufigen Beurteilung der Kommission im Eröffnungsbeschluss abweichen dürfen, eine bestimmte Maßnahme stelle eine Beihilfe dar. Eine absolute und unbedingte Verpflichtung des nationalen Gerichts, dieser vorläufigen Beurteilung ohne Weiteres zu folgen, besteht aber nicht. Hat das nationale Gericht Zweifel, kann es eine Anfrage an die Kommission richten oder den Gerichtshof der Europäischen Union um eine Vorabentscheidung ersuchen. Insbesondere können vor dem nationalen Gericht vorgetragene Umstände, die nicht erkennbar im Eröffnungsbeschluss berücksichtigt wurden, Anlass geben, die Kommission um eine Stellungnahme zu bitten, ob sie eine gegenüber dem Eröffnungsbeschluss abweichende beihilferechtliche Beurteilung erlauben. Hält die Kommission weiter an ihrer Auffassung fest, erscheinen dem Gericht die dafür angeführten Gründe jedoch nicht überzeugend, so hat es den Gerichtshof der Europäischen Union um eine Vorabentscheidung zu ersuchen.

Hat das Gericht danach bis zu einer endgültigen Entscheidung durch die Kommission vorläufig von der Beihilfequalität der beanstandeten Maßnahmen auszugehen, folgt daraus allein noch nicht, dass der Auskunfts- und Rückforderungsanspruch besteht. Vielmehr hat das Gericht darüber unter Beachtung des Gebots, dem Eröffnungsbeschluss der Kommission praktische Wirksamkeit zu verschaffen, aber auch unter Wahrung der Interessen der beteiligten Parteien und gegebenenfalls unter Berücksichtigung außergewöhnlicher Umstände des Einzelfalls zu entscheiden. Insbesondere ist das Verhältnismäßigkeitsgebot zu beachten. Unverhältnismäßig kann die Rückforderung aufgrund einer vorläufigen Einschätzung der Kommission etwa sein, wenn die Beihilfe mit hoher Wahrscheinlichkeit für mit dem Binnenmarkt vereinbar zu erklären ist, und die Rückforderung die Existenz des davon betroffenen Unternehmens ernsthaft bedroht. Im Streitfall ist zu berücksichtigen, dass die Kommission das Hauptprüfverfahren im Juli 2007 eröffnet und jedenfalls bis zur mündlichen Revisionsverhandlung nicht abgeschlossen hat. Sie hat sich auf Frage des Oberlandesgerichts noch im März 2012 nicht in der Lage gesehen, Angaben zur voraussichtlichen weiteren Dauer des Hauptprüfverfahrens zu machen. Zwischenzeitlich betreibt die Beklagte keinen Flughafen mehr und Ryanair hat den Flugverkehr zum Flughafen Lübeck eingestellt. Eine noch bestehende wettbewerbsverzerrende Wirkung durch in den Jahren 2000 bis 2004 an die Streithelferin für Flugverbindungen zum Flughafen Lübeck gezahlte Beihilfen erscheint danach fraglich.

Vorinstanzen:

LG Kiel – Teilurteil vom 28. Juli 2006 – 14 O Kart 176/04, juris

OLG Schleswig – Urteil vom 20. Mai 2008 – 6 U 54/06, EWS 2008, 470

BGH – Urteil vom 10. Februar 2011 – I ZR 213/08, juris

EuGH – Beschluss vom 4. April 2014 – C-27/13, juris

OLG Schleswig – Urteil vom 8. April 2015 – 6 U 54/06, SchlHA 2015, 183

Karlsruhe, den 9. Februar 2017

*Art. 108 Abs. 2 und 3 AEUV lautet:

(2)Stellt die Kommission fest, nachdem sie den Beteiligten eine Frist zur Äußerung gesetzt hat, dass eine von einem Staat oder aus staatlichen Mitteln gewährte Beihilfe mit dem Binnenmarkt nach Artikel 107 unvereinbar ist oder dass sie missbräuchlich angewandt wird, so beschließt sie, dass der betreffende Staat sie binnen einer von ihr bestimmten Frist aufzuheben oder umzugestalten hat. …

(3)Die Kommission wird von jeder beabsichtigten Einführung oder Umgestaltung von Beihilfen so rechtzeitig unterrichtet, dass sie sich dazu äußern kann. Ist sie der Auffassung, dass ein derartiges Vorhaben nach Artikel 107 mit dem Binnenmarkt unvereinbar ist, so leitet sie unverzüglich das in Absatz 2 vorgesehene Verfahren ein. Der betreffende Mitgliedstaat darf die beabsichtigte Maßnahme nicht durchführen, bevor die Kommission einen abschließenden Beschluss erlassen hat.


Pressestelle des Bundesgerichtshofs

76125 Karlsruhe

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Telefax (0721) 159-5501



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